Ein neues Naturdenken als Grundlage für die Ethik. Zur Aktualität von Hans Jonas

Imago Hominis (2014); 21(4): 287-302
Marcus Knaup

What about nature’s worth
It’s our planet’s womb
What about us
What about animals
What about it

Michael Jackson, Earth song

Hans Jonas (1903 – 1993) gehört zu den faszinierendsten Köpfen des zurückliegenden 20. Jahrhunderts. Insbesondere zur Ethik und Naturphilosophie hat er wegweisende und bis heute diskutierte Arbeiten vorgelegt, in denen er in tiefgründiger Weise das Verhältnis des Menschen zur Natur und unseren Umgang mit der Technik philosophisch reflektiert. Jonas ging es – gerade angesichts moderner technischer Möglichkeiten – um eine neue Naturphilosophie als Grundlage für eine Ethik globaler Verantwortung. Für die Aktualität1 seiner Überlegungen im noch jungen 21. Jahrhundert soll im Folgenden argumentiert werden. Ich tue dies in fünf Schritten: Zunächst soll ein Blick auf die Dynamik moderner Technik geworfen werden, insofern sich durch technologische Entwicklungen die Welt heute „schneller zu drehen“ scheint als früher und sich damit auch neue ethisch-philosophische Fragen stellen (I.). In einem zweiten Schritt soll ein Blick auf einige neuzeitliche Engführungen hinsichtlich unserer Einstellung zur Natur sowie auf die Konsequenzen dieser veränderten Sichtweise, die bis heute spürbar sind, geworfen werden (II.). Um Lebensäußerungen, die nach Jonas mehr sind als bloße Epiphänomene (III.), und das Leben des Organischen (IV.) geht es dann in den folgenden Kapiteln. Schließlich wird ein Blick auf den Begriff der Verantwortung geworfen, der für das Denken von Jonas ganz zentral ist (V.).2

I. Zur Dynamik moderner Technik

Menschen erforschen heute die Tiefen der Meere, erkunden das Weltall, surfen im Internet, telefonieren mit ihrem Smartphone. Sie reisen mit dem Flugzeug und legen so Wegstrecken zurück, die für frühere Generationen entweder nur äußerst mühsam oder gar nicht zu bewältigen gewesen wären. Menschen beherrschen heutzutage die Spaltung von Atomen und können Eingriffe in die genetische Grundausstattung von Lebewesen vornehmen. Diese Beispiele ließen sich beliebig erweitern und verweisen darauf, wie eng unser Leben mit der Technik verflochten ist. Grenzen scheinen heute nicht mehr so klar und eindeutig, wie sie bisweilen waren: Denken wir z. B. an die Grenzen zwischen Technik und Biologie, Gemachtem und Gegebenem, Lebendem und Totem. Gerade deshalb ist Technik als Thema für die philosophische Reflexion nicht wegzudenken. Es handelt sich um ein ebenso „zentrales“ wie „bedrängendes“ Thema.3

Moderne Technik, so sehen wir schnell, ist dynamisch: Sie verharrt nicht bloß, steht nicht still. Bis zu einem gewissen Grad, so Jonas, schafft sie selbst Probleme, die sie dann durch Fortschritt selbst zu bewältigen hat.4 Gemeinsam sei allen technischen Innovationen die Annahme eines stets wachsenden Fortschritts: Es gibt immer etwas Besseres als das, was es jetzt bereits gibt. Technik und Wissenschaft stehen dabei in einem Wechselverhältnis: Neue technische Errungenschaften zeigen uns Bereiche, die uns vorher verschlossen waren. Die Rechen- und Speicherkapazitäten heutiger Computer etwa ermöglichen ein Vordringen in die Nanowelt zellulärer Einheiten, die uns aufgrund ihrer Komplexität sonst verschlossen bleiben würde. Ja, auch wenn eine gewisse Tendenz zu bestehen scheint, Gegebenes in Gemachtes zu überführen, zeigt sich die Natur im Angesicht des technischen Fortschritts selbst als immer subtiler. Wissenschaft und Technologie durchdringen sich, so Jonas, wechselseitig und treiben sich gegenseitig an.

Technik ahmt Natur zwar auch nach (denken wir etwa an den Bau von Flugzeugen, die dem stromlinienförmigen Körperbau von Vögeln nachempfunden sind), greift aber auch tiefgreifend in die Natur ein. „Künstlichkeit oder schöpferisches Konstruieren nach abstraktem Entwurf (Plan) dringt ins Innerste der Materie vor.“5 Durch die moderne Biotechnologie ist das Konstruieren biologischer Einheiten keine Sciencefiction mehr. „Angenommen, der genetische Mechanismus sei völlig analysiert und seine Schrift endgültig entziffert, so können wir uns daran machen, den Text umzuschreiben“6, so Jonas in den 1980er Jahren. Dies ist heute noch mehr als damals im Bereich des Möglichen, gleichwohl gerade heute viele weitere Entwicklungen und Auswirkungen noch gar nicht absehbar sind. Der Mensch macht sich, mit Jonas gesprochen, zum „Meister über die Erbmuster“7. Während Jonas vor der Hintergrundfolie der Gentechnologie seiner Zeit davon spricht, dass es ein ehrgeiziger Traum des Menschen sei, „seine eigene Evolution in die Hand zu nehmen“8, betont in aktuellen Debatten z. B. Craig Venter, einer der führenden Köpfe der Synthetischen Biologie, dass der Stammbaum des Lebens durch einen weiteren Zweig erweitert werden könne, nämlich jenen der Synthetischen Biologie.9 Eine „neue Phase der Evolution“10 sei eingeleitet. Der Synthetischen Biologie geht es um die Erzeugung neuartiger biologischer Einheiten, die wir so in der Natur nicht vorfinden: z.B. die Erzeugung eines „Minimalorganismus“, der auf ganz grundlegende evolutionäre Funktionen beschränkt ist, worauf dann bestimmte Gensequenzen aufgesetzt werden können. Passend dazu ist folgender Hinweis von Jonas: „Der Unterschied zwischen dem Künstlichen und dem Natürlichen ist verschwunden, das Natürliche ist von der Sphäre des Künstlichen verschlungen worden; und gleichzeitig erzeugt das totale Artefakt, die zur Welt gewordenen Werke des Menschen, die auf ihn und durch ihn selbst wirken, eine neue Art von ‚Natur‘, das heißt eine eigene dynamische Notwendigkeit, mit der die menschliche Freiheit in einem gänzlich neuen Sinn konfrontiert ist.“11

Technik wird um bestimmter Ziele willen verfolgt. Daher, so lässt sich argumentieren, ist sie auch nicht losgelöst von Ethik zu sehen, ist doch menschliches Handeln einer reflektierten Prüfung ausgesetzt. Technisches Tun ist mehrdeutig: Es kann zum Guten wie zum Bösen verwendet werden. Im Hinblick auf die Möglichkeiten der modernen Biotechnologie wäre etwa die Ambivalenz ihrer Wirkungen in den Blick zu nehmen. Diese kann ein Segen sein, wenn wir z. B. an die Herstellung von Insulin für Diabetiker denken. Andererseits kann sie auch zum Albtraum werden: So ist beispielsweise der Komplettnachbau der 185.000 Basenpaare Erbsubsatz des Pockenvirus durchaus möglich. Im Jahr 2006 ist es einem Journalisten geglückt, ohne größere Probleme als Privatmann bei einer Firma ein Fragment des Pockenvirus zu ordern.12 Und mit neuartigen Biowaffen lassen sich Kriege und Terrorakte viel schneller und effizienter durchführen. Auch hier ließen sich die Beispiele problemlos erweitern. Zu bedenken bleibt: „Nicht nur wenn die Technik böswillig, d. h. für böse Zwecke, mißbraucht wird, sondern selbst, wenn sie gutwillig für ihre eigentlichen und höchst legitimen Zwecke eingesetzt wird, hat sie eine bedrohliche Seite an sich, die langfristig das letzte Wort haben könnte.“13

Der Radius moderner technischer Praxis ist heute weit größer als es für die Technik der Antike der Fall war. Dies gilt sowohl im Hinblick auf die Ausmaße in Zeit als auch in Raum. Das, was wir tun, hat durch die Technik eine globale und weit in die Zukunft sich erstreckende Dimension bekommen. Das Angesicht der Erde, das Wesen von Mensch und Natur kann durch die moderne Technik – z. B. die Synthetische Biologie – tiefgreifend verändert werden. Für Jonas folgt daraus dies: „[E]s wird zur transzendenten Pflicht des Menschen, die am wenigsten wiederherstellbare, unersetzbarste aller ‚Ressourcen‘ zu schützen – den unglaublich reichen Genpool, der von Äonen der Evolution hinterlegt worden ist. Es ist das Übermaß an Macht, das dem Menschen diese Pflicht auferlegt; und gerade gegen diese Macht – also gegen ihn selbst – ist sein Schutz erforderlich. So kommt es, daß die Technik, dies kühl pragmatische Werk menschlicher List, den Menschen in eine Rolle einsetzt, die nur die Religion ihm manchmal zugesprochen hatte: die eines Verwalters oder Wächters der Schöpfung.“14

II. Die Mathematisierung der Natur in der Neuzeit – und ihre Folgen

Systematisch künstlich etwas herstellen zu können, ist wohl ein markanter Unterschied zwischen Homo sapiens und seinen haarigen Verwandten. Ursachen und Wirkungen müssen verknüpft, Ziele durchdacht werden. Vorbild und Voraussetzung für Technik und Ethik war in der Antike noch die Natur. Ein Handeln wider die Natur, so die Alten, könne den Menschen kaum glücklich machen. Da die Natur für sich selbst zu sorgen in der Lage war, war sie auch nicht Gegenstand menschlicher Verantwortung. Die Rolle des Menschen war eher klein. Die Natur überragte ihn.

In der Neuzeit ändert sich dies. War der Mensch vorher noch ein Glied in der Natur, schwingt er sich nun auf, „maître et possesseur de la nature“ (R. Descartes) zu sein. Die Natur gebietet nicht mehr Ehrfurcht, sondern der Mensch ist es fortan, der über sie gebietet. „Technik und Naturwissenschaften“, so Jonas in einem Gespräch über das Verhältnis des Menschen zur Natur, „haben uns von Beherrschten zu Herrschern der Natur gemacht“15. Und im Vorwort des inzwischen vor 35 Jahren erschienenen Prinzip Verantwortung ist zu lesen: „Die dem Menschenglück zugedachte Unterwerfung der Natur hat im Übermaß ihres Erfolgs, der sich nun auch auf die Natur des Menschen selbst erstreckt, zur größten Herausforderung geführt, die je dem menschlichen Sein aus eigenem Tun erwachsen ist.“16

Spätestens seit der Neuzeit wird vieles erforscht, vieles anders und neu beurteilt. Man sucht nach dem, was vorher noch unbekannt war. Entdeckungen werden wichtig. Denken wir z. B. an Columbus und seine Reisen. Untrennbar mit dem Begriff der Neuzeit ist der Aufschwung der Naturwissenschaften verbunden.17 Eine besondere Rolle spielte in diesem Zusammenhang die mathematische Methode: Das, was ist, soll berechnet und quantifiziert werden. Jonas schreibt: „Die moderne Naturwissenschaft erstand mit dem Entschluss, der Natur ihre Wahrheit durch aktives Eingreifen in sie abzuzwingen, also durch Intervention in den Gegenstand der Erkenntnis. Diese Intervention heißt ‚Experiment’.“18 Jonas spricht hier die wachsende Bedeutung des experimentierenden Forschens in der Neuzeit an. Es ging darum, sich auf die Aspekte zu konzentrieren, die grundsätzlich wiederholbar sind: an anderer Stelle, von anderen Leuten. Was diese selbst denken, glauben oder meinen, sollte dabei keine Rolle spielen.

Technische Hilfsmittel wurden fortan leistungsstärker und schlichtweg besser konzipiert. Neue Welten wurden so erschlossen, Ausblicke eröffnet, von denen man vorher noch nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Auch zur Unterstützung unserer Sinne kamen technische Hilfsmittel verstärkt zum Einsatz. In den Brennpunkt des Interesses rückt das, was man messen, berechnen und vergleichen kann, während man die Frage nach Qualitäten beiseite schiebt. Wie es sich für zwei Verliebte anfühlt, „Schmetterlinge im Bauch zu haben“ und gemeinsam einen Sonnenuntergang zu betrachten, kann man ebenso wenig messen wie Fragen nach Sinn und Werten bzw. die Frage, ob der Andere, mit dem man den rot-goldenen Sonnenuntergang betrachtet, der passende Partner ist oder nicht. Wenn z. B. die Frage auftaucht, was die Farbe rot ist, dreht sich hierbei alles um Wellenlängen und nicht darum, was gesehen, was erlebt wird und welche Bedeutung hiermit verbunden ist (als Farbe der Liebe, als Farbe der Gerichtsbarkeit, als Warnzeichen für Gefahr, als liturgische Farbe der Märtyrer und des Heiligen Geistes).

In besonderer Weise tritt die Physik hervor, die eine Vorreiterrolle einnimmt. Sie scheint geradezu prädestiniert zu sein, anderen als Vorbild zu zeigen, wie man Wissenschaft betreibt und exakt und empirisch arbeitet. Die Einstellung zu anderen Menschen und zur Natur bleibt davon nicht unberührt. Die Natur wird mathematisiert. Man will einen Einblick in die „Werkstatt der Natur“ bekommen, um so zu begreifen, wie sie alles macht: nicht nur, um sie nachzuahmen, sondern um sie dazu zu bringen, etwas hervorzubringen, was sie sonst nicht getan hätte.19 Es ging darum, die Natur zu kennen, zu erforschen, um sie zu beherrschen, ihr etwas für die eigenen Zwecke abzuzwingen. „Damit wird das intellektuelle und emotionale Verhältnis zur Natur, das der Mensch bis dahin gehabt hatte, beendet: Die Natur wird zum Anderen des Menschen, seiner absoluten Souveränität gnadenlos unterworfen.“20

Alles was ist, wird entweder dem Bereich „physikalisch-quantitativ“ oder dem Bereich „persönlich-qualitativ“ zugeordnet. Mit einem Phänomen wie Wärme geht man unter diesen Vorzeichen so um, dass man in den Bereich Fragen der Teilchenbewegung verweist. Wie sich etwas, das warm ist – sei es eine Heizung, ein Kaminfeuer, oder eine Suppe – für Sie und mich persönlich anfühlt, hat hiermit nichts zu schaffen und wird in einen anderen Bereich verwiesen. Damit tut sich, wie Thomas Fuchs festhält, ein unguter Graben zwischen uns und der Umwelt auf: „Denn das Phänomen der Wärme besteht ja gerade in der Beziehung unseres Leibes mit der Umwelt, etwa der Luft oder der Sonne. […] All diese Beziehungen, die uns die Qualitäten der Dinge selbst vermitteln, werden gekappt und in innerpsychische Zustände umgedeutet. Tatsächlich gibt es nur noch Teilchenbewegungen, Lichtwellen, chemische Reaktionen. Die Reinigung der Welt von allen subjektiven, anthropomorphen Anteilen fördert ein Skelett der Natur zutage, das sich allerdings umso leichter zerlegen, manipulieren und technisch beherrschen lässt.“21

Nicht wenige Neurowissenschaftler und Philosophen unserer Tage zielen darauf ab, das, was Menschen widerfährt, was sie erleben, als messbare Konstellation im Zerebrum zu fassen zu bekommen. Eine derart verkürzte Sichtweise des Menschen, die ihn zu einem Gehirn-Geist-Schrumpfwesen macht, steht in den Fußstapfen eines neuzeitlichen Umgangs mit der Natur, aus der Werte wie Sinnesqualitäten ausgezogen sind: Zuerst aus der Natur, dann aus dem Menschen. Beide will man in den Griff bekommen, Kontrolle ausüben. Wer den Anschluss an den Zeitgeist nicht verpassen will, kann nicht mehr viel damit anfangen, dass es in der Natur zielgerichtet zugehen soll.

Für den französischen Philosophen René Descartes, der das Denken wie kaum ein Zweiter maßgeblich beeinflusst hat und gelegentlich als „Vater der Neuzeit“ bezeichnet wird, kann alles, was ausgedehnt ist, mathematisiert werden. Diese Sichtweise bleibt nicht folgenlos. Für alles Körperliche sind fortan die Naturwissenschaften zuständig, wobei diese Körper von persönlich-qualitativem Erleben gereinigt sind und damit nichts mehr zu tun haben. Es zählt, wie gesagt, nur das, was auch quantifiziert und vermessen werden kann. Diese Erbschaft bleibt, wie Hans Jonas sagt, auch für die Philosophie nicht ohne Folgen: Sie wird dem Bereich der Geisteswissenschaften zugeschlagen und scheint nicht besonders enttäuscht darüber, fortan in Fragen die Natur betreffend nur noch die zweite Geige zu spielen. Bis ins heutige Universitätsleben ist die hier deutlich werdende Scheidelinie von Natur- und Geisteswissenschaften anzutreffen.22 Wichtig ist auch der Hinweis von Jonas, dass die Philosophie eigentlich jenseits dieser Aufspaltung stehen müsse.23 Nicht unproblematisch sei es, wenn Philosophen das Ganze aus dem Auge verlieren würden und sich von einer der beiden Seiten vereinnahmen lassen: „Der Materialismus erbte die Hinterlassenschaft des Dualismus, ohne sich darüber klar zu sein, dass das Erbe, das er antrat, mit einer Verpflichtung belastet war, die er aus eigenem Vermögen niemals einzulösen hoffen durfte: der Verpflichtung, theoretisch auch für diejenigen Phänomene mit aufzukommen, die vorher aus der verschwundenen Hälfte des dualistischen Besitzes bestritten worden waren. Diese Aufgabe war dem Materialismus unausweichlich zugefallen, nachdem er sich erst einmal als selbstgenügsamer Monismus auf seinem Teil des Erbes festgesetzt hatte. […] Der Materialismus setzt logisch auch weiterhin einen transzendenten Dualismus voraus, denn nur dadurch, dass er uneingestanden die ‚andere Welt’ des Dualismus im Hintergrund stehen hat, kann er es sich in seinem eigenen Feld leisten, die Evidenz des Geistes unbeachtet zu lassen und die Wirklichkeit, soweit er mit ihr zu tun hat, in Kategorien der reinen Materie zu deuten.“24

Das cartesische Erbe einer Auftrennung in res cogitans und res extensa zeigt sich heute in der Unterscheidung entweder eines (mind oder brain/body) oder eben zweier (mind und brain/body) mehr oder weniger ontologisch eigenständiger Abteilungen von Entitäten. Physikalistische Theorien billigen im Grunde zunächst einmal die vorgenommene Trennung und stürzen sich dann auf eine Seite des Erbes, auf die die andere Seite reduziert oder eliminiert wird. Insofern kann man davon sprechen, dass der materialistische Monismus eine abgespeckte Variante cartesischen Denkens darstellt.

Sagen wir es noch einmal so: Descartes ist nicht nur der Erblasser dualistischer, sondern auch physikalistischer Modelle. Durch den Graben, der zwischen mentalen Lebensäußerungen und Körper gezogen wird, ist für viele Autoren der Weg vorgezeichnet, sich auf die Mechanisierung und Physikalisierung des Körpers zu konzentrieren, wie Jonas und auch John Searle beobachten.25 Und Daniel Dennett ist von der Idee angetan, dass man sich anschließend der anderen Grabenseite zuwenden sollte und die Mechanisierung und Physikalisierung des Geistes voranbringen sollte.26 Wer gemäß diesen Einteilungen denkt, übersieht den lebendigen Organismus in seiner leib-seelischen Ganzheit, dessen Lebensvollzüge man versucht habhaft zu werden und zu verdinglichen.

In dem Zusammenhang sollte erwähnt werden, dass Jonas sein Buch Organismus und Freiheit als sein „philosophisch wichtigstes Buch“27 betrachtet. Er vertritt dort die Ansicht, dass „das Wesen der Wirklichkeit sich am vollständigsten in der organischen Existenzweise des Organismus ausspricht, nicht im Atom, nicht im Molekül, nicht im Kristall, auch nicht in den Planeten, Sonnen und so weiter, sondern im lebenden Organismus, der zweifellos Körper ist, aber etwas in sich birgt, das mehr als das bloße stumme Sein der Materie ist“28.

III. Lebensäußerungen sind nicht nur Epiphänomene

Nicht wenige Denker unserer Tage sind davon überzeugt, dass unsere Lebensäußerungen eigentlich nur ein Epiphänomen darstellen. Sie anerkennen also den cartesischen Graben von mentalen Lebensäußerungen auf der einen Seite und physischen Entitäten andererseits. Zur Grabenseite der physischen Entitäten führe keine Brücke von der anderen Grabenseite, die es ermöglichen würde, hier irgendwelche Einflüsse geltend zu machen.29

Die Theorie des Epiphänomenalismus beruht auf zwei Grundsäulen: Zum einen ist dies die Überzeugung, man könne eigentlich alles, was es gibt, physikalisch begreiflich machen. Mit der anderen Grundsäule, auf der der Epiphänomenalismus erbaut ist, ist das dualistische Erbe einer unübersehbaren Aufteilung von mind and brain angesprochen. Zu den Pionieren des Epiphänomenalismus zählt Thomas H. Huxley (1825 – 1895), ein britischer Biologe. Seiner Ansicht nach sind mentale Lebensäußerungen durch physische Zustände hinreichend verursacht. Das Kuriose dieses Vorschlags ist, dass seiner Ansicht nach unsere mentalen Lebensäußerungen eigentlich keine Wirkmacht entfalten können. Nach Ansicht von Gerhard Roth, einem der führenden deutschen Neurowissenschaftler unserer Tage, ist der Epiphänomenalismus immerhin „ein ernst zu nehmender Ansatz zur Lösung der Probleme des Reduktionismus“30.

Wenn wir uns mit einem Epiphänomenalisten unterhalten, würde uns dieser nicht zu missionieren versuchen, dass es mentale Lebensäußerungen gar nicht gibt. Er würde aber versuchen, uns davon zu überzeugen, dass mentale Lebensäußerungen kausal irrelevant sind: „Schatten bewirken nichts! Sie spielen letztlich keine Rolle!“ Wenn wir jetzt zurückfragen würden, wie er dies meint, würden wir wahrscheinlich eine solche Begründungsstrategie zu hören bekommen: Er könnte uns erklären, dass es gänzlich zufällig zu mentalen Lebensäußerungen kommt, nichts und niemand hierbei einen tatsächlichen Einfluss hat. Möglicherweise könnte er uns aber auch mit Hilfe von theologischen Begründungen auf die Sprünge helfen wollen, sich für seine Theorie zu interessieren, denn auch das ist unter Epiphänomenalisten nicht ganz unüblich. So stellt z. B. ein Autor wie Dietrich heraus, dass unsere mentalen Lebensäußerungen ein ganz ausgezeichnetes Geschenk des Schöpfergottes darstellen. Aber dieses Geschenk kann man nicht nur nicht zurückgeben, eigentlich kann man auch überhaupt nichts damit anfangen, denn Dietrich erklärt, dass mentale Lebensäußerungen auf keinen Fall kausal etwas ausrichten können.31 Wenn wir Schöpfung so denken wie Dietrich nahe legt, müssen wir Begriffe wie verantwortliches, freiheitliches Planen und Handeln von Personen aus unserem Wortschatz tilgen. Epiphänomenalisten sind fest davon überzeugt, dass Ihre und meine Vorstellungen und Absichten völlig unfähig sind, irgendeine Veränderung herbeizuführen.

Fatal ist, was über unser qualitatives Erleben wie z. B. unser Schmerzempfinden gedacht wird. Ein Arzt oder Notfallseelsorger, der zu einem verunfallten Menschen gerufen wird, müsste demnach sagen: „Dein Schmerz hat keinerlei Wirkung und Funktion. Dein Eindruck, dass Dein Schmerz etwas bewirkt, trügt und ist – objektiv betrachtet – falsch. So wie andere mentale Phänomene sitzt Dein Schmerz lediglich auf fundierenden neuronalen Prozessen auf! Deine Schmerzempfindungen sind nichts anderes als eine Begleiterscheinung deiner neuronalen Prozesse.“ Dieses Szenario zeigt, wie absurd, epistemologisch und ontologisch schief die Annahmen des Epiphänomenalismus sind.

Man kann schon ein wenig schmunzeln, dass dasselbe Argument bemüht wird, um den Epiphänomenalismus vorzuführen wie auch um für ihn zu streiten. Die Gruppe der Fürsprecher geht davon aus, dass sich immer bessere physikalische Prozesse in der Entwicklungsgeschichte des Menschen herausgebildet hätten, um so die Überlebensvorteile zu verbessern. Daher bräuchten wir uns auch nicht auf hitzige Diskussionen über mentale Lebensäußerungen einlassen. Ihre Einlassungen laufen im Ergebnis darauf hinaus, dass mentale Lebensäußerungen keinerlei Funktion aufweisen.32 Richtig sei die Rechnung: geeignete Gehirnstruktur = Selektionsvorteil. Mentale Lebensäußerungen tauchen in dieser Gleichung nicht auf. Sie haben summa summarum keine Bedeutung. Mit dieser Rechnung wollen sich die Gegner des Epiphänomenalismus nicht einverstanden zeigen. Mentale Lebensäußerungen gehörten nun mal, so ihr Hinweis, zu Lebewesen und eine solche Rechnung gehe vollkommen an der Realität des Lebendigen vorbei. In Abrede zu stellen, dass unsere mentalen Lebensäußerungen tatsächlich etwas bewirken können, sei völlig verkehrt.33 Und so begegnet man den Epiphänomenalisten mit Fragen wie dieser: Hätte nicht auch, so heißt es dann, auf ein schönes Schattenspiel namens Geist bzw. mentale Lebensäußerungen verzichtet werden können, wenn alles keine Bedeutung hat? Ihr und mein Leben würde wohl kaum so aussehen wie wir es kennen, wenn mentale Lebensäußerungen nicht dazugehören würden.

Dass man geistig-mentale Lebensäußerungen zu einer kümmerlichen Begleiterscheinung abstempelt, ist keine Entschuldigung dafür, diese nicht weiter zu erforschen. „Denn eben damit“, so Edith Stein, „dass man sie als Begleiterscheinungen bezeichnet, spricht man ja aus, dass sie nicht dasselbe sind wie physische Vorgänge und ein eigenes Studium erfordern.“34 Interessant ist auch die Frage, woher ein Epiphänomenalist eigentlich so genau weiß, dass mentale Lebensäußerungen Epiphänomene sind. Was ist denn mit diesem „Wissen“? Dieses müsste eigentlich auch ein Epiphänomen sein, ein Schattenwerk, das gar nichts auszurichten vermag. In diese Richtung argumentiert auch Hans Jonas, der auf einen logischen Widerspruch des Epiphänomenalismus aufmerksam macht.35 Wohl jeder Epiphänomenalist würde davon ausgehen, seine eigene Theorie sei ernst zu nehmen und solle bedacht werden. Ein guter Vorschlag eben, der in die philosophischen Diskussionen eingebracht werden könnte. Jetzt kommt der Haken: Auch die schönsten argumentativen Darlegungen sind gemäß der epiphänomenalistischen Grundannahmen nichts anderes als Schatten, Begleiterscheinungen. Der Knackpunkt ist, wie aus Systemen, „deren immanente Ablaufsnotwendigkeiten mit so etwas wie ‚Sinn’ und ‚Wahrheit’ nichts zu tun haben“36, ein Argument entstammen kann, das zur Diskussion gestellt wird. Wenn ein Epiphänomenalist also Argumente für seine Position aufsagt, ist dies ein gutes Argument gegen seine Position. Die epiphänomenalistische Theorie führt, so lässt sich mit Jonas anmerken, in eine unbefriedigende Selbstwidersprüchlichkeit. „Der Epiphänomenalismus behauptet […] die Ohnmacht des Denkens und damit die Unfähigkeit seiner selbst, unabhängige Theorie zu sein.“37 Die Annahme des Epiphänomenalismus, die Materie sei die hinreichende Bedingung für mentale Lebensäußerungen, wird präsentiert, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was dies denn überhaupt für unser Verständnis der Materie bedeutet.38

Jonas‘ eigene Position zu klassifizieren, ist nicht so einfach. Am ehesten trifft es noch, seine Philosophie des Organischen in den Zusammenhang neoaristotelischer Ansätze zu bringen. So schickte Hans-Georg Gadamer Jonas einen Brief, als Das Prinzip Verantwortung auf deutsch erschien (1979), in dem es heißt: „Es ist mir dadurch klar geworden, daß eigentlich Aristoteles von neuem immer wichtiger für uns wird.“39 Jonas selbst gesteht, dass es gute Gründe gebe, ihn in diese Richtung einzuordnen: „Es ist jedenfalls keine schlechte Nachbarschaft, in die man da kommt.“40 Aufschlussreich sind in der Hinsicht gewiss auch die Lehrbriefe an Lore Jonas, also jene Briefe, die der Soldat Hans Jonas seiner Ehefrau während des Zweiten Weltkrieges schickte. Im Brief vom 25. Februar 1944 heißt es: „Das lebendige Wesen, das als eine bestimmte Agglomeration von Materie da ist, ist mit dem Stoffe, aus dem es besteht, nicht identisch, und mit dessen Identität nicht verhaftet, sondern eine organisierende Form, die sich zum Zweck hat und ihrem stofflichen Bestande gegenüber in dem Grade selbständig ist, daß sie fortwährend wechselt, ja nur durch diesen Wechsel überhaupt sich in ihrer eigenen Identität erhält.“41 Nicht nur sprachlich scheint hier eine gewisse Verwandtschaft zu Aristoteles zu bestehen. Wie Aristoteles geht es Jonas um den Organismus in seiner psychophysischen Ganzheit – nicht etwa bloß um die materielle Seite oder den Bereich des Geistigen. Aristoteles ist hier Impulsgeber insbesondere in der Frage des Verhältnisses von Materie und Form, im Hinblick auf das organische Leben, den Stufenbau im Reich des Lebendigen und der Differenz von Lebendem und Totem.

Das, was lebendig ist, ist nicht bloß res extensa. „Die Tatsache, daß das indifferente Sein der Materie dies aus seinem Schoße hervorgebracht hat, zeigt, daß Prinzipien in ihr verborgen sind, die wir mit ihrem Begriff nicht zu verbinden pflegen, aber in ihre vertiefte Interpretation aufnehmen müssen.“42 Das, was lebendig ist, wird auch nicht einfach nur von Reizen affiziert, sondern vermag sich darin selbst zu fühlen. „Im Reiz und im Reagieren, strebend oder fliehend, annehmend oder ablehnend, ist sein Selbst punkthaft dem Umkreis des Nichtselbst gegenüber aktiviert.“43 Dass ein Lebewesen morgen dasselbe ist wie heute, also mit sich identisch bleibe, sei, so Jonas, „seine eigene unaufhörliche Leistung, Ergebnis der tätig sich fortstiftenden Selbstkonstitution und Selbsterneuerung seiner Form“.44 Die Form sei Ursache, nicht Ergebnis der selbstintegrierenden Ganzheit des Organismus, der mehr ist als die bloße Summe seiner Teile. Ein Lebewesen höre auf zu sein, wenn es zum bloß beharrenden werde. Aristoteles hatte in De Anima argumentiert, dass ein Lebewesen aufhört zu sein, wenn sich die Seele verflüchtige,45 wenn das, was dem Organismus Struktur, Organisation und Dauer verleiht, nicht mehr da ist. „Die Eigenständigkeit der lebendigen Form“, so Jonas in seinen Lehrbriefen, „zeigt sich primär darin, daß sie ihren stofflichen Bestand nicht ein für allemal hat, sondern ihn in ständigem Aufnehmen und Ausscheiden mit der umgebenden Welt austauscht – und dabei sie selbst bleibt.“46

IV. Leben

Im § 17 seiner Monadologie schreibt Leibniz: „Denkt man sich eine Maschine, die so beschaffen wäre, dass sie denken, empfinden und wahrnehmen könnte, so kann man sie sich derart proportional vergrößert denken, dass man in sie wie in eine Mühle eintreten könnte. Bei der Besichtigung ihres Inneren wird man dann aber nichts weiter finden als einzelne Teile, die einander stoßen, niemals aber etwas, woraus eine Wahrnehmung zu erklären wäre.“ Im Zeitalter der Neurowissenschaften ließe sich dieser Gedanke so umformulieren, dass wir uns anstatt der Mühle ein xxl-Gehirn vorstellen, in dem wir uns bewegen und umhergehen können. Wahrscheinlich könnten wir hier sehen, welche Areale wann aktiv sind. Unser Empfinden, unser Bewusstsein, könnten wir nicht ausfindig machen. Mit Jonas gesprochen: „Auch nicht die vollständigste äußere Bestandsaufnahme eines Gehirns bis in seine feinsten Strukturen und Funktionsweisen hinein ließe das Dabeisein von Bewußtsein ahnen, wüssten wir darum nicht schon durch innere Erfahrung.“47

Durch unseren Leib stehen wir in einem ständigen Austausch mit der Natur. Wir atmen, essen, trinken, betreiben Stoffwechsel. Der Leib ist unser Medium, Natur zu erschließen, die Natur die Voraussetzung, dass wir als leibliche Wesen existieren können. Der Leib ist unser point of view, die Bedingung für unseren view from life. Die Zusammengehörigkeit von Leiblichkeit und Lebendigkeit zeigt uns deutlich, dass es schlicht zu kurz greift, menschliche Personen ausschließlich über ihre mentalen Akte zu definieren.

Dass wir lebendig sind, können wir am eigenen Leib spüren. Mein Leib unterscheidet sich in seinem Lebensvollzug, seinem Spüren, seinen Bewegungen und Regungen z. B. von einem Stein. Jenen kann ich verlegen und suchen. Meinen Leib muss ich nicht suchen. Er ist mir unmittelbar gegeben. Kraft der unmittelbaren Zeugenschaft unseres Leibes, so Hans Jonas, können wir benennen, was kein körperloser Zuschauer zu sagen imstande wäre: „[D]er Punkt des Lebens selber: dass es nämlich selbst-zentrierte Individualität ist, für sich seiend und in Gegenstellung gegen alle übrige Welt, mit einer wesentlichen Grenze zwischen Innen und Außen.“48 Der menschliche Leib ist keine Mühle und auch keine moderne Maschine. Eine Maschine bzw. ein Motor wird zwar von verschiedenen Brennstoffen versorgt, aber „die Motorteile selbst, die diesen Fluss durch sich passieren lassen, nehmen an ihm nicht teil. So beharrt die Maschine als ein selbstidentisches träges System gegenüber der wechselnden Identität der Materie, mit der sie ‚gespeist’ wird; und sie existiert als ganz dieselbe, wenn jede Speisung unterbleibt.“49

Jonas argumentiert für ein neues Verständnis des Menschen und der Natur. Der cartesische Dualismus muss überwunden, das Menschenbild und die Haltung gegenüber der Natur – insbesondere ihre Missachtung und unverhältnismäßige Ausbeutung – geändert werden. Es muss darum gehen, so Jonas, dass der Mensch sich wieder als ein Teil der Natur versteht. Doch wie ist das möglich?

Jonas ist es wichtig, die Evolutionstheorie in sein philosophisches Nachdenken einzubeziehen, ist es doch Aufgabe der Philosophie alles zu bedenken, was sich dem Denken zeigt. Die Kluft zwischen Mensch und Natur, aber auch geistigen Fähigkeiten und physischen Prozessen könne so überwunden werden, insofern hier eine vertiefte Sichtweise unserer mentalen Lebensäußerungen möglich werde. Die Frage danach, was Mensch und Natur sind, lasse sich mit der Evolutionstheorie besser verstehen als ohne sie. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen könnten so differenzierter betrachtet werden.

Dank molekulargenetischer Untersuchungen wissen wir heute, dass wir über 98 Prozent unserer genetischen Anlagen mit den Schimpansen gemeinsam haben. Damit ist der genetische Abstand zwischen Mensch und Schimpanse sogar geringer als zwischen eng verwandten Vogelarten wie den Laubsängerarten Fitis und Zilpzalp.50 Die Verwandtschaft zwischen Menschen, Schimpansen und Bonobos gilt sogar als enger als die zwischen Schimpansen und Gorillas.51 (Dass sich unsere Gene in etwa einem Prozent der Bausteine der DNS von denen der Schimpansen unterscheiden, klingt zunächst wenig, aber es handelt sich hier immerhin um dreißig Millionen Nukleotide.52) Ansätze einer eigenen Sprache finden sich bei Grünen Meerkatzen, altruistisches Verhalten bei Angehörigen der Familie der Blattnasen, Genozid wurde bei Wölfen und Schimpansen nachgewiesen, Vergewaltigungen wurden bei Enten und Orang-Utans, organisierte Kriegsführung und Sklaverei bei Ameisen beobachtet53 – und jedes Huhn geht auf zwei Beinen. Die Fähigkeit, kurzfristig vorausschauend zu handeln, haben auch höhere Tiere, wenn auch das vorausschauende Denken des Menschen weit darüber hinausgeht. Tiere nehmen wie wir sinnlich wahr, und ein Hund wird sich über ein lautes und unerwartetes Geräusch ebenso wie wir erschrecken. Tiere können wie wir an Hunger leiden, Schmerz empfinden, Lust, Unlust und ihren Sexualdrang verspüren. Uns sind allerdings keine Affen bekannt, die sich mit der Relativitätstheorie auseinandersetzen oder philosophische Abhandlungen verfassen. Keine Delfine, die Gedichte schreiben und keine Hunde, die Sinfonien komponieren. Der Vergleich mit den Tieren zeigt schnell, dass uns Menschen bestimmte Sinnesreize verschlossen bleiben und dass es denkbar ist, dass auch bestimmte Theorien und Begriffe für Menschen kognitiv verschlossen bleiben. „Daß der Mensch am Animalischen teilhat, ja physisch zum Tierreich gehört,“ so Jonas, „wurde nicht erst durch die Darwinsche Abstammungslehre dem Denken aufgedrängt, sondern war schon Aristoteles so geläufig wie Linné und versteht sich aus seiner Anatomie von selbst. […] Diese Anerkennung des Gemeinsamen hat nie gehindert, den Menschen zugleich von aller bloßen Tierheit zu unterscheiden, also ein Transanimalisches in ihm wahrzunehmen.“54

Heidegger hat bekanntlich die Ansicht vertreten, zwischen Mensch und Tier liege ein Abgrund, der durch nichts und niemanden überbrückt werden könne.55 Aber ist es nicht möglich, sich bis zu einem gewissen Grad in ein Tier einzuempfinden, zum Beispiel dann, wenn es verletzt ist und Schmerzen empfindet? Verwandtschaft, so das Argument von Jonas, ist eine zweiseitige Angelegenheit. Sind wir mit den Tieren verwandt, stehen diese auch in verwandtschaftlichen Beziehungen zu uns. Das, was lebt und sich regt, verfügt so Jonas, über irgendeine Form qualifizierten Erlebens. „Ist der Mensch mit den Tieren verwandt, dann sind auch die Tiere mit dem Menschen verwandt und dann in Graden Träger jener Innerlichkeit, deren sich der Mensch, der fortgeschrittenste ihrer Gattung, in sich selbst bewußt ist. […] Das Prinzip qualitativer Kontinuität, das unendlich viele Abstufungen von Dunkelheit und Klarheit der ‚Perzeption‘ zuläßt, ist durch den Evolutionismus ein logisches Komplement zur wissenschaftlichen Genealogie des Lebens geworden. An welchem Punkte dann in der enormen Spanne dieser Reihe läßt sich mit gutem Grund ein Strich ziehen, mit einem ‚Null‘ an Innerlichkeit auf der uns abgekehrten Seite und dem beginnenden ‚Eins‘ auf der uns zugekehrten? Wo anders als am Anfang des Lebens kann der Anfang der Innerlichkeit angesetzt werden? Wenn aber Innerlichkeit koextensiv mit dem Leben ist, dann kann eine rein mechanistische Interpretation des Lebens, d.h. eine Interpretation in bloßen Begriffen der Äußerlichkeit, nicht genügen.“56

Die Entwicklung des Lebendigen kann mit Jonas als Entwicklung komplexer Strukturen aus einfachen Vorstufen verstanden werden. Leibliches und mentales Leben haben eine gemeinsame Entwicklungsgeschichte hinter sich. Das eine hat sich nicht ohne das andere entwickelt. Jonas nimmt für die aus dem Urknall entstandene Materie bereits eine Begabung für Innerlichkeit an. Materie ist von Anfang an ge- und durchformte Materie: Einheit von Stoff und Form. „Schon der im Urknall sich bildenden Materie muss die Möglichkeit zu Subjektivität beigewohnt haben – Innendimension in Latenz, die auf ihre kosmisch-äußere Gelegenheit zum Manifestwerden wartete.“57 Dass etwas eine Begabung zu Innerlichkeit hat, ist freilich noch nicht dasselbe wie tatsächlich mit Innerlichkeit begabt zu sein. Es geht Jonas darum, dass Innerlichkeit an der Materie im Bereich des Möglichen war. Die „Ausdehnung aktueller Innerlichkeit ins Vororganische und Allereinfachste, ihre Kongruenz also mit Stofflichkeit überhaupt, scheint mir überkühn und ungedeckt durch irgendein Datum unserer Erfahrung, die uns Spuren von Subjektivität erst in den hochgradigen Zusammensetzungen von Organismen entdecken bzw. ahnen lässt.“58 Das geistig-mentale Leben des Menschen ist nach Jonas dem Organischen verhaftet. Das Organische ist notwendig für das geistig-mentale Leben des Menschen, so wie wir es kennen.

„Erkenne dich selbst!“ So lautete die viel zitierte Inschrift auf dem Apollon-Tempel in Delphi. Und es war der griechische Philosoph Sokrates, der seine Mitbürger immer wieder aufforderte, über sich selbst nachzudenken. Hans Jonas könnte man so verstehen, dass er uns auffordert, uns selbst zu erkennen, um unsere Mitgeschöpfe und die Natur zu erkennen. Und das bedeutet: Um Andere und Anderes anzuerkennen, muss ich mich selbst erkennen. Aber auch im Anderen vermag ich mich selbst zu erkennen.

Ausprägungen von Subjektivität, die, so der Gedanke von Jonas, an Organismen geradezu die Bedingung ihrer Möglichkeit scheinen, müssten in verschiedenen Helligkeitsstufen – auch über die neuronale Fundierung hinaus – im ganzen Reich des Lebendigen vermutet werden.59 Eine verwandtschaftliche Beziehung zwischen Mensch und Tier besteht also demnach gerade auch qua der Begabung inneren Erlebens. Der wissenschaftlichen Außenperspektive bleibt unzugänglich, wie sich für mich, andere Menschen wie auch Fledermäuse etwas qualitativ anfühlt.

Organische Vollzüge können heute sehr gut untersucht, kontrolliert und technisch gesteuert werden. Leiblichkeit und Lebendigkeit bekommt man dadurch aber noch nicht in den Griff. Erfahrungen, die wir buchstäblich am eigenen Leib machen, rufen uns unsere Hinfälligkeit, unsere Bedingtheit und Grenzen, aber auch unsere Begabung, frei zu sein, vor Augen. Denn auch daran können uns unsere Körperflüssigkeiten, unsere Ausscheidungen, unser Stoffwechsel erinnern: Ein Stein, ein Planet, ein Buch und ein Computer verfügen über diese Begabungen nicht. Anders als diese sind bereits Einzeller empfindlich gegenüber Reizen und betreiben Metabolismus, also Stoffwechsel mit ihrer Umwelt. Sämtliche Lebensäußerungen (bewusste wie unbewusste) lassen sich so gesehen als Bekundung von Freiheit deuten, insofern im Metabolismus etwas begegnet, was es in der unbelebten Wirklichkeit nicht gibt.60

V. Verantwortung

Ich erwähnte bereits den Vorschlag von Jonas, Freiheit als roten Faden zu sehen, der sich durch das Reich des Lebendigen zieht, insofern schon Einzeller nicht unempfindlich gegenüber Reizen sind und Metabolismus betreiben, was Marmorsäulen, Berge oder Computer nicht können. Aus diesem „Freiheitskeim“ sind schließlich höher stehende Formen von Freiheit erwachsen. Es kennzeichnet den Menschen als animal rationale, die eigenen Handlungsziele hinterfragen und gegebenenfalls auch verabschieden zu können, was mal besser und mal schlechter gelingen mag. Zur menschlichen Freiheit gehört es, das eigene Leben zu gestalten, ihm eine Richtung zu geben. Ethik gibt es, da Menschen handeln können.

Bereits Aristoteles hatte Folgendes festgestellt: „Wo das Tun in unserer Gewalt ist, da ist es auch das Unterlassen.“61 Wir ziehen uns und andere Tag für Tag für das, was wir tun bzw. nicht tun, zur Verantwortung und gehen von der Richtigkeit dieser Annahme aus. Wir machen Personen für ihr Handeln haftbar. Erkundigen wir uns nach den Gründen für ein bestimmtes Handeln, schwingt dabei im Hintergrund die Überzeugung mit, dass wir uns auch anders verhalten können, als wir es de facto tun. Unsere Freiheit zeigt sich darin, dass wir uns auf andere Menschen einlassen können, Beziehungen knüpfen und pflegen können. Wirklich wachsen und gedeihen kann Freiheit nur im menschlichen Miteinander. Dreht sich alles nur um meine Freiheit, wird diese schnell verkümmern und eingehen. Zu unserem Freisein gehört es, verschiedene Wege einschlagen zu können. Hierzu stellen wir immer wieder (auch gemeinsam mit anderen) die entsprechenden Weichen. Unser Lebensweg ist keine determinierte Einbahnstraße ohne Abzweigungen in diese oder jene Richtung. Menschen können auf gegangene Wegstrecken zurückschauen und auch ganz neue Pfade einschlagen, einen neuen Anfang machen. Menschen sind Wesen des Anfangs, wie Hannah Arendt schreibt.62

Wir reagieren nicht nur auf Reize, sondern können Gründe für unsere Handlungen geltend machen. So betont in aktuellen Debatten etwa Jürgen Habermas, dass Gründe für unser Handeln nicht mit (experimentell beobachtbaren) physischen Gegebenheiten vertauscht werden dürfen.63 Wenn es uns um Gründe geht, dann, so Habermas, meinen wir etwas anderes. Es sei seiner Ansicht nach grob fahrlässig, Gründe auf die „Rolle nachträglich rationalisierbarer, bloß mitlaufender Kommentare zu unbewusstem, neurologisch erklärbarem Verhalten“64 zusammenzuschrumpfen: „Gründe schwimmen nicht wie Fettaugen auf der Suppe des bewussten Lebens. Vielmehr sind die Prozesse des Urteilens und Handelns für die beteiligten Subjekte selbst mit Gründen verknüpft. Wenn das ‚Geben und Nehmen von Gründen’ als Epiphänomen abgetan werden müsste, bliebe von den biologischen Funktionen des Selbstverständnisses sprach- und handlungsfähiger Subjekte nicht mehr viel übrig.“65

Nicht das Gehirn, sondern wir übernehmen Verantwortung für das, was wir tun oder auch nicht tun. Dass Sie und ich Gründe geltend machen können, verbindet uns mit anderen Menschen. „Vielleicht“, so Jonas, „können wir nicht ganz vermeiden, so oder ähnlich zu handeln. Aber wenn das der Fall ist, dann müssen wir äußerste Achtsamkeit aufwenden, dies in Fairneß zu unserer Nachkommenschaft zu tun – nämlich so, daß deren Chance, mit jener Hypothek fertig zu werden, nicht im voraus kompromittiert worden ist. Der springende Punkt hier ist, daß das Eindringen ferner, zukünftiger und globaler Dimensionen in unsere alltäglichen, weltlich-praktischen Entscheidungen ein ethisches Novum ist, das die Technik uns aufgeladen hat; und die ethische Kategorie, die vorzüglich durch diese neue Tatsache auf den Plan gerufen wird, heißt: Verantwortung.“66 Jared Diamond zeigt in seinem Buch Kollaps am Beispiel der Osterinseln sehr schön, dass es langfristige Schädigungen der Natur schon in vormoderner Zeit gegeben hat.67 Doch innerhalb von Sekunden das gesamte Leben auf dem Planeten auslöschen oder für immer gravierend verändern zu können, ist eine bisher nicht dagewesene Bedrohung. Ethik hat daher das sittlich-tugendhafte Leben des Menschen wie das Überleben der gesamten Menschheitsfamilie in den Fokus zu rücken.

Zu beachten ist, dass unsere Handlungen Menschen betreffen können, die dazu nicht Stellung beziehen können: z. B. weil sie dazu etwa aufgrund einer schweren Behinderung nicht in der Lage sind oder noch gar nicht geboren sind. Verantwortung bedeutet in dem Zusammenhang, dass über Menschen, die nicht an einem Diskurs teilnehmen können, eben nicht beliebig disponiert werden darf. Jonas macht darauf aufmerksam, dass dies gerade Menschen betrifft, die noch gar nicht geboren wurden. „Jeder Handelnde“, so Robert Spaemann, der ganz ähnlich argumentiert, „kann nur insoweit handeln, als andere zuvor ihm nicht seinen Handlungsspielraum durch exzessive Ausdehnung des ihren genommen haben. Ohne dass sich jede Generation als Glied in einer solidarischen Gemeinschaft der Generationen betrachtet – mit Schuldigkeiten nach hinten und nach vorn –, gibt es gar kein menschliches Leben auf der Erde.“68

Verantwortung beruht nicht auf einem Verhältnis der Gegenseitigkeit, ist ein „nicht-reziprokes Verhältnis“69, weshalb Jonas auch das Kind als „Urgegenstand der Verantwortung“70 bezeichnet. Wenn Eltern sich um ihre Kinder kümmern, ist ihre Frage auch nicht, was sie dafür einmal zu erwarten haben, wie ihnen gedankt, ihre Mühe und Fürsorge vergolten wird. Das leibliche Antlitz eines Kindes sei sprechend, rufe zur Verantwortung: „Sieh hin und du weißt.“71

Nach Jonas bezieht sich die Verantwortung des Menschen jedoch nicht nur auf den Mitmenschen und kommende Generationen, sondern – um des Menschen willen – auch auf nichtmenschliche Lebewesen und die Natur als Ganze. Die Verletzlichkeit anderer Lebewesen verweist auf ihre Schutzbedürftigkeit.72 „Soziologen sprechen davon, dass wir die Zukunft ‚diskontieren’ oder geringer bewerten als die Gegenwart: Deshalb stecken wir einen kurzfristigen Gewinn ein, auch wenn er uns langfristig teuer zu stehen kommt.“73 Ethik muss es aber um die Zukunft gehen. Unsere Handlungen sollten, so Jonas, mit der Permanenz echten menschlichen Lebens verträglich sein.74 Es muss uns um das gehen, was unserem Machen und Tun, Denken und Forschen vorausliegt und Leben und Freiheit ermöglicht: die Natur.75 Die Frage nach der außermenschlichen Natur wie auch die Auseinandersetzung mit den biologischen Aspekten der eigenen menschlichen Natur kann daher als „dringendes Desiderat unserer Kultur“76 bezeichnet werden. Den Menschen zeichnet es aus, Verantwortung übernehmen zu können. „Indem der Mensch als das einzige uns bekannte Wesen Verantwortung haben kann, hat er sie auch. Eine einfache Intuition ergibt, daß das Vorhandensein von Verantwortung besser ist als deren völliges Fehlen. Es ist ein Gewinn am Bestand der Welt. Damit wird es zur Pflicht der Verantwortung, daß es auch künftig weiterhin Verantwortung gibt. Das ist nur möglich, wenn die Wesen, die Verantwortung haben können, weiter existieren.“77 Jonas argumentiert, die Welt sei kein wertloser Ort. Es gebe mindestens den einen Wert: Dasein von Verantwortung. Und dies sei besser als ihr Nichtsein.78 Jonas spricht in diesem Zusammenhang immer wieder auch von einer Heuristik der Furcht: „Vielleicht ist der Mensch ohne ernsthafte Warnschüsse und schon sehr schmerzhafte Reaktionen der gepeinigten Natur nicht zur Vernunft zu bringen.“79 Möglicherweise könne es der Furcht gelingen, das zu erreichen, was die Vernunft nicht erreicht hat. Katastrophen könnten nach Jonas also eine gewisse pädagogische Funktion ausüben,80 die vorausgedachte Gefahr also als „Kompaß“.81

Verantwortung wahrzunehmen heißt für Jonas auch, auf Gefahren hinzuweisen. So war er einer der Ersten, die Bedenken gegen die Hirntod-Definition erhoben. Im schillernden Jahr 1968 hatte eine Sonderkommission der Harvard Medical School erklärt, Patienten im Coma depassé seien keine Patienten mehr, sondern Tote.82 Der Ausfall eines Teils von uns sollte dasselbe sein, wie der Tod des ganzen Menschen. Gleichwohl weisen diese Menschen noch eine Reihe von Lebensäußerungen auf: von Stoffwechsel über Wundheilung bis hin zur Fähigkeit, ein Kind zu zeugen bzw. auszutragen. Nach Jonas ging es darum, „dass man diesen irreversiblen komatösen Patienten ihre Organe in gleichsam lebensfrischem Zustand entnehmen konnte“83. Der cartesische und physikalistische Gedanke der Maschinenebenbildlichkeit, wonach alte und defekte Teile der „Menschmaschine“ ausrangiert und bestenfalls durch funktionstüchtige andere ausgetauscht werden können, zeigt sich hier als besonders wirkmächtig. „Einen Menschen, dem das Blut noch warm durch die Adern rinnt, für tot zu erklären, blieb [jedoch] unserem fortschrittlichen Zeitalter vorbehalten.“84 Erwähnt werden sollte, dass im Jahre 2008 – also 40 Jahre nach der Umdefinition, ab wann jemand kein Lebender, sondern ein Toter ist – einige Wissenschaftler der Harvard Medical School klarstellten, dass Hirntote nicht tot sind. Gleichwohl sei das kein Grund, auf eine Organentnahme zu verzichten. Vom „gerechtfertigten Töten“ („justified killing“) war in diesem Zusammenhang die Rede. Die Hirntoddiagnose muss heute aus naturwissenschaftlichen und philosophischen Gründen als äußerst fragwürdig angesehen werden.85 Es gibt, so Jonas, „kein absoluteres Recht […] als das eines Menschen auf seinen Körper und […] niemand [hat] das Recht auf ein Organ eines anderen Menschen“.86

Jonas‘ Zugang zu bioethisch relevanten Themenbereichen insgesamt erfolgt pluriperspektivisch: Neben Philosophie und Naturwissenschaften sollten auch die Stimmen von Religion, Politik, Erziehung und Öffentlichkeit Gehör finden, um Antworten auf aktuelle Lebensfragen zu finden. Ein neues Denken von Natur ist für ihn die Grundlage für eine Ethik im technologischen Zeitalter. „In Zukunft“, so Jonas in seiner Friedenspreisrede, müssten wir wohl alle „im Schatten drohender Kalamität leben. Sich des Schattens bewußt sein aber, wie wir es jetzt eben werden, wird zum paradoxen Lichtblick der Hoffnung: Er läßt die Stimme der Verantwortung nicht verstummen. Dies Licht leuchtet nicht wie das der Utopie, aber seine Warnung erhellt unseren Weg – zusammen mit dem Glauben an Freiheit und Vernunft. So kommt am Ende doch das Prinzip Verantwortung mit dem Prinzip Hoffnung zusammen – nicht mehr die überschwängliche Hoffnung auf ein irdisches Paradies, aber die bescheidenere auf eine Weiterwohnlichkeit der Welt und ein menschenwürdiges Fortleben unserer Gattung auf dem ihr anvertrauten, gewiß nicht armseligen, aber doch beschränkten Erbe. Auf diese Karte möchte ich setzen.“87

Referenzen

  1. Vittorio Hösle stellt ganz passend fest: „Es besteht eine gewisse Ironie darin, daß ein Denker, der stets zurückschreckte vor modischen Ansprüchen auf Originalität, ein Denker, der es vorzog, statt derjenigen, die zufällig im Kulturbetrieb unserer Zeit die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die Klassiker zu studieren und zu zitieren, gerade wegen dieser Einstellung die Kraft gewann, wirklich originell zu sein, das heißt, sich von einigen der am tiefsten verwurzelten Vorurteilen der Moderne zu befreien.“ Hösle V., Ontologie und Ethik bei Hans Jonas, in: Böhler D. (Hrsg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München (1994), S. 105-125, hier S. 105; Zu Hösles Würdigung des Jonas’schen Beitrags für die Philosophie des 20. Jahrhunderts: Hösle V., Hans Jonas‘ Stellung in der Geschichte der deutschen Philosophie, in: Wiese C., Jacobsen E. (Hrsg.), Weiterwohnlichkeit der Welt. Zur Aktualität von Hans Jonas, Berlin/ Wien (2003), S. 34-52
  2. Ganz herzlich habe ich Dr. Tobias Schulte (Paderborn/ Attendorn) für die kritische Durchsicht des Manuskriptes zu danken.
  3. vgl. Jonas  H., Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. (1987), S. 15
  4. vgl. ebd., S. 22
  5. ebd., S. 34
  6. ebd., S. 39
  7. ebd., S. 215
  8. Jonas H., Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a. M. (1984), S. 52
  9. Venter C., On the verge of creating synthetic life, www.ted.com/talks/craig_venter_is_on_the_verge_of_creating_synthetic_life (ab Minute 15:10, eingesehen am 11. Juni 2014).
  10. Venter J. C., Entschlüsselt. Mein Genom. Mein Leben, Frankfurt a. M. (2009), S. 538
  11. Jonas, H., siehe Ref. 8, S. 33
  12. vgl. Epping B., Leben vom Reißbrett – ein bisschen zumindest, in: Spektrum der Wissenschaft, Nov. 2008, S. 82-90, hier S. 86
  13. Jonas, H., siehe Ref. 3, S. 43
  14. ebd., S. 47
  15. Jonas H., Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur, Frankfurt a. M. (1993), S. 13
  16. Jonas H., siehe Ref. 8, S. 7
  17. In den Kapiteln II und III des vorliegenden Aufsatzes greife ich u. a. auch auf Überlegungen und wortwörtliche Formulierungen aus meiner Studie Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg (2012), insbes. S. 33-37 und S. 176-182 zurück.
  18. Jonas H., siehe Ref. 3, S. 98
  19. Jonas H., Gebhardt E., Naturwissenschaft versus Natur-Verantwortung, in: Böhler D. (Hrsg.), Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit Hans Jonas, München (1994), S. 197-212, hier S. 200
  20. Hösle V., Philosophie der ökologischen Krise. Moskauer Vorträge, München (1994), S. 55
  21. Fuchs T., Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart (2008), S. 19
  22. Im Hinblick auf seine Studienzeit bei Heidegger stellt Jonas fest, dass die Frage nach der eigenen Leiblichkeit als unserer Natur und der Natur als Ganzer nicht wirklich präsent war: „Natur aber – seltsam zu sagen – war in meinem Studiengang nicht vorgekommen. […] Bei Heidegger hörte man vom Dasein als Sorge – in geistiger Hinsicht, aber nichts vom ersten physischen Grund des Sorgenmüssens: unserer Leiblichkeit, durch die wir, selbst ein Stück Natur, bedürftig-verletzlich in die Umweltnatur verwoben sind – zuunterst durch den Stoffwechsel, die Bedingung alles weiteren […]. Aber von ihnen hörten wir nichts.“ Jonas H., Wissenschaft als persönliches Erlebnis, Göttingen (1987), S. 19 f.
  23. vgl. Jonas H., Philosophie. Rückschau und Vorschau am Ende des Jahrhunderts, Frankfurt a. M. (1993), S. 24
  24. Jonas H., Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a. M. (1997), S. 223 f.
  25. vgl. hierzu ebd., S. 37-39; Searle J., Die Wiederentdeckung des Geistes, Frankfurt a. M. (1996), S. 46; Kläden T., Mit Leib und Seele… Die mind-brain-Debate in der Philosophie des Geistes und die anima-forma-corporis-Lehre des Thomas von Aquin, Regensburg (2005), S. 311
  26. vgl. Dennett D., Süße Träume. Die Erforschung des Bewusstseins und der Schlaf der Philosophie, Frankfurt a. M. (2007), S. 18
  27. Jonas H., Erinnerungen, Frankfurt a. M. (2005), S. 315
  28. ebd., S. 315 f.
  29. Im Folgenden greife ich auf Ergebnisse meiner Studie Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg (2012), S. 176-182 zurück.
  30. Roth G., Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a. M. (1997), S. 293
  31. Dietrich R., Bewusstsein. Näherungslösungen für ein unlösbares Problem, in: Evangelische Aspekte 3 (2001), S. 4-11
  32. vgl. Edelman G. M., Das Licht des Geistes. Wie Bewusstsein entsteht, Düsseldorf/Zürich (2004), S. 89
  33. vgl. Searle J., Freiheit und Neurobiologie, Frankfurt a. M. (2004), S. 50; Jonas H., siehe Ref. 24, S. 223; Popper K., Eccles J. C., Das Ich und sein Gehirn, 8. Auflage, München/Zürich (2002), S. 101 ff.; Roth G., Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. (2003), S. 136; Zoglauer T., Geist und Gehirn. Das Leib-Seele-Problem in der aktuellen Diskussion, Göttingen (1998), S. 81-84
  34. Stein E., Einführung in die Philosophie, Freiburg (2004), S. 73 f.
  35. vgl. Jonas H., siehe Ref. 24, S. 224
  36. ebd., S. 224
  37. Jonas H., Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung, Frankfurt a. M. (1987), S. 62 f.; Zur Kritik von Hans Jonas am Epiphänomenalismus siehe auch: Seifert J., Das Leib-Seele-Problem und die gegenwärtige philosophische Diskussion. Eine systematisch-kritische Analyse, 2. Auflage, Darmstadt (1989), S. 82-110
  38. vgl. Jonas H., siehe Ref. 24, S. 222
  39. zit. nach: Jonas H., siehe Ref. 27, S. 325
  40. ebd., S. 326
  41. Jonas H., Lehrbriefe an Lore Jonas, in: Jonas H., Erinnerungen, Frankfurt a. M. (2005), S. 351
  42. ebd., S. 354
  43. ebd., S. 350
  44. ebd., S. 352
  45. Aristoteles, An. I 5, 411b8-10
  46. Jonas H., siehe Ref. 41, S. 353
  47. Jonas H., Materie, Geist und Schöpfung,. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, Frankfurt a. M. (1988), S. 15
  48. Jonas H., siehe Ref. 24, S. 149
  49. Jonas H., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a. M. (1992), S. 19
  50. Diamond J., Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen, Frankfurt a. M. (2006), S. 10
  51. vgl. Roth G., Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a. M. (2003), S. 49; hierzu auch Roth G., Wullimann M. F., Brain Evolution and Cognition, New York (2001)
  52. vgl. Gierer A., Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst. Wissenschaft und Menschenbild, Hamburg (1998), S. 126
  53. vgl. Diamond J., siehe Ref. 50, S. 219
  54. Jonas H., siehe Ref. 49, S. 34; Was Aristoteles als höhere Form mentaler Lebensäußerung versteht, wird von Darwin als evolutionär spätere Form dargelegt. Die Verwandtschaftsgrade, welche noch heute im 21. Jahrhundert für Zündstoff zwischen Fundamentalisten unterschiedlicher Religionen und Evolutionsbiologen sorgen, sind für Aristoteles jedenfalls gänzlich unproblematisch: Von einer Scala naturae zu sprechen, bedeutet von einer Verwandtschaft zwischen Tieren und Menschen auszugehen und den Menschen in einer lebendigen Umwelt eingebettet sein zu lassen. Jonas verteidigt die „Idee eines Stufenbaus, einer progressiven Auflagerung von Schichten, mit Abhängigkeit jeder höheren von den niedrigeren und Beibehaltung aller niedrigeren in den jeweils höchsten“. Jonas H., Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Göttingen (1973), S. 12
  55. vgl. Heidegger M., Humanismusbrief, in: Heidegger M., Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. (1975 ff.), S. 326
  56. Jonas H., siehe Ref. 49, S. 17
  57. Jonas H., Geist, Natur und Schöpfung. Kosmologischer Befund und kosmogonische Vermutung, in: Dürr H.-P., Zimmerli, W. C. (Hrsg.): Geist und Natur. Über den Widerspruch zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und philosophischer Welterfahrung, 2. Auflage, Bern/ München/ Wien (1989), S. 68
  58. ebd., S. 76
  59. vgl. Jonas H., siehe Ref. 47, S. 28
  60. vgl. Jonas H., siehe Ref. 41, S. 357; Jonas H., siehe Ref. 56, S. 12, 22
  61. Aristoteles, EN 1113b6
  62. vgl. Arendt H., Vita activa oder vom tätigen Leben, München/Zürich (2002), S. 17 f.
  63. vgl. Habermas J., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. (2005), S. 168; Habermas J., Das Sprachspiel verantwortlicher Urheberschaft. Probleme der Willensfreiheit, in: Janich P. (Hrsg.), Deutsches Jahrbuch für Philosophie. Band 1: Naturalismus und Menschenbild, Hamburg (2008), S. 15-29
  64. Habermas J., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005, S. 168
  65. ebd., S 168 f.
  66. Jonas H., siehe Ref. 3, S. 45 f.
  67. Diamond J., Kollaps: Warum Gesellschaften überleben oder untergehen, Frankfurt a. M. (2006), S. 103-153
  68. Spaemann R., Nach uns die Kernschmelze. Hybris im atomaren Zeitalter, Stuttgart (2011), S. 25
  69. Jonas H., siehe Ref. 8, S. 177
  70. ebd., S. 234
  71. ebd., S. 236
  72. „In den nächsten dreißig Jahren, so wird geschätzt, werden [die Menschen] das Aussterben von fünfundzwanzig Prozent aller heute noch lebenden Säugetierarten herbeigeführt und in fünfzig Jahren mit dem Fischfang neunzig Prozent aller heute noch in den Meeren schwimmenden großen Fische vertilgt haben.“ Flannery T., Auf Gedeih und Verderb. Die Erde und wir: Geschichte und Zukunft einer besonderen Beziehung, Frankfurt a. M. (2011), S. 21
  73. ebd. S. 244
  74. vgl. Jonas H., siehe Ref. 8, S. 36
  75. „[S]elbst wenn weiterhin die Pflicht zum Menschen als die absolute gilt, so schließt sie doch nun die zur Natur als der Bedingung seiner eigenen Fortdauer und als einem Element seiner eigenen existentiellen Vollständigkeit ein. Wir gehen darüber hinaus und sagen, daß die in der Gefahr neuentdeckte Schicksalsgemeinschaft von Mensch und Natur uns auch die selbsteigene Würde der Natur wiederentdecken läßt und uns über das Utilitaristische hinaus ihre Integrität bewahren heißt.“ ebd., S. 246
  76. Hösle V., Aufgaben der Naturphilosophie heute, in: Hösle V., Koslowski P., Schenk R. (Hrsg.), Die Aufgaben der Philosophie heute, Wien (1999), S. 44
  77. Jonas H., siehe Ref. 15, S. 44
  78. vgl. ebd., S. 45
  79. ebd., S. 11
  80. Dass dies nicht immer so sein muss, zeigt, dass in Japan nach dem Unglück von Fukushima weitere Atomkraftwerke in Betrieb genommen wurden, während in der deutschen Politik bekanntlich ein Umdenken eingesetzt hat.
  81. „In ihrem Wetterleuchten aus der Zukunft, im Vorschein ihres planetarischen Umfanges und ihres humanen Tiefganges, werden allererst die ethischen Prinzipien entdeckbar, aus denen sich die neuen Pflichten neuer Macht herleiten lassen.“ Jonas H., siehe Ref. 8, S. 7
  82. Zeitnah geben die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (Kommission für Reanimation und Organtransplantation der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie 1968) und andere Fachgesellschaften in Deutschland vergleichbare Stellungnahmen und Beurteilungen heraus. Hierzu: Wiesemann C., Notwendigkeit und Kontingenz. Zur Geschichte der ersten Hirntod-Definition der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie von 1968, in: Schlich T., Wiesemann C. (Hrsg.), Hirntod. Zur Kulturgeschichte der Todesfeststellung, Frankfurt a. M. (2001). S. 209-235
  83. Jonas H., siehe Ref. 27, S. 317
  84. Hoff J., In der Schmitten J., Kritik der „Hirntod“-Konzeption. Plädoyer für ein menschenwürdiges Todeskriterium, in: Hoff J., In der Schmitten J. (Hrsg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und „Hirntod“-Kriterium, Reinbek bei Hamburg (1994), S. 154
  85. Hierzu: Knaup M., Leib und Seele oder mind and brain? Zu einem Paradigmenwechsel im Menschenbild der Moderne, Freiburg (2012), S. 462-480
  86. Jonas H., siehe Ref. 27, S. 317; „Der Patient muss unbedingt sicher sein, dass sein Arzt nicht sein Henker wird und keine Definition ihn ermächtigt, es je zu werden. Sein Recht zu dieser Sicherheit ist unbedingt; und ebenso unbedingt ist sein Recht auf seinen eigenen Leib mit allen seinen Organen. Unbedingte Achtung dieses Rechts verletzt keines anderen Recht. Denn niemand hat ein Recht auf eines anderen Leib. – Um noch in einem anderen, religiösen Geist zu sprechen: Das Verscheiden eines Menschen sollte von Pietät umhegt und vor Ausbeutung geschützt sein.“ Jonas H., siehe Ref. 3 S. 223
  87. Jonas H., siehe Ref. 15, S. 102

Anschrift des Autors:

Dr. phil. Dipl. theol. Marcus Knaup
FernUniversität in Hagen
Institut für Philosophie
Lehrgebiet für Philosophie II
Universitätsstraße 33, D-58084 Hagen
Marcus.Knaup(at)fernuni-hagen.de

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Anthropologie und Bioethik
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