Die Wandlung der Perspektive des Lebens durch Schmerz

Imago Hominis (2014); 21(3): 279-286
Johannes Bonelli, Susanne Kummer

Zusammenfassung

Rein biologisch gesehen ist der Schmerz ein sinnvolles und nützliches Warnsignal. Schmerz und Leid stehen für den Betroffenen aber auch für Negativität, die Erfahrung des „Nicht-Sein-Sollenden“. Sie werfen ihn zurück auf die Kontingenz des menschlichen Lebens, lassen eine Weise des Ausgeliefertseins und der eigenen Grenzen erleben. Im medizinischen Alltag lässt sich beobachten, dass die Erfahrung von Krankheit und Leid eine Chance im Leben ist, sich umzuorientieren. Wo der Betroffene offen ist, stellt er sich bedingt durch die neuen Lebensumstände den wesentlichen Fragen des Daseins, der Wahrheit über sich selbst und des Sinn des Lebens. Kranke Menschen brauchen Mitgefühl, Hilfsbereitschaft und Solidarität. Die Qualität des Umgangs mit dem Leidenden ist Barometer für Werthaltungen und gelebte Menschlichkeit in einer Gesellschaft.

Schlüsselwörter: Schmerz, Leid, Solidarität, Sinn des Leidens, Selbsterkenntnis, Mitleid

Abstract

In a purely biological sense, pain is a meaningful and useful warning signal. Its negative aspect is the experience of something that “should-not-be”, confronting one with the contingency of life and one’s own physical limitations. However, sickness and suffering have been observed in everyday medical practise to serve as opportunities for patients to change the orientation of their lives, encouraging an open-minded consideration of the fundamental questions of existence, truth and the meaning of life. Sick people need compassion, assistance and solidarity. The way in which those who are suffering are treated by others is a barometer of the values and the humanity in a society.

Keywords: pain, suffering, solidarity, meaning of suffering, self-knowledge, compassion


Einleitung

Kein Arzt hätte je seinen Beruf gewählt, wenn er nicht davon überzeugt wäre, dass alles getan werden muss, um den Kranken von Schmerz und Leid – soweit möglich – gänzlich zu befreien. Gleichzeitig müssen wir uns, auch wenn es schwer fällt, eingestehen, dass die Medizin nur transitorische Erfolge kennt: „…Medizin ist die Disziplin lebensbejahenden Scheiterns. Der Macht und Ohnmacht der Ärzte ist die grundsätzliche Begrenztheit der menschlichen Existenz zu- und vorgeordnet.“1 Für den Arzt selbst ist es mitunter schwierig, sich die Grenze seiner Kunst einzugestehen. Nicht nur der Patient, auch der professionell im Gesundheitsbereich Tätige steht früher oder später vor der Frage: Kann es so etwas wie einen Sinn nicht nur trotz, sondern in Krankheit geben? Kann Leiden trotz alledem auch gut sein für etwas oder für jemanden? Oder gilt der Spruch: „Gesundheit ist alles, und ohne Gesundheit ist alles nichts“?

Ein Blick auf die Definition Gesundheit durch die Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 1947 gibt keinen Hinweis dafür, wie man mit dem Fehlen von Gesundheit umgehen soll. Dort heißt es: „Gesundheit ist der Zustand vollständigen physischen, sozialen und psychischen Wohlbefindens und nicht allein das Freisein von Krankheit und Behinderung“.2 Freilich, die Definition hat die personale, ganzheitliche, und nicht bloß biologische Dimension des Menschen ins Konzept mithereingeholt. Zugleich birgt sie aber auch die Gefahr der Überhöhung, löst einen Erwartungsdruck aus, dem kein System und kein Mensch gerecht werden kann.

Die Erfahrung im medizinischen Alltag zeigt, dass ein Leben in Krankheit von den meisten Patienten kaum je als gänzlich sinnlos empfunden wird. Natürlich ist ein Leben in Gesundheit das angenehmere, unkompliziertere Leben, damit ist aber nicht automatisch schon ein glückliches Leben garantiert. Ärzte erleben fast ausnahmslos Kranke, die trotz schwerer körperlicher Gebrechen dennoch ihr Dasein bejahen und auch einen Sinn in ihrem Leben sehen bzw. gefunden haben. Wir kennen viele Patienten, von denen man mit Recht sagen kann: Sie leben ihr Leben sinnvoller und reichhaltiger als so manch anderer in strotzender Gesundheit.

Somatische Bestimmung und individuelle Integration des Schmerzes

Vom rein biologischen Standpunkt aus ist der Schmerz ein höchst sinnvolles und nützliches Warnsignal, durch das ein Lebewesen von schädlichen Reizen geschützt wird. Schmerzen und andere Krankheitssymptome zeigen an, dass etwas im Organismus nicht in Ordnung, ja, dass das Leben des Menschen in Gefahr ist. Wer von uns ginge freiwillig zum Arzt, wenn er nicht unter seiner Krankheit leiden oder gar nichts von ihr merken würde. Insofern stehen also Schmerz und Leid im Dienste des Lebens und nicht gegen das Leben.

Nun ist aber der Schmerz kein isoliertes, rein biologisches Phänomen sondern er berührt auch das geistig-seelische Leben.3 Wenn von Schmerz im engeren Sinn die Rede ist, so denkt man zunächst an das rein anatomisch-physiologische Substrat. Hingegen berücksichtigt der Begriff des Leidens auch die leib-seelische Verfasstheit des Menschen und wird daher dem Wesen der Schmerzempfindung besser gerecht. Denn gerade diese Verknüpfung mit der Psyche des Menschen, d. h. mit seiner Erkenntnis und Erlebnisfähigkeit bewirkt, dass physische Schmerzen individuell sehr unterschiedlich empfunden werden und manchmal eine Potenzierung bis zur Unerträglichkeit erfahren, die den Patienten in schwere Depressionen, ja in Verzweiflung stürzen, ihn aber auf der anderen Seite auch zu einer ungeahnten Höhe menschlicher Größe führen kann. Aus ärztlicher Erfahrung weiß man, dass Schmerz und Leid mit rein technokratischen oder medikamentösen Mitteln alleine häufig nicht adäquat beizukommen ist. Auch wenn in der Schmertherapie in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt worden sind, steht man immer wieder vor dem Phänomen, dass Schmerzen auch durch heroische Maßnahmen – wie z. B. Rückenmarksoperationen, stereotaktische Operationen im Gehirn, hohe Morphindosen – nicht komplett aufhebbar sind, dass aber die zwischenmenschliche Beziehung – einfühlsame Worte und liebevolle Zuwendung – wesentlich sind, um Schmerzen zu lindern.4 Bereits von alters her wurde dies als eine zentrale Aufgabe des Arztes betrachtet, zusammengefasst, etwa im französischen Sprichwort aus dem 16. Jahrhundert, das lautet: „Heilen – manchmal, lindern – oft, trösten – immer“.

Die Intensität der Schmerzempfindung hängt – wie man heute weiß – von Faktoren ab, die weit über das Biologische hinausgehen. Sie hängt vor allem auch davon ab, in welchem Ausmaß der Schmerz für den einzelnen als ein Phänomen empfunden wird, das der menschlichen Natur in einer gewissen Weise inhärent ist, oder aber als eine unakzeptable existentielle Bedrohung. Kulturelle und ethnische Faktoren beeinflussen dabei erheblich das Schmerzempfinden.5 Ganz allgemein hat man den Eindruck, dass die Menschen unserer heutigen Kultur, im Unterschied zu früheren Zeiten, Schmerz bzw. Leid besonders sensibel und intensiv erleben.6

Einstellung zu Schmerz und Leid

Für den Arzt ist abgesehen von einer kompetenten Schmerztherapie notwendig, auch über die Einstellung des heutigen Menschen zu Schmerz und Leid sowie über deren Sinn nachzudenken.

Wir leben in einer Zeit, in der das Heil des Menschen in erster Linie vom wissenschaftlichen Fortschritt erwartet wird. Schon beginnt man sich die Zukunft ohne Krankheit und Tod auszumalen.7 Das „schmerzfreie Krankenhaus“ bis zur „schmerzfreien Stadt“ werden als medizin-technisch erreichbare Idealzustände propagiert. Der Arzt soll dem Patienten das „Rezept seines Lebens“ verschreiben. Man will bedingungslos gesund werden. Krankheit ist ein Ärgernis, ein Widerspruch zum Kult der Gesundheit, der Jugend, des Vergnügens und der Leistung. Diese Phänomene sind seit langem beschrieben worden,8 werden aber nun im Zuge der Kritik an der zunehmenden Vermarktung und Ökonomisierung der Medizin und der Überbewertung der Machbarkeit rezipiert.9 Für den Medizinethiker Giovanni Maio ist das neuzeitliche Selbstverständnis der Medizin an einem Punkt angelangt, keine Grenze, keine Unverfügbarkeit zuzulassen, alles planbar machen zu wollen. Diese Medizin habe aber „…als Ideal nicht das menschliche Leben im Blick, sondern die perfekt einstellbare Maschine…“, so Maios Kritik.10

Ärzte, Forscher und Pflegepersonal wie fast das gesamte Gesundheitssystem sind geneigt, in dieser Situation ganz auf die Macht der Technik zu setzen. Der leidende Mensch wird einer Reihe fortschrittlicher und sehr exakter Untersuchungen unterzogen und zwar in höchst automatisierten Krankenhäusern, die alle nur erdenklichen technischen Möglichkeiten zu Diagnostik und Therapie bieten. Es besteht allerdings die Gefahr, dass der Kranke in diesem System mehr als Klient erscheint, für den eine möglichst effiziente Leistung erbracht werden muss.

Auch der Patient selbst unterliegt zunehmend dieser technischen Mentalität. Man kommt ins Krankenhaus fast wie zum Autoservice: Möglichst schnell muss alles geschehen, möglichst viel auf einmal, die „komplette Durchuntersuchung“ wird verlangt. Es soll alles „wie geschmiert“, also reibungslos gehen. Zeit zum Kranksein ist nicht eingeplant. Man ist unabkömmlich, der Urlaub ist geplant. Oder man geht zum Hausarzt, gewappnet mit einschlägiger Literatur aus dem Internet und der Boulevardpresse, und ordnet selbst an, was zu geschehen hat – wie im Selbstbedienungsladen. Eine Hausärztin berichtet von einem Patienten, der folgendes gesagt hat: „Frau Doktor, schließen Sie mich an eine Maschine an, mit der ich mehr essen kann und das Rauchen besser vertrage!“11

In den westlichen Zivilisationen wird suggeriert, dass der Sinn des Lebens vor allem in der Fähigkeit des maximalen Konsumgenusses zu bestehen hat. Schmerz und Leid stellen dann ein unüberwindliches Hindernis für ein sinnvolles Dasein dar. Die kulturelle und individuelle Kompetenz im (Er-)Tragen von Leid oder Schmerz nimmt unter diesen Vorzeichen ab.

Schmerz und Leid im medizinischen Alltag

Nun sieht der medizinische Alltag freilich anders aus. Denn die Krankheit trifft den ganzen Menschen immer mitten hinein in seine unmittelbaren Lebensumstände; ja, sie zwingt ihn geradezu, seine Lebensweise neu zu ordnen und zu überdenken. Die Arbeit muss unterbrochen, der Arzt aufgesucht werden, das Bett muss gehütet, Medikamente müssen eingenommen, Diäten eingehalten werden, ein Krankenhausaufenthalt wird notwendig, eine Operation steht bevor, ein Testament muss gemacht werden, Besitzverhältnisse müssen geklärt, Wünsche und Hoffnungen ausgesprochen werden, usw. All dies führt zu Neubesinnung, Bestandaufnahme, Kurskorrekturen, ja zu eingreifenden Veränderungen der Umstände, die bei vielen Patienten oft das ganze restliche Leben prägen. Und keinesfalls bedeutet dies immer auch eine grundsätzliche Verschlechterung der Lebenssituation. Alleine die Tatsache, dass der Patient ans Bett gebunden ist und aus den Fesseln der alltäglichen Hektik herausgerissen wird, gibt ihm Zeit, über sich und so manch andere Dinge nachzudenken, wozu er oder sie sonst vielleicht kaum je gekommen wäre. Immer wieder formulieren die Patienten es selbst, wenn sie sagen: „Die Krankheit ist gut und wichtig für mich; sie war notwendig und sinnvoll, denn mein Leben war in Gefahr, in falsche Bahnen abzugleiten.“

Eine durch Krankheit herausfordernde neue Lebenssituation kann neue Perspektiven für die Lebensgestaltung eröffnen: Die meisten Menschen entdecken Ziele und Werte in dieser Welt, die weit ab vom reinen Konsumgenuss ihr Leben auch bei schwerer Krankheit noch sinnvoll erscheinen lassen. Ein in Berufs- oder Privatleben verwirklichter Perfektionismus wird korrigiert und das Leben fortan nicht mehr nach Leistungs- oder Erfolgskriterien beurteilt. „Dass solche Umorientierung während einer Krankheit gelingen kann, dazu bedarf es verschiedener Faktoren, wie der grundsätzlichen Bereitschaft, die Zeit der Krankheit nicht als ‚Totalausfall‘ zu betrachten und eigene Grenzen zu akzeptieren. Jedoch benötigt nicht nur der Erkrankte eine Offenheit gegenüber dem, was das Leben auch an Einschränkungen physischer Art mit sich bringt.“12

Dieser Sinn einer Krankheit kann allerdings weder verordnet, noch von außen aufgezeigt werden, er wird allein vom Kranken selbst entdeckt, als einzigartiges, individuelles, ja ganz persönliches Ereignis. Im Blick auf Krankheit und Behinderung im Alter stellte der Theologe Romano Guardini (1885 – 1968) fest: „Was helfen aber alle Gerontologie der Medizin und alle Fürsorge der Sozialpflege, wenn nicht zugleich der alte Mensch selbst zum Bewusstsein seines Sinnes gelangt?“13

Wenn der Mensch leidet, so ist dies wohl primär ein passives, schicksalhaftes Geschehen. Aber im Gegensatz zum Tier ist der Mensch in der Lage, zu seiner Krankheit Stellung zu nehmen und sie einem Sinn zuzuordnen, so dass die Krankheit aus der rein passiven Dimension zu einer ganz persönlichen Tat werden kann. Der Psychiater Viktor Frankl spricht in diesem Zusammenhang von der „Trotzmacht des Geistes“,14 Johannes Paul II. von der „Wirkmacht der menschlichen Person“.15 Beim Krankheitsgeschehen, aber auch beim Schmerz, kommt es wesentlich darauf an, was ein Patient daraus macht. Natürlich kann es sein, dass ein Patient mit Auflehnung, ja Verzweiflung, reagiert. Ärzte, Krankenpfleger und Angehörige sind dann aufgerufen, den Patienten in brüderlicher Anteilnahme zu begleiten. Viel öfters hingegen erleben Ärzte und das Pflegepersonal mit großem Respekt und Bewunderung Patienten, die ihre Krankheit, ihr Leid, auch ihren Tod mit großer Gelassenheit, Tapferkeit und Geduld annehmen.

Schmerz und Leid bzw. die Mühsal und Gebrechlichkeit des Alters schaffen Bedingungen, die die Annahme des Todes erleichtern. Trotzdem ist es ein erstaunliches Geheimnis, zu welcher Größe der Mensch gerade im Leid fähig ist. Wahre menschliche Größe zeigt sich nicht in Gesundheit, Leistung und Macht, sondern viel eher gerade darin, wie Krankheit und Leid bewältigt werden.

Die Konfrontation des Menschen mit der Wahrheit

In der Krankheit – wie kaum je sonst – tritt die ungeschminkte Wahrheit über den Menschen zutage. „Sich dem Wesentlichen des Lebens zuzuwenden, über das Menschsein als solches nachzudenken, den Wert von Solidarität und zwischenmenschlichen Beziehungen zu erkennen und auch den metaphysischen Gegebenheiten des Lebens nachzuspüren, dazu fordert das Hineingeworfen-Sein in Krankheit und Leid heraus“.16 Der Mensch ist in gesunden Tagen leicht geneigt, sich selbst, und auch den anderen, etwas vorzumachen. In der Krankheit freilich erkennt er, dass ihm eine solche Haltung letztlich selbst schadet: Wer dem Arzt über das eigene Befinden und über seine wahre Lebensweise keine ehrliche Auskunft gibt, setzt sich Fehldiagnosen aus und läuft Gefahr, falsch, ja gar nicht, behandelt zu werden. Dies leuchtet auf den ersten Blick ein, wenn es zum Beispiel um die Ess- und Trinkgewohnheiten geht, um das Rauchen oder um sexuelle Beziehungen, betrifft aber meist auch viel tiefere Kernschichten der Persönlichkeit. Der Patient wird in der Krankheit gezwungen, über sich selbst ehrlich und schonungslos Rechenschaft zu geben. Es vollzieht sich gleichsam eine Trennung zwischen Sein und Schein im Menschen, und dadurch trägt die Krankheit viel zur eigenen Wahrhaftigkeit und zu echter Selbsterkenntnis bei.

Die Erkenntnis der eigenen Vergänglichkeit zählt dabei zur entscheidenden Erfahrung schwerer Erkrankung. Illustrativ sei hier der Fall eines Patienten erzählt: Herr K war bis zu seinem 75. Lebensjahr nie ernstlich krank gewesen. Die Angehörigen erzählten von ihm, dass in seinem Leben alles immer auf Wunsch und nach Plan gelungen war. Er hatte es zu beträchtlichem Wohlstand gebracht und war überzeugt, dass für ihn alle Probleme lösbar seien, eine höhere Instanz, Gott oder Religion hatten keinen Platz in seinem Leben. Doch eines Tages war er über Nacht querschnittsgelähmt und konnte nur mehr den Kopf und die Arme bewegen. Er erwartete von den Ärzten mit großer Selbstverständlichkeit die „sofortige Reparatur“ dieses „Zwischenfalls“, denn so war er es bisher immer gewohnt. Er hatte noch viel vor in seinem Leben, Zeit zum Kranksein war nicht eingeplant, der Urlaub war gebucht. Die Ärzte wagten es kaum, ihm die Wahrheit über seinen Zustand zu eröffnen. Nach wenigen Tagen wurde die Ohnmacht der Ärzte unerbittlich offenbar. Anfangs konnte es der Patient einfach nicht glauben: Er sollte sein restliches Leben gelähmt im Bett verbringen? Dann verlangte er seine Pistole – er wollte Selbstmord begehen. Nach und nach begann er, Ärzte und Pflegepersonal nach dem Woher und Wohin des Lebens zu fragen, und man hatte den Eindruck, es tut sich ihm eine Welt auf, von der er vorher in seinem Leben offenbar nichts geahnt hatte.

Gesunde Menschen verwenden selten Gedanken darauf, dass das Leben jederzeit zu Ende gehen kann. In der Krankheit merken sie freilich, dass Wohlstand und Genuss dem Leben nur sehr bedingt Sinn geben können, denn nur ein Glück, für das es sich lohnt, auch zu sterben, kann die drängende Sehnsucht des Menschen nach Unsterblichkeit stillen. Leid und Schmerz fordern deshalb immer in gewisser Weise eine Konfrontation der Person mit den letzten Fragen des Geschöpfs mit seinem Schöpfer heraus und ist daher von erhabenem Ernst.

Natürlich kommt es vor, dass Kranke diese Chance nicht erkennen und sie ungenützt lassen. Häufiger aber werden die Menschen doch dazu bewegt, ihren Blick auf bleibende Werte zu richten, auf das, was im Kern Bestand hat. Gerade diese transzendente Dimension des Krankseins lässt den Arzt und das Pflegepersonal den erhabenen Sinn ihres Berufes auch dort noch erkennen, wo jede menschliche Hilfe erfolglos erscheint.

Neuere Untersuchungen zeigen, wie wichtig es für Menschen ist, auf spirituelle Ressourcen in Krisensituationen zurückgreifen zu können. So wünscht sich die Mehrheit deutscher Tumorpatienten, dass sich ihr Arzt für ihre spirituelle Orientierung interessiert. In einer Untersuchung mit (ambulanten) Schmerzpatienten aus Deutschland antworteten 23 Prozent, dass sie mit einem Pfarrer/Seelsorger über ihre spirituellen Bedürfnisse sprechen, 20 Prozent hatten keinen Ansprechpartner – und für 37 Prozent war es wichtig, mit ihrem Arzt über diese Bedürfnisse zu sprechen. Der Arzt wird sich hierfür aber gar nicht zuständig und ausgebildet fühlen, sodass viele Patienten mit chronischen Erkrankungen wohl mit ihren spirituellen Bedürfnissen alleine bleiben.17

Der leidende Mensch ruft nicht nur Mitleid, sondern auch Achtung und Ehrfurcht hervor, weil in ihm die Größe eines Geheimnisses spürbar wird, das den Menschen übersteigt. Es ist ein eigenartiges Paradoxon, wie in Krankheit und Leid die Armseligkeit des Menschen, aber gleichzeitig auch seine unantastbare Würde offenbar wird. Diese Würde manifestiert sich besonders bei jenen Patienten, die in der Lage sind, ihre Krankheit und auch den Tod – d. h. ihr Schicksal – anzunehmen.

Darüber hinaus werden den Leidenden in ihrer Krankheit viel leichter als in gesunden Tagen die eigenen Schwächen und Fehler bewusst, denn der Patient merkt, dass seine Gebrechlichkeit und Not viel tiefer reichen als nur in seine biologische Natur. Ein Patient formulierte diese Erfahrung als heilsamen Prozess, der eine Heilung im tieferen Sinn hat möglich werden lassen: „Ich habe den Eindruck, dass diese körperliche, schmerzhafte Krankheit auch ein Ausdruck meiner inneren Verkehrtheit ist. Ich bin ja ein harter Knochen und wie verblendet. Wie lange brauche ich, bis ich den Balken in meinem Auge sehe? Die Krankheit ist notwendig für mich, um da herausgerissen zu werden, um einsehen und um etwas eingestehen zu können.“ Eine solche Einsicht erleichtert es dem Kranken, auch die Fehler der anderen zu verstehen, ihnen zu verzeihen und selbst Verzeihung von anderen her anzunehmen.

Versöhnung gehört zu den existentiellen Bedürfnissen des Menschen. Sie reiht sich ein unter dem Bedürfnis „auf das bisherige Leben zurückschauen; jemandem aus einem bestimmten Abschnitt des Lebens vergeben; eigene Vergebung erlangen; mit jemandem über die Frage nach dem Sinn im Leben sprechen; mit jemandem über die Möglichkeit eines Lebens nach dem Tod reden; einen Sinn in Krankheit oder Leiden sehen können“18

Ärzte erleben immer wieder Menschen, die nach Jahren eines Lebens in Zwietracht und Streit im Zuge ihrer Erkrankung eine tiefe Umkehr erfahren und in Frieden mit ihren Verwandten und Freunden, ja auch mit Gott, gestorben sind. Kinder, die jahrelang ihre Eltern vernachlässigt haben, kehren wieder zurück. Eltern, die sich mit ihren Kindern entzweit haben, finden wieder zueinander, Ehepaare versöhnen sich wieder usw. Am Krankenbett wird viel Unrecht wieder gut gemacht, wird viel verziehen, und es findet dort eine große innere Umkehr statt.

Dieses menschliche und transzendente, dramatische Geschehen der Versöhnung, das sich am Krankenbett so oft ereignet, lässt die Kranken selbst, aber auch Ärzte, Pflegepersonal, Freunde und Verwandte im tiefen Schmerz auch wieder großes Glück, Freude und Frieden erfahren. Es ist eine Freude, die über den Schmerz hinwegsteigt, die lächelt, weil sie – wenn auch unter Tränen – erlebt, worin die eigentliche Freiheit des Menschen besteht, nämlich in seiner Befreiung von Verhärtung, Engherzigkeit und Eigenliebe.

Die heilsame Dimension des Leidens

Spiritualität spielt, wie wir heute wissen, eine wichtige Quelle im Umgang mit kritischen Lebenssituationen, Krankheit und Leid. Viele Patienten spüren, dass ihnen gerade in der Krankheit dennoch auch wieder etwas Heilsames widerfährt und dass eine Art Ausgleich geschaffen wird für die eigenen Fehler, Schwächen und Verfehlungen. Hier wird erahnt, dass das Leiden in dieser Welt wohl nie ganz aufgehoben, aber doch in eine Dimension gehoben werden kann, in der zwar Gesundheit nicht wieder erlangt, dafür aber Verfehlungen wieder gutgemacht werden und dass in diesem Sinne Krankheit und Leid von unschätzbarem Wert sind. Damit soll freilich nicht gesagt sein, dass jedes Leiden eine Folge von Schuld sei und den Charakter von Strafe habe.19 Das wäre eine banale Betrachtung von Schmerz und Leid. Die Gestalt des gerechten Hiob ist dafür ein besonderer Beweis im Alten Testament.20 Hiob ist eines der großen Beispiele für Prüfung, nicht für Schuld. In Hiobs Klage verbinden sich physischer Schmerz, soziale Isolierung, individuelle Trauer und religiöse Vereinsamung. Nicht selten sind es die Kranken und Leidenden, die selbst erahnen, dass die Annahme ihrer Leiden auch einen geheimnisvollen Wert hat. Wenn Leiden nicht auch ein Weg zur Wiedergutmachung, zur Versöhnung und zur persönlichen Reifung wäre, dann wäre das Tragen und Ertragen von Krankheit, aber auch die Pflege von hoffnungslos Schwerkranken wahrlich unannehmbar.

Unschuldig erlittenes Leid eröffnet darüber hinaus eine Perspektive von Gerechtigkeit, die diese Welt nicht geben kann, sondern in eine andere, endgültige verweist. Wer meint, das Leben erfülle sich ausschließlich in dieser irdischen Welt, wird fraglos am Leiden verzweifeln müssen. Aber gerade Leidende erahnen oft, dass es nach dem Tod eine ausgleichende Gerechtigkeit geben muss, die den letzten Sinn ihrer Leiden offenbaren wird. Deshalb ist das Prägemerkmal vieler Leidender eine Hoffnung, die ihnen einen Ausblick in eine bessere Welt eröffnet, den sie in gesunden Tagen sonst nicht gehabt hätten. Und diese Hoffnung erleichtert die Annahme ihrer Leiden entscheidend.

Krankheit als zwischenmenschliches Bindeglied

Eine weitere Dimension des Sinns des Leidens tut sich auf, wenn wir bedenken, dass der Schmerz nicht nur allein durch Arznei und heroische Annahme bzw. Sinnzuweisung erträglich wird, sondern vor allem auch durch eine Geborgenheit, die vom anderen her kommt, von einem Du. Hier bekommt das Wort vom Mitleid seine eigentliche Bedeutung. Man könnte den Psalm zitieren, in dem es heißt: „Der Schmerz bricht mir das Herz, ich bin verzweifelt: ich suche einen Tröster und finde keinen“ (Ps 68,21).

Zu Recht weist die Theologien Katharina Westerhorstmann in diesem Zusammenhang darauf hin, „dass die wachsende Individualisierung der Menschen, die in politischen Debatten zumeist als ‚Autonomie‘ thematisiert und positiv gewertet wird, häufig zugleich mit Isolation und Vereinsamung einhergeht“. Dass der moderne „Mensch als Subjekt seiner Entscheidungen und Wünsche sich nicht selbst genügt, erfährt er erst in Erfahrungen von Einschränkung, Behinderung oder Krankheit. Darin erschließt sich die Relevanz persönlicher Beziehungen, sodass Kranksein im besten Fall auch eine soziale Herausforderung bedeutet.“21 Durch ein gemeinsames, miteinander und füreinander Tragen und Ertragen des Leidens, in dem sich der eine durch liebevolle Anteilnahme und vor allem durch tätige Barmherzigkeit mit dem Leiden des anderen gleichsam vereint, kann dem Leidenden die Bitternis seiner Krankheit wesentlich erleichtert werden. Hier erweist sich das Leiden gleichsam als Herausforderung echter menschlicher Nächstenliebe.

Menschen wünschen sich ein glückliches Leben und meinen damit ein Leben in Harmonie und Eintracht. Gerade in dieser Hinsicht kommt den kranken Menschen eine wichtige Bedeutung in dieser Welt zu, denn sie bewegen das Herz des Menschen: Sie mobilisieren Mitgefühl, menschliche Wärme, gegenseitige Sorge, Hilfsbereitschaft, Verständnis, Geborgenheit, Wohlwollen, Gemeinschaft und Solidarität. All das sind Tugenden, die durch das menschliche Leid herausgefordert werden und ohne die unsere Welt eine traurige Welt wäre.22 Hier zeigt sich, dass das eigene Leiden auch Sinn hat zum Wohl der anderen.

Das Leben von Kranken und Behinderten ist also keinesfalls ein sinnloses Leben oder „lebensunwert“. Für den Arzt müssen solche Zugänge ein Skandalon bleiben, etwa die Praxis der Abtreibung von erbgeschädigten kranken Kindern oder der Beihilfe zum Suizid oder Euthanasie von unheilbar Kranken. Es wäre dies die „moralische Bankrotterklärung einer Kultur, die ihre Kompetenz im Umgang mit Leidenden verloren hat und im Rückzugsgefecht die legale Tötung als Befreiung feiert – selbst jener, die besonders vulnerabel und schutzbedürftig sind“.23

Den Kranken und Sterbenden anzunehmen, nicht als Last, sondern als wertvolle Bereicherung: Wenn uns das gelingt, dann könnte leidenden und sterbenden Menschen substantiell geholfen werden, ihr Schicksal in Frieden und Gelassenheit zu tragen, denn Schmerz und Leid werden auch in dem Maße leichter ertragen, in dem der Leidende selbst von seinen Mitmenschen in Hochschätzung angenommen wird.

Referenzen

  1. von Engelhardt D., Ars longa, vita brevis: Historischer Hintergrund und aktuelle Bedeutung des hippokratischen Aphorismus, Imago Hominis (2011); 18(2): 93-102, hier S. 96
  2. World Health Organization, Basic documents, Genf (1976), S. 1
  3. Vilar J., Was ist der Schmerz, Imago Hominis, (1996); 3(2): 89-99
  4. Rainer H., Krebsschmerz und seine Behandlung, IMABE-Quartalsblatt Nr. 2/91
  5. Vilar J., siehe Ref. 3
  6. Buttiglione R., Die Achtung des unschuldigen Lebens, ein Prüfstein unserer Kultur, in: IMABE (Hrsg.), Der Status des Embryos, Verlag Fassbaender (1989)
  7. vgl. zu diesem Thema das lesenswerte Buch von Vetter H., Der Schmerz und die Würde der Person, Verlag Josef Knecht (1980)
  8. Torello J. B., Medizin, Krankheit und Leid, Arzt und Christ (1965); 2
  9. vgl. Imago Hominis (2008); 15(4) zum Thema , Medizin, Ideologie und Markt
  10. Maio G., Plädoyer für eine Wiederentdeckung einer Kunst des Maßes in der Medizin, Imago Hominis (2011); 18(4): 265-275, S. 271
  11. Persönliche Mitteilung
  12. Westerhorstmann K., Krankheit als Weg zur Gesundung: anthropologische Überlegungen, Imago Hominis (2014); 21(1): 35-47, hier S. 43
  13. Guardini R., Die Lebensalter. Ihre ethische und pädagogische Bedeutung, Würzburg 1967, S. 99
  14. Frankl V. E., Zehn Thesen über die Person, in: Der Wille zum Sinn, Hans Huber Verlag (1982), S. 108
  15. Wojtyla K., Person und Tat, Herder Verlag, Wien (1981)
  16. vgl. Westerhorstmann K., siehe Ref. 12, S. 44
  17. Büssing A., Surzykiewicz J., Spirituelle Bedürfnisse chronisch Kranker,  Imago Hominis (2014); 21(1): 17-23, hier. S. 21
  18. ebd., S. 19
  19. Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben Salvifici doloris, 11. 2. 1984
  20. ebd.
  21. Westerhorstmann K., siehe Ref. 12, S. 44
  22. Johannes Paul II., siehe Ref. 19
  23. Kummer S., Lebenshilfe statt Tötungslogik. Für eine neue Kultur des Beistands,  Imago Hominis (2014); 21(3): 166-168, hier S. 167

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