Juristisch fragliche Patientenverfügung

Imago Hominis (2014); 21(4): 303-304

Der 77-jährige Patient musste sich akut einer Bypass-OP am Herzen unterziehen. Aus der Vorgeschichte sind bekannt: Koronare Herzkrankheit, arterieller Hypertonus, chronische Herzinsuffizienz, Diabetes mellitus II, chronische Niereninsuffizienz, -Gastritis. Transurethrale Resektion eines Blasentumors, SM-Implantation wegen Sick Sinus Syndrom, Thorakotomie und Dekortikation wegen rezidiver Pleuraergüsse vor 4 Jahren mit postoperativer Pneumonie.

Während der OP wird unvorhergesehen eine hochgradig eingeschränkte Ventrikelfunktion festgestellt, die im Notfall-Echo nicht erkenntlich war. Der Patient wird zusätzlich wenige Minuten (bei gutem Perfusionsdruck) intraoperativ reanimiert. Wegen Rechtsherzversagen ist die Entwöhnung von der Herz-Lungen-Maschine trotz hochdosierter Katecholamine nicht möglich. Deshalb wird zentral kanüliert (an das Herz) eine veno-arterielle extrakorporale Membranoxygenierungsmaschine (VA-ECMO) implantiert. (ECMO kann als extrakorporale Therapie der Wahl bei kardiogenem Schock ein paar Tage bis zu einem Monat verwendet wenden).

Postoperativ kommt der Patient hämodynamisch instabil mit offenem Sternum, ECMO und hohem Katecholaminbedarf auf die Intensivstation. Nach entsprechender Volums-, Gerinnungs- und Blutsubstitution kann der Patient stabilisiert werden. Am zweiten postoperativen Tag erfolgt die Umkanülierung der ECMO von der zentralen Position an die peripheren Gefäße (V. fem. – A. subcl.).

In den folgenden Tagen kann der Patient erfolgreich schrittweise von der ECMO entwöhnt werden und diese kann am 7. postoperativen Tag (POT) explantiert werden. Nach der ECMO-Explantation verschlechtert sich progressiv die Nierenfunktion und am 12. POT wird wegen einer Anurie eine kontinuierliche Nierenersatztherapie begonnen.

Die primäre prophylaktische perioperative antibiotische Therapie (Cefazolin) wird nach Rücksprache mit dem Infektionsdienst und entsprechend der mikrobiologischen Diagnostik umgestellt und erweitert (zuerst Piperacillin/Tazobactam, später Vancomycin/Meropenem). Am 23. POT wird aufgrund von Aphten und Bläschen im Mund und Rachenbereich ex juvantibus eine antivirale Therapie mit Acyclovir (Zovirax) begonnen und eine Virusdiagnostik veranlasst.

Es folgt nun eine Zeit der hämodynamischen Stabilisierung, in der der Patient zwar neurologisch kontaktierbar ist und auch auf Ansprache reagiert, sich aber trotz aller Bemühungen nicht vom Respirator entwöhnen lässt.

Am 28. POT wird der Patient noch immer assistiert beatmet und kontinuierlich hämofiltriert mit intermittierender Katecholaminunterstützung. Neurologisch ist er limitiert kontaktierbar, ansprechbar und schwerst polyneuropatisch. Er kann jedoch die Extremitäten auf Aufforderung minimal bewegen. Psychisch ist er extrem negativ und unkooperativ mit dem Pflege- und Physiotherapiepersonal. Er verständigt sich nur limitiert mit der Familie und macht ihr laut Ehefrau Vorwürfe, weil er sich wünscht, dass die Therapie eingestellt wird.

Zu diesem Zeitpunkt wird der diensthabende Arzt von der Familie informiert, dass es eine Patientenverfügung gibt, die der Patient seinerzeit vor der OP (Dekortikation) angeblich unterschrieben hat. In dieser soll er sich ausdrücklich gegen ein medikamentös und maschinell verlängertes Aufrechterhalten der Vitalfunktionen bei multiplem Organversagen ausgesprochen haben, wenn keine Aussicht auf Besserung besteht. Nach weiteren Recherchen behauptet die Ehefrau, dass der Patient – ehemaliger Anwalt – diese Verfügung vor der Lungen-OP selbst geschrieben und in seinem Büro deponiert habe. Diese kann zunächst jedoch nicht vorgelegt werden. Weitere Details sind leider unbekannt. Deshalb wird nach interner Besprechung ein weiteres intensivmedizinisches Vorgehen beschlossen.

Nach Recherchen der behandelnden Ärzte erfolgte das Verfassen der Patientenverfügung ohne Zeugen vor mehreren Jahren. Da der Patient von einer prominenten Familie mit guten Beziehungen zur KH- und Klinikleitung kommt, wächst gleichzeitig seitens der Familie und der KH-Leitung der Druck auf Einstellung der Intensivtherapie.

Drei Tage später kann die handschriftliche Verfügung vorgelegt werden; diese ist über vier Jahre zurück datiert. Es bestehen Zweifel, ob die Verfügung de jure bindend gültig ist. Sie wird jedenfalls zumindest als mutmaßlicher Wille des Patienten eingestuft. Die Familie setzt sich inzwischen mit einem Notar in Verbindung, der ihr angeblich bestätigt, dass die Verfügung als verbindlich akzeptiert werden muss.

Zu diesem Zeitpunkt (30. POT) findet man in der PCR außer einer Herpesinfektion (HSV Typ 1 und 2) auch eine CMV Infektion, weshalb eine Therapie mit Gancyclovir (Cymevene) begonnen wird. Zwei Tage später muss die antibiotische Therapie wegen positivem Staph. epidermidis aus dem Zentralvenenkatheter um Linezolid (Zyvoxid) erweitert werden.

Der Zustand des Patienten wird täglich reevaluiert und als DNR eingestuft, die volle Intensivtherapie mit künstlicher Beatmung, Katecholaminen und Nierenersatztherapie geht weiter.

Nach fast täglichen Gesprächen mit der Familie wird beschlossen, dass die jetzige Situation nicht der in der Verfügung beschriebenen entspricht, wonach der Patient „nach den neuesten Medizinkenntnissen behandelt werden will“ und momentan neu ein konkreter Keim und ein Virusstamm identifiziert werden konnten, die auch gezielt antimikrobiell behandelt werden können. Es wird eine Übergangszeit von 5 Tagen vereinbart, nach der die Gesamtsituation und Dynamik der Entzündungswerte reevaluiert werden sollen und bei fehlender Verbesserung die Nierenersatztherapie nach der Beendigung des 36-h Zyklus nicht mehr gestartet werden soll. Tatsächlich tritt bis zum 6. Tag keine Besserung ein.

Am 34. POT wird daher die Hämofiltration eingestellt bzw. bei verbrauchtem Set nicht erneut gestartet. Schon vorher war es wieder zu einem gesteigerten Katecholaminbedarf bei wiederholter Rechtsherzdekompensation gekommen. Respiratorisch musste der Patient kontrolliert beatmet werden, neurologisch war er kaum mehr kontaktierbar. Es handelte sich jetzt also um ein therapierefraktäres Multiorganversagen (Rechtsherz, Lunge, Leber, Niere).

Die Familie wird über die Verschlechterung informiert und von einer weiteren Eskalation der Therapie wird Abstand genommen.

Der Patient verstirbt im Beisein der Familie am 37. POT.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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