Menschlichkeit in der Medizin: Eine Frage der Werte

Imago Hominis (2008); 15(4): 349-352
Michael Heinisch

Christliche Werte haben in Europa eine lange Tradition. Leider müssen wir heute zur Kenntnis nehmen, dass sich immer mehr Menschen in Österreich von der katholischen Kirche bzw. von ihren Werten abwenden. Deshalb kommt lebendigen Räumen, in welchen christliche Werte für die Menschen im Alltag wahrnehmbar und erlebbar sind, eine immer größere Bedeutung zu. Christliche Krankenhäuser sind besonders aufgerufen, derartige Räume zu bilden, da Menschen in der Phase der Abhängigkeit einer Krankheit menschliches Verhalten brauchen, welches sich an christlichen Werten orientiert.

Konfessionelle Gesundheits- und Sozialeinrichtungen haben gerade in dieser Zeit eine große Verantwortung, Werte in der Gesundheitsversorgung hochzuhalten. Immer dominanter wird die Forderung nach wirtschaftlichen Zielsetzungen, und zunehmend wird der Focus auf die rein fachliche Professionalität gelenkt. Es sei hier ausdrücklich klargestellt, dass die eigentliche Aufgabe im Gesundheitswesen ausschließlich darin liegt, den besten Dienst am Menschen zu leisten. Wirtschaftliche Führung bzw. fachliche Professionalität sind dabei selbstverständliche Voraussetzungen, aber das Maß für das rechte Handeln sind einzig und allein die Menschen, für die der Dienst in den Krankenhäusern und Sozialeinrichtungen geleistet wird.

So kann es in Gesundheitseinrichtungen nicht um industrielle Dienstleistungen gehen. Vielmehr geht es hier um einen übergeordneten Wert, nämlich um das Leben jener Menschen, die sich diesen Einrichtungen anvertraut haben. Das Leben ist einzigartig und einmalig. Das beste Zeichen dafür, dass diese Einzigartigkeit anerkannt wird, ist die Zuwendung, welche Patienten in diesen Einrichtungen erleben. Zuwendung ist die Sprache der liebevollen Fürsorge und des Respekts gegenüber dem Menschen und seinem Leben.

Die in den Gesundheitseinrichtungen betreuten Menschen sind auch keine Kunden. Dazu fehlt ihnen in der Ausnahmesituation ihrer Krankheit oft die Autonomie, um über Behandlungsalternativen oder die Art der Einrichtung, der sie sich anvertrauen wollen, zu entscheiden. Die Menschen, die wir behandeln, sind Patienten. Menschen behandeln wir dann als Patienten, wenn wir uns ihrer Ängste annehmen, sie respektieren und damit behutsam umgehen und wenn wir ihnen die Gewissheit geben, dass wir bei medizinischen Fragestellungen ethisch fundiert und verantwortungsvoll vorgehen.

Aber auch unsere Mitarbeiter sind ganz besondere Mitarbeiter. Menschen, die im Alltag ihres Berufs mit Tod und Krankheit laufend zu tun haben, brauchen eine besondere Form der Führung und brauchen Werte, an denen sie Sinn in ihrem Alltag erleben.

All das führt zu der wesentlichen Aussage, dass es in Krankenhäusern und anderen Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens neben der reinen Professionalität auch und besonders um Werte gehen muss. Wirtschaftlichkeit und fachliche Professionalität bilden die notwendigen Rahmenbedingungen für den besten Dienst am Menschen. Wer den besten Dienst am Menschen leisten will, muss sich notwendigerweise auch mit jenen Werten beschäftigen, die einem derartigen Dienst zugrunde liegen müssen. Wie gesagt haben gerade die konfessionellen Einrichtungen eine ganz besondere Verantwortung in einer Zeit, in der Einsparungen und Gewinnorientierung zunehmend zu Maximen des Gesundheitswesens werden.

Menschlichkeit in der Medizin ist daher eine der zentralen Herausforderungen – auch in der Zukunft. Es gilt zu betonen, dass es sich bei dem Begriff der Medizin nicht nur um die ärztliche Tätigkeit handeln kann. Vielmehr sind die Leistungen und das tägliche Engagement sämtlicher Gesundheitsberufe damit umfasst. „Der Mensch ist die beste Medizin für den Menschen“, so lautet der berühmte Ausspruch des heiligen Benedikt. Es sind die Menschen, die diagnostizieren, therapieren, pflegen und betreuen. In ihrem Verhalten kommen die Werte zum Ausdruck, die der kranke Mensch in seinem körperlichen und seelischen Leid braucht.

Um welche Werte könnte es im Gesundheitswesen konkret gehen? Zum einen ist es die BARMHERZIGE LIEBE. Barmherzige Liebe wendet sich allen Menschen ohne Unterschied zu. Sie begegnet ihnen aufmerksam und mitfühlend. Aus der Sensibilität für die Bedürfnisse des anderen erwächst der Dienst an Leib und Seele. Barmherzige Liebe öffnet die Herzen und beschenkt gleichermaßen den Empfangenden und auch den Gebenden. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. (Mt 9, 13)

Es geht um HOCHACHTUNG UND HERZLICHKEIT. Barmherzige Liebe wäre ohne Hochachtung und Herzlichkeit dem Einzelnen gegenüber nicht denkbar. Die Einzigartigkeit und Würde des Menschen verlangen Wohlwollen, Respekt und Anteilnahme. Persönliche Zuwendung, höflicher, liebevoller Umgang und aufmerksames Zuhören sind Ausdruck dieser Gesinnung. Nur einer ist euer Meister – ihr alle aber seid Brüder. (Mt 23, 8)

WAHRHAFTIGKEIT. Aufrichtigkeit in Wort und Tat ist die Grundlage für gute Zusammenarbeit. Dies erfordert Treue zu sich selbst und zur anvertrauten Aufgabe. Kommunikation und Kritik sind getragen von Wertschätzung und Verantwortungsbewusstsein. Ehrlichkeit und Verbindlichkeit fördern gegenseitiges Vertrauen und helfen, mit Stärken und Schwächen in rechter Weise umzugehen. Die Wahrheit wird euch befreien (Jo 8, 32)

Und es geht um SOZIALE UND ÖKONOMISCHE VERANTWORTUNG. Dem Menschen sind Talente und Ressourcen anvertraut. Es ist ihm aufgegeben, mit ihnen verantwortungsbewusst und sorgsam umzugehen. Die Achtung und Förderung der Mitarbeiter, optimaler, zweckdienlicher Einsatz der Güter und guter Umgang mit der Zeit sind wesentliche Elemente der sozialen und ökonomischen Verantwortung. Dazu gehören auch die Wertschätzung des Gewachsenen und die Bereitschaft für zeitgemäße Erneuerung. Wenn ihr im Umgang mit dem ungerechten Reichtum nicht zuverlässig gewesen seid, wer wird euch das wahre Gut anvertrauen? (Lk 16, 11)

Diese Werte ruhen auf einem starken Fundament – dem CHRISTLICHEN GLAUBEN. Das Vorbild Jesu Christi in der Liebe zu den Menschen bestimmt Leben und Handeln. In jedem Menschen ist die Gegenwart Gottes zu sehen. Diese Haltung ist für Menschen, die in den Einrichtungen des Gesundheitswesens tätig sind, richtungsweisend. … es kommt darauf an,… den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist. (Gal 5, 6)

Werte im Gesundheitswesen sind nichts Statisches, sondern etwas zutiefst Lebendiges. Kranke Menschen sollen diese Werte im tagtäglichen Tun spüren und wahrnehmen. Es gilt konkrete Anker zu setzen, welche den Patienten einen innerlichen Halt in der Ausnahmesituation ihrer Krankheit geben. In diesen Vertrauensankern werden die Werte der Menschlichkeit im Erleben der Menschen Realität. Für christliche Krankenhäuser sehe ich im Wesentlichen 4 Bereiche, in denen christliche Werte im klinischen Alltag spürbar und berührbar werden – in denen die Menschlichkeit in der Medizin ihren Ausdruck findet.

Die unmittelbarste und intensivste Ausdrucksform der Werte in einer menschlichen Medizin ist die ZUWENDUNG VON MENSCH ZU MENSCH.

  • Durch die Zuwendung der Mitarbeiter in Gesundheitseinrichtungen erhalten die Patienten Orientierung und Halt – in einer Situation, in der sie diese Sicherheit besonders brauchen. In der Zuwendung kommt der Respekt vor der Abhängigkeit des Patienten besonders deutlich zu Tage. Durch liebevolle Zuwendung treten Menschen auf Augenhöhe zueinander in Beziehung. Zuwendung kennt keine Hierarchie, keine Macht und keine Eitelkeit.
  • In der Grenzsituation des Krankseins stellt Zuwendung sicher, dass sich die Patienten in ihrer Einmaligkeit erleben und in Unsicherheit und im Leid bestehen können. Menschliche Würde wird so erlebbar.

Konkret ist darauf zu achten, dass im Tagesablauf eines Patienten jene neuralgischen Punkte mit besonders viel Sensibilität bedacht werden, in der Angst und Verunsicherung des kranken Menschen am größten sind. Dies ist sicherlich zum einen die Aufnahme – das Heimat nehmen – im Krankenhaus. Ein weiterer einschneidender Moment ist das Überbringen schwieriger Diagnosen. Hier ist eine ganz besondere Kompetenz des Wahrnehmens, Hinhörens und natürlich des Führens dieser heiklen Gespräche gefordert. Es ist der Wert der Wahrhaftigkeit, der uns hier leiten muss. Jede Patientin und jeder Patient muss die für sie relevanten Informationen erhalten, ohne ihnen die Hoffnung und die Lebensperspektive zu nehmen.

Ein weiterer neuralgischer Moment voller Angst und Unsicherheit ist auch eine bevorstehende Operation. Um wie viel leichter erträgt der Mensch die sterile und angsterfüllte Zeit in der Vorbereitung auf einen Eingriff, wenn es Menschen gibt, die auch in dieser von Technik und Standards geprägten Umgebung ein Gespräch der Hoffnung und des Verständnisses für die besondere Situation anbieten. Das braucht Ressourcen. Doch diese Investition in die Menschlichkeit rechnet sich allemal.

Menschlichkeit in der Medizin findet ihre Ausdrucksform auch in der EINBEZIEHUNG DER PSYCHISCHEN UND GEISTIG-SEELISCHEN VERFASSUNG des Patienten in den Behandlungsprozess.

  • Heilung von körperlichen Leiden braucht außer der organischen Behandlung auch die Einbeziehung der psychischen und geistig-seelischen Verfassung der Patienten. Deshalb sind Klinische Psychologie, Psychotherapie und Seelsorge wichtige Ergänzungen zur organischen Behandlung und notwendige Unterstützungen im Heilungsprozess.
  • Es soll den Patienten dabei geholfen werden, in ihrer Krankheit, in ihrer Grenzsituation und im Leid zu bestehen und zu reifen. Es soll den kranken Menschen vermittelt werden, dass sinnvolles Menschsein auch möglich ist, wenn die Funktionalität nicht mehr voll gegeben ist. Damit erfährt der Kranke die Kostbarkeit seiner Person und seines Lebens.
  • Der Glaube kann zusätzliche Perspektiven eröffnen – über den eigenen Horizont, über die eigenen Grenzen, über den Tod hinaus. Damit kann der Krankenhausaufenthalt den Patienten die Chance bieten, ihren Lebensstil neu zu überdenken und ihren ureigensten Sinn zu finden. Die Hilfestellungen der klinischen Psychologie und der Seelsorge können ihn dabei sehr gut unterstützen.

Krankenhäuser sollten die Klinische Psychologie und Psychotherapie wie auch die Seelsorge in ihrer Organisation klar verankert haben. Ärzte und Pflegepersonen sollten über ein solides Basiswissen über die Bedeutung von psychologischer, psychotherapeutischer und seelsorglicher Arbeit verfügen und sensibel für den Sinn von psychologischer, psychotherapeutischer und seelsorglicher Arbeit sein.

Der Beginn und das Ende des Lebens verlangen nach ganz besonderer Aufmerksamkeit von den Menschen, die in Gesundheitseinrichtungen tätig sind. Doch gerade der Tod ist in vielen Krankenhäusern immer noch tabuisiert, gilt doch die zentrale Aufmerksamkeit der Gesundwerdung von Menschen. Menschlichkeit in der Medizin nimmt jedoch den Tod als Bestandteil des Lebens wahr und schafft eine KULTUR IM UMGANG MIT STERBENDEN UND MIT DEM TOD.

  • Es geht darum die Grenzen des Machbaren zu erkennen und anzunehmen. Dies stellt auch für Ärzte und Pflegende eine immer wiederkehrende große Herausforderung dar.
  • Angesichts des Sterbens bzw. des Todes wird Menschlichkeit sichtbar, indem einfühlsam geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden und Patienten wie Angehörige in ihrer schwierigen Situation Unterstützung erfahren und diese Zeit in Würde bewältigen können. Palliativeinrichtungen und Hospize sind Strukturen, die dieser wesentlichen Lebensphase gerecht werden.
  • Es braucht von den Betreuenden Sensibilität für die Bedürfnisse der Betroffenen. Diese Sensibilität gilt es aufzubringen. Der Begleitung von Kindern als Angehörige von Sterbenden muss ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden.

Es gilt immer wieder zu betonen, dass Sterbeprozesse der Patienten auch für die Mitarbeiter eine ungeheure Belastung und psychische Herausforderung darstellen. Daher ist es unbedingt erforderlich, Mitarbeitern eine wirkungsvolle Unterstützung zu geben, damit sie Entlastung und Stärkung erfahren.

Patienten erleben in der Phase ihrer Erkrankung eine tiefe Abhängigkeit gegenüber den Menschen, die sie behandeln und betreuen. Sie sind darauf angewiesen, dass Ärzte und Pflegende ethisch handeln und dadurch den Respekt vor dem Leben zum Ausdruck bringen. Es geht darum, ENTSCHEIDUNGEN AUF BASIS ETHISCHER GRUNDLAGEN zu treffen.

  • Um medizinische Fragestellungen ethisch fundiert und verantwortungsvoll treffen zu können, müssen sich die zuständigen Entscheider bewusst sein, dass beratende Unterstützung in ethischen Fragen in manchen Situationen notwendig ist. Sich beraten zu lassen und gemeinsam zu reflektieren sind nicht Zeichen von fachlicher Schwäche, sondern von ethischer Stärke.

Ethik ist nicht nur eine Sache des Gefühls und der Intuition, sondern auch der Kompetenz und der fachlichen Expertise. Mitarbeiter von Gesundheitseinrichtungen brauchen hier Unterstützung. Für ethische Entscheidungen im Alltag sollte ein Ethik-Kodex eine praktische Grundlage für medizinisch-ethische Entscheidungen darstellen.

Darüber hinaus soll ethische Beratung im klinischen Alltag angeboten werden. Zum einen bietet dies eine wichtige Unterstützung bei ethisch schwierigen Entscheidungen für die betroffenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zusätzlich werden alle betroffenen Berufsgruppen für ethische Probleme sensibilisiert und eine ethisch verantwortungsbewusste Organisationskultur daraus entwickelt.

Menschlichkeit in der Medizin ist tief verwurzelt in einer christlichen Werteorientierung. Der christliche Glaube mit seinem Auftrag, die Liebe Gottes und sein heilendes Wirken erfahrbar zu machen, war und ist Motivation, christliche Krankenhäuser zu gründen. Diese Krankenhäuser sind ein lebendiger Ort christlicher Nächstenliebe. Sie sind damit ein wesentlicher Bestandteil eines menschengerechten Gesundheits- und Sozialwesens.

Menschlichkeit in der Medizin sieht das Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele bei der Gesundung von Menschen. Menschlichkeit in der Medizin weiß, dass Glaube, Vertrauen und Halt in Gott heilsam wirkt. Aber auch für die Mitarbeiter ist der Glaube eine Quelle, um in Auseinandersetzung mit Krankheit und Leid zu reifen.

Gerade die konfessionellen Krankenhäuser dienen seit Jahrhunderten diesen Prinzipien und bieten eine menschliche Medizin für ihre Patienten. Diese Menschlichkeit in der Medizin zu erhalten, stellt eine fortwährende Herausforderung dar. Die Besinnung auf und die lebendige Beschäftigung mit den grundlegenden christlichen Werte im Gesundheitswesen stellt eine Voraussetzung zum Gelingen dar. Die Verankerung im alltäglichen Tun durch geeignete Instrumente und Strukturen macht das konkrete Erleben für die Patienten möglich.

Quellenhinweis

  • Werte der St. Vinzenz Holding, Wien 2003
  • 7 Eckpfeiler des christlichen Profils der Krankenhäuser der Vinzenz Gruppe, Wien 2007

Anschrift des Autors:

Dr. Michael Heinisch
Geschäftsführer der Vinzenz Gruppe Krankenhausbeteiligungs- und Management GmbH
Gumpendorfer Straße 108, A-1060 Wien
Michael.Heinisch(at)vinzenzgruppe.at

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