Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2014); 21(4): 269-277
Friedrich Kummer

Der 77-jährige Patient, von Beruf Anwalt, ist bereits präexistent multimorbid mit Koronarer Herzkrankheit, Herzschwäche, DMII mit chronischer Niereninsuffizienz, (renalem?) Hochdruck, nebst Gastritis und Zustand nach einer transurethralen Resektion eines Blasentumors.

In der jüngeren Anamnese wird berichtet, dass er vor 4 Jahren rezidivierende Pleuraergüsse entwickelte, die mit einer offenen Pleurodese behandelt wurden. Der Verlauf wird durch eine im Spital erworbene Pneumonie kompliziert, wovon sich der Patient aber offensichtlich erholt.

Der gegenständliche Bericht beginnt mit einer notfallmäßigen koronaren Bypassoperation, wohl auf Grund eines drohenden Infarktes.

Ab dem 2. postoperativen Tag (POT) müssen in einer vierwöchigen, aufwändigen Behandlung auf der Intensivstation wesentliche Köperfunktionen maschinell gestützt werden, inklusive kontrollierte Beatmung, Katechecholamin-Bypass, ECMO (7 Tage), gefolgt von zusätzlicher Hämofiltration wegen Nierenversagens.

Damit gelingt es dem hochprofessionell agierenden Team eine gewisse Stabilität über zwei Wochen zu erzielen, allerdings unter Beibehaltung der medikamentösen Kreislaufstützung bei erfolglosen Bemühungen um eine Entwöhnung vom Respirator.

Komplizierend kommt nun – ab dem 28. POT – eine sog. critical-illness-polyneuropathy hinzu, wie sie bei längeren ICU-Behandlungen leider häufig vorkommt und über die Entlassung hinaus nachhängt. Der Patient kann signalisieren, dass er psychisch „negativ“ eingestellt ist und mit dem Pflegepersonal nicht mehr kooperieren will.

Die Art und Weise, wie sich der Patient verständlich zu machen versucht, wird nicht erläutert, doch kann dies auf Grund der kontrollierten Beatmung nicht durch Sprechen, geschweige denn Diskutieren erfolgen. Dennoch wird – wohl durch Gesten, Mienen, Lippenbewegungen – sein Wunsch nach Therapiereduktion bzw. „Abschalten“ wahrgenommen, jedoch nicht mit der hier erforderlichen Deutlichkeit, sodass sich für die Behandler kein konkreter Handlungsschritt (mit möglicher Todesfolge) ableiten lässt.

Die Patientenverfügung (PV)

Nun kommt plötzlich die Ehefrau mit der Information, es gäbe irgendwo eine PV, verfasst vom Patienten, die etwa 4 Jahre alt und nicht auffindbar sei. Der Inhalt: Bei multiplem Organversagen ohne Aussicht auf Besserung sollten alle Therapien eingestellt werden. Eigenartigerweise zeigt sich die Gattin darüber plötzlich informiert, ohne vorher eine möglicherweise vorliegende PV erwähnt zu haben.

Die Reaktion der Behandler ist korrekt: Hier kann ein „mutmaßlicher Wille“ vorliegen, der aber höchstens „beachtlich“, nicht aber „bindend“ sei. Nun aber verstärkt sich der Druck der Familie auf die Ärzte, die Behandlung einzustellen. Dem soll – völlig unangebracht – über die Klinikleitung Nachdruck verliehen werden.

Drei Tage später taucht tatsächlich die PV auf, was wieder vom Team zur Kenntnis genommen, aber nicht als verbindlich betrachtet wird (Alter und Umstände der ungewöhnlichen Art der Abfassung, die ohne Berater und Zeugen erfolgt ist). Dem tritt wieder die Familie entgegen, indem sie einen Notar aufbietet, der die Verbindlichkeit der PV bestätigt.

Diese angebliche Aussage des Notars steht allerdings im klaren Widerspruch zum geltenden PV-Gesetz, welches die Verbindlichkeit u. a. von der „medizinischen Beratung durch einen Arzt und eine rechtliche Beratung durch Notar oder Anwalt“ abhängig macht (in diesem Fall auch ungeachtet des eigenen Berufes als Anwalt). Eine selbst entworfene und ohne Zeugen unterfertigte PV kann demnach höchstens als „beachtlich“, jedoch keineswegs als „verbindlich“ qualifiziert werden.

Auch wird der vom Patienten gewählte unübliche und mehrdeutige Wortlaut auf die Waagschale gelegt: Er setzt voraus, dass in seinem Fall die „neuesten Medizinerkenntnisse“ (die Frage lautet: Welche? Alle?) angewendet, aber in der Folge – wenn nicht wirksam – abgesetzt werden sollen.

Nichtsdestoweniger werden die gerade eingesetzten hochwirksamen und vielversprechenden Antiinfektiosa zur Erfüllung dieser Forderung akzeptiert, und man einigt sich auf einen Kompromiss dergestalt, dass nach einer Frist von 5-6 Tagen die endgültige Entscheidung zur Therapiereduktion fallen solle. Da die erhoffte Besserung nach dieser Frist ausbleibt, wird die Hämofiltration (Nierenersatz) am nunmehr 34. postoperativen Tag abgesetzt, und der Patient darf – wohl in tiefer Sedierung – im Einvernehmen mit der Familie sterben.

Mutmaßliche Psychologie hinter der PV

Für den konkreten Fallbericht von zentraler Bedeutung ist also eine PV, vom Patienten selbst verfasst, vier Jahre alt (damit noch vor der komplikationsbeladenenen Lungenoperation). Diese Vorgehen wirft auch ein bezeichnendes Licht auf seine damalige (präoperative) Verfassung, die von Skepsis gegenüber den Erfolgschancen der geplanten Operation geprägt ist, wie auch von einem Bedürfnis, alles alleine und ohne Dreinreden oder Mitwisserschaft von Dritten, vor allem der Familie, durchzustehen. Außerdem gewinnt man den Eindruck, dass seine Interessensbindung an die Kanzlei enger war als an die Familie.

Schlussfolgerung

Die (intensiv-)medizinische Betreuung ist hochkompetent, aber mit dem unaufhaltsamen Niedergang des Patienten ins Multiorganversagen konfrontiert. Das Team pflegt die Kontakte zur „Familie“ regelmäßig und intensiv.

Die Erwähnung des Vorhandenseins einer PV wird zunächst als „mutmaßlicher Wille“ (ohne bindenden Handlungsbedarf bzgl. Therapiereduktion) gestuft, nach tatsächlicher Vorlage der PV und unter dem Einfluß eines Notars neu überdacht: Der Patient hatte durch seine Formulierung einen Kompromiss eingeräumt: Erst wenn trotz Anwendung „der neuesten Medizinkenntnisse“ keine Besserung erzielt werden könne, habe die Therapieeinstellung zu erfolgen. Im Konsens mit der Familie wird dazu eine Sechstage-Frist eingeräumt. Die erhoffte Besserung bleibt aus, die Therapie wird um einen essentiellen Teil reduziert (Nierenersatz). Damit kann der – wohl tief sedierte – Patient „in Würde“ sterben, im Einklang mit seiner selbst verfaßten PV, mit der Familie, und ohne unnötige Einmischung von außen.

Die Art und Weise der Erstellung dieser „selbst gestrickten“ PV ist kritikwürdig und verhindert zum Teil deren Akzeptanz. Vielmehr bedurfte es in diesem Fall des guten Willens der Behandler, viel Verständnis für die Notsituation des Patienten und der Angehörigen aufzubringen, und dann im Sinne des Patienten zu handeln (siehe seine Äußerungen der Frustration während der Intensivtherapie).

Über die Sinnhaftigkeit der PV wird – ungeachtet der juridischen Verankerung – nach wie vor diskutiert. Hinzu stellen sich ausgehend vom Fallbericht zahlreiche Fragen wie: Sollen Vertrauenspersonen bei der Abfassung zugegen sein? Wer soll über den Aufbewahrungsort informiert sein? Soll sich ein Hinweis auf die Existenz einer PV in den persönlichen Papieren (z. B. Führerschein) befinden?

Am Rande des Falles zeigt sich, dass eine PV keine Garantie für eine reibungslose Kommunikation zwischen Patient, Angehörigen und Ärzten bietet.

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
IMABE
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Institut für Medizinische
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