Demenz und Schmerz

Imago Hominis (2014); 21(4): 269-277
Martina Schmidl

Zusammenfassung

Die schmerztherapeutische Versorgung demenzkranker Menschen ist bis heute mangelhaft. In erster Linie sind gravierende Kommunikationsmängel dafür verantwortlich, wenn Schmerzen von dementen Personen nicht erkannt und somit auch nicht behandelt werden. Das heißt, dass alle Menschen, die mit demenzkranken Menschen zu tun haben, über gute Kenntnisse in den Kommunikationstechniken „Validation“ und „Basaler Stimulation“ verfügen müssen. Es reicht jedoch nicht aus, Techniken zu beherrschen oder die sogenannten „Schmerzerfassungsinstrumente“ versiert abzuarbeiten. Erst wenn die betreuenden Personen eine vertrauensvolle Beziehung zu den Patienten herstellen und Nähe zulassen können und außerdem über die Fähigkeit verfügen, mit den Kranken auf der Gefühlsebene zu kommunizieren, wird es gelingen, Schmerzen verlässlicher zu erkennen und zu lindern.

Schlüsselwörter: Demenz, Schmerz, Kommunikation, Schmerzerfassungsinstrumente, Palliative Care

Abstract

Pain management for people with dementia is still inadequate today. This is primarily due to serious communication problems, since cognitively-impaired persons are unable to recognize pain and, therefore, often remain untreated. This means that everyone who deals with people with dementia must have a good knowledge of communication techniques such as “Validation” and “Basal Stimulation”. However, it is not enough to master such techniques or even to be well-versed in the processing of the so-called “Pain Assessment Scales”. It is only when caregivers can establish a trusting relationship with their patients, allowing for closeness, and are able to communicate with their patients on an emotional level that they will be able to more accurately and reliably recognize and alleviate pain.

Keywords: dementia, pain, communication, pain assessment scales, palliative care

„Menschen in helfenden Berufen müssen … in erster Linie ’Mensch’ sein, d. h., sich in allen Lebenslagen als Mensch erweisen und bewähren. Erst dann kann greifen, was berufliche Ausbildung zusätzlich anzubieten hat.“1

Bis heute kann niemand mit Sicherheit sagen, wie eine Altersdemenz entsteht. Die bisher zur Verfügung stehenden Therapien sind bestenfalls bescheidene und unzuverlässige Versuche, das Fortschreiten der Krankheit kurzfristig aufzuhalten. Wer an einer Altersdemenz leidet, ist unheilbar krank. Es wäre jedoch falsch zu glauben, dass wir für diese Patienten gar nichts mehr tun können: Unheilbar kranke Menschen – und dazu gehören Demenzkranke – haben Anspruch auf Palliative Care. Doch während die palliative Begleitung von Menschen mit unheilbaren Tumorerkrankungen bereits weitgehend Teil der Alltagspraxis geworden ist, sind wir davon bei Menschen mit Demenz noch weit entfernt. Erst in den letzten Jahren beginnt sich bei den tonangebenden Experten die Erkenntnis durchzusetzen, dass „advanced dementia should be considered a terminal illness similar to untreatable cancer, striving for maximal comfort instead of maximal survival at all costs“.2

Der zentrale Auftrag von Palliative Care ist es, so gut es geht dazu beizutragen, die Lebensqualität unheilbar Kranker zu erhalten oder zu verbessern.3 Da chronische Schmerzen die „gute Lebensqualität“ ganz wesentlich beeinträchtigen, muss es unser Ziel sein, eine verlässliche Schmerzerkennung und Schmerztherapie zu gewährleisten. Für die große Gruppe der demenzkranken Menschen (2010 waren es in Österreich etwa 112.600) sind wir von diesem Ziel jedoch noch weit entfernt. Zahlreiche Untersuchungen zeigen auf, dass die schmerztherapeutische Versorgung von Menschen mit einer fortgeschrittenen Demenz bis zum heutigen Tage völlig unzureichend ist.4

Warum werden Schmerzen von demenzkranken Menschen unzureichend behandelt?

Irrtümer und Unwissenheit

Nachdem man davon ausgehen kann, dass niemand absichtlich seinen Patienten eine adäquate Schmerztherapie vorenthält, liegt es nahe, dass Schmerzen bei dementen Menschen nicht erkannt und somit auch nicht behandelt werden. Darüber hinaus wird noch immer viel zu häufig die Ansicht vertreten, dass ein Mensch, der nicht mehr logisch denken kann, vergesslich ist und „nichts mehr mitkriegt“, weniger – oder zumindest weniger stark – unter Schmerzen leidet.5 Bis heute gibt es in der Literatur keinen überzeugenden Hinweis darauf, dass diese Annahme stimmt. Für die Praxis bedeutet das: Solange es keinen glaubhaften Beweis dafür gibt, dass Demenzkranke weniger unter ihren Schmerzen leiden als kognitiv intakte Personen, ist davon auszugehen, dass alles, was einem nicht dementen Menschen Schmerzen bereitet, einem Demenzkranken ebenfalls weh tut.6

Kommunikationsprobleme

Schmerzen bei Menschen mit fortgeschrittener Demenz werden in erster Linie aufgrund gravierender Kommunikationsprobleme nicht erkannt.7 Wir sind gewohnt, dass ein Patient unsere Fragen versteht und uns gegebenenfalls mitteilen kann, dass er Schmerzen hat und wo es ihm weh tut. Das kann man von einem dementen Menschen nicht erwarten. Wir scheitern mit unserer Kommunikationsroutine daher häufig bereits bei der Kontaktaufnahme: Wir stellen unverständliche Fragen, sind von den Reaktionen des dementen Menschen irritiert, werden ungeduldig, reden zu schnell und wirken insgesamt distanziert und unpersönlich. Die so dringend notwendige Beziehung zwischen Patienten und Betreuern, die auf verstehen und verstanden werden gründet, scheitert bereits im Ansatz.

Schmerzen erkennen

Gelingende Kommunikation

Das Lindern von Schmerzen kann nur dann funktionieren, wenn die betreuenden Personen verstanden haben, dass die gelingende Kommunikation und damit das „miteinander vertraut werden“ Dreh- und Angelpunkt einer befriedigenden Schmerzerkennung und -therapie ist. Vorrangiges Ziel ist es daher, eine tragfähige Beziehung aufzubauen. Nur dann, wenn ich „meine“ Patienten in ihrem „Normalverhalten“, ihren Vorlieben und Abneigungen sowie ihren Wünschen kennen lerne, ist es überhaupt möglich, Änderungen in ihrem Verhalten wahrzunehmen. Gute Kenntnisse in den Kommunikationsmethoden „Validation nach Naomi Feil“ und „Basaler Stimulation“ sind daher Voraussetzung für alle Personen, die mit dementen Menschen zu tun haben. Doch das Wissen um „Techniken“ und „Routinen“ alleine reicht noch lange nicht aus, um das Vertrauen der dementen Menschen zu gewinnen. Diese verfügen zwar nicht mehr über die Fähigkeit, abstrakt oder folgerichtig zu denken, doch auf der Gefühlsebene sind sie in der Regel selbst in den späten Stadien der Demenz noch hoch sensibel:

Frau Herta liegt ruhig im Bett. Ich bin gekommen, um mir das Druckgeschwür an der Ferse anzusehen. Heute Morgen ist es sehr hektisch auf der Station, der Arbeitsanfall ist enorm. Ich betrete das Krankenzimmer und begrüße Frau Herta, die ich schon seit vielen Monaten betreue und gut kenne. Als ich gerade dabei bin, die Bettdecke zurückzuschlagen, hält sie mich am Arm fest und sagt laut und heftig: „Nein“. Ich blicke sie erstaunt an und frage sie, warum ich mir heute den Fuß nicht ansehen darf. Sie sagt wieder: „Nein. Du bist heute anders. Lass mich!“ Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich sie mehr oder weniger „überfallen“ habe, mich viel zu schnell und ohne innerlich „bei ihr“ zu sein oder auf sie als Person einzulassen „abhandeln“ will. Tatsächlich ertappe ich mich dabei, dass ich mit meinen Gedanken ganz woanders bin.

Mit dem Fortschreiten der Demenz werden Worte immer unwichtiger. Die nonverbale Kommunikation tritt nun in den Vordergrund. Stimmlage, Tonfall, emotionale Färbung der Worte, Tempo und vor allem Berührungen werden wichtiger als Inhalte. Besonders die späten Krankheitsstadien, in denen die Patienten zunehmend abhängig, hilflos und desorientiert erscheinen, erfordern „Halt“ im eigentlichen und übertragenen Sinne: Wenn Worte nicht mehr verstanden werden, werden Berührungen immens wichtig; die Person des Helfenden gewinnt enorm an Bedeutung. Die Qualität unserer Betreuung hängt dann ganz wesentlich davon ab, wie sehr wir fähig sind, uns selber als „Heilmittel Mitmensch“ einzusetzen. Die gelingende „validierende Begleitung“ erfordert, dass ich mich – wenigstens für eine bestimmte Zeit – aufrichtig und mit ehrlichem Mitgefühl dem Patienten zumindest ein wenig öffne und auf ihn einlasse. Das ist alles andere als leicht. Wie ist das zu schaffen? Klaus Dörner macht uns Mut: „…das geht nicht den ganzen Tag über. Es genügt, dass diese meine Grundhaltung einmal aufblitzt und ankommt“.8 Es ist für mich selber hilfreich, von Zeit zu Zeit in mir nachzuspüren, was es für den betroffenen Menschen bedeuten könnte, dement zu sein: Wie fühlt es sich beispielweise an, in allen Belangen unsicher zu sein, auf schwankendem Boden zu stehen? Was bedeutet es, in jeder Hinsicht von dem guten Willen meiner Umgebung abhängig zu sein? Wie schmerzhaft muss es sein, meine Umgebung nicht zu verstehen oder selber nicht verstanden zu werden? Wie verzweifelt und einsam fühlt man sich in einer verfremdeten, völlig unverständlichen Welt? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, müssen wir in Fühlung kommen mit unserer eigenen Gefühlswelt, unserer Angst, unserer Einsamkeit. Das ist häufig schmerzlich und unangenehm. Doch wir werden mit der Zeit reichlich belohnt mit berührenden Begegnungen, gelingenden Beziehungen zu „unseren“ Patienten und nicht zuletzt mit einer höheren Arbeitszufriedenheit. Ich befinde mich in einem nie endenden Lernprozess; es gelingt „meinen“ Patienten immer wieder mich zu überraschen. Neulich sagt z. B. Frau Theresa, die erst vor wenigen Tagen im Pflegeheim aufgenommen wurde: „Es ist nicht leicht, in ein fremdes Land zu kommen und nicht zu wissen, ob einen das Land mag.“ Wie viel Angst und Unsicherheit muss sie verspüren, wie poetisch drückt sie ihre Sorgen aus; und wenn ich in mich hinein höre, kommen mir ihre Sorgen gar nicht so unbekannt vor!

Assessment Instrumente zur Schmerzerfassung bei Demenzkranken

Demente Menschen können (vor allem in den späten Stadien) keine für uns unmittelbar verständliche Auskunft über ihre Schmerzen geben. Wir sind daher auf Fremdbeobachtung angewiesen. Das heißt, dass die betreuenden Personen ihre Patienten gut kennen und fortlaufend beobachten müssen. Nur wenn das sorgfältig geschieht, ist es möglich, Schmerzzeichen zu erkennen. Das ist eine schwierige Aufgabe, die bei vielen Betreuenden wegen der scheinbar fehlenden „Objektivität“ und der unzuverlässigen Prüfbarkeit des Befundes für Unbehagen sorgt. Die in den letzten Jahren entwickelten „Schmerz Assessment-Instrumente“ (z. B. ECPA = Echelle comportementale de la douleur pour personnes agées non communicantes oder BSD = Beurteilung von Schmerzen bei Demenz) wurden daher von vielen Ärzten, Pflegenden und Angehörigen zunächst gerne angenommen, versprachen sie doch mehr Sicherheit und vermeintliche Objektivität. Vermeintlich deshalb, weil das Schmerzerleben eine zutiefst subjektive Angelegenheit ist. Einzig und allein der Betroffene selbst kann über Qualität und Intensität seiner Schmerzen verlässlich Auskunft geben. Und der Fremdbeobachter beobachtet selbstverständlich ebenfalls ausschließlich „subjektiv“: er beobachtet nämlich, was er mit seinen persönlichen Sinnen wahrnimmt. Ob ein anderer Mensch am Ende zu denselben Ergebnissen kommt, ist unsicher.

Was spricht für die Anwendung der „Schmerzerfassungsinstrumente“?

Zunächst gilt es klarzustellen, dass es sich bei den verwendeten Skalen keinesfalls um „Instrumente zur Erfassung von Schmerzen“ handelt. Tatsächlich dienen diese Instrumente der Erhebung der beobachteten Verhaltensänderungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Jede Verhaltensänderung kann selbstverständlich bedeuten, dass der Patient Schmerzen hat. Allerdings kann sie auch Ausdruck einer psychiatrischen Begleitsymptomatik oder ein Symptom der fortschreitenden Demenz sein. Das veränderte oder auffällige Verhalten hat jedoch immer Appellcharakter, ist es doch oft die einzige verbliebene Möglichkeit des dementen Menschen, sich mitzuteilen. Leider werden diese Hilferufe von der Umgebung viel zu häufig missverstanden. Meine Erfahrung ist, dass wir Verhaltensänderung fast reflexartig zuerst als ein Symptom der Demenz deuten und sie erst in zweiter Linie – wenn überhaupt – als Schmerzzeichen erkennen. Die Anwendung der Skalen kann daher im Alltag durchaus hilfreich sein, ist man sich der Tatsache bewusst, dass es sich bei den erhaltenen Scores nicht um hieb- und stichfeste Schmerzindikatoren handelt und dass keine lineare Beziehung zwischen Score und Schmerzintensität besteht. „Der unbestrittene Nutzen der Beobachtungsskalen liegt darin, dass im Betreuungsteam die Aufmerksamkeit für Verhaltensauffälligkeiten und deren Zusammenhang mit möglichen Schmerzen geschärft und die interdisziplinäre Kommunikation gefördert wird“.9

Was spricht gegen die Anwendung der „Skalen zur Beobachtung von Verhaltensänderungen“?

Die Tatsache, dass Messinstrumente zur Verfügung stehen, die eine verlässlichere Schmerzeinschätzung versprechen, gibt verständlicherweise ein Gefühl von Sicherheit und sorgt daher für Entlastung bei den Betreuern. Die Anwendung von „Standards“ ist man außerdem seit Jahren gewöhnt. Doch die Tests sind, glaubt man den wissenschaftlichen Untersuchungen, noch nicht ausgereift. Mit Ernüchterung müssen wir zur Kenntnis nehmen: „Die existierenden Tools sind immer noch im Frühstadium der Entwicklung und Testung. Bis heute gibt es kein standardisiertes Tool in Englisch, das für die breite Anwendung empfohlen werden kann.“10 Die wissenschaftliche Kritik beruht im Wesentlichen auf dem Zweifel an Reliabilität und Validität der Messinstrumente. Doch es gibt noch andere gravierende Gegenargumente für den routinemäßigen Einsatz dieser Skalen. Die Einwände ergeben sich aus der speziellen Situation der völlig hilflosen und abhängigen Demenzkranken. Die gelingende Betreuung und Begleitung von dementen Menschen fußt auf der guten Kenntnis der Kranken. Um diese gut kennen zu lernen, bedarf es unbedingt der persönlichen Nähe zu ihnen. Kenne ich ihr reguläres Alltagsverhalten nicht, wird es mir unmöglich sein, Abweichungen in ihrem Verhalten wahrzunehmen und „richtig“ zu deuten. Veränderungen werden dann häufig übersehen und vermeintliche Aggression und Verwirrung ausschließlich als das Fortschreiten der Demenz verkannt. Somit bleiben schließlich die Schmerzzeichen unbeachtet. Die Folge: Der laute, „aggressive“ Patient wird – nicht selten mit Hilfe des Psychiaters – „erfolgreich“ mit Psychopharmaka versorgt, wodurch die „Symptomatik“ zwar in der Regel verschwindet, die Schmerzen (bei jetzt ruhigem Patienten) jedoch unvermindert weiter bestehen. Um Schmerzen von dementen Personen verlässlicher zu erkennen und zu behandeln, bedarf es daher einiger unerlässlicher Voraussetzungen: Die Sicherstellung einer kontinuierlichen Betreuung durch dieselben Personen, seien es Angehörige, Pflegende, ehrenamtliche Mitarbeiter oder Ärzte; die Bereitschaft, sich auf den Patienten einzulassen und ihm nahe zu kommen; die Fähigkeit, ihm gegebenenfalls tröstend (nicht „wegtröstend“, sondern „gemeinsam aushaltend“) zur Seite zu stehen. Das heißt: Nur wer gelernt hat, mit dementen Menschen auf der emotionalen, nonverbalen Ebene zu kommunizieren, und der außerdem bereit ist, Nähe zuzulassen, hat die Chance, den Kranken besser zu verstehen und seine Leiden zu lindern. Die Einführung der sogenannten Schmerztests bedeutet jedoch einen weiteren Schritt weg vom Patienten hin zum Schreibtisch, an dem man meistens alleine und häufig eher mechanisch eine weitere Schreibarbeit abarbeitet. Nähe wird so eher verhindert als gefördert. Es macht sich eine Atmosphäre von Anonymität, Distanz und Sprachlosigkeit breit. Die anfänglich empfundene Sicherheit beginnt bei dem einen oder anderen Benutzer (berechtigten) Zweifeln zu weichen. Dem sensiblen Anwender stellen sich möglicherweise Fragen: Werde ich dem „gesamten“ Menschen noch gerecht, wenn doch immer wieder nur dieselben wenigen Aspekte abgefragt werden? Kann ich mich tatsächlich auf den „Score“ verlassen? Habe ich nicht ein „Gefühl für den Patienten“ entwickelt, ihn gut kennen gelernt und kann ich ihn daher nicht viel differenzierter und individueller wahrnehmen, als es ein standardisierter Test je können wird? Hat meine persönliche Einschätzung am Ende weniger Wert als der immer gleiche Test? Bin ich als Mitmensch nicht wichtiger als ein weiteres seelenloses Blatt Papier? Welchen Stellenwert haben meine Nähe zum Patienten, mein Trost und meine Berührungen? Bin ich als Person im Grunde nicht das deutlich bessere „Instrument“?

Seelische Schmerzen

Selbstverständlich wäre mit dem verlässlichen und flächendeckenden Erkennen und Behandeln von körperlichen Schmerzen bei Demenzkranken schon ein beachtlicher Schritt gelungen. Doch das Phänomen Schmerz ist komplexer. Mit der Linderung der körperlichen Schmerzen alleine werden wir dem Menschen in allen seinen Facetten bei Weitem nicht gerecht. Wir erreichen bestenfalls eine Teilentlastung. Schmerz erfasst immer den „ganzen Menschen“, betrifft alle Dimensionen seiner Existenz. Um umfassende Linderung zu erreichen, müssen daher seelische, soziale und spirituelle Aspekte beachtet und in unsere Überlegungen einbezogen werden. Das gilt im Wesentlichen für alle Menschen, unabhängig davon, ob sie kognitiv intakt sind oder nicht. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, alle Aspekte möglicher nicht-körperlicher Schmerzen von dementen Menschen zu erörtern. Ich beschränke mich daher auf zwei für demente Menschen typische Schmerzquellen, die mir am Herzen liegen und vermeidbar wären, wenn wir sie uns nur bewusst machten:11

  1. Der Schmerz, der durch den Mangel an Mitgefühl und Wertschätzung hervorgerufen wird. Demenzkranke Menschen sind in besonderem Maße verletzlich. Sie sind unsicher, orientierungslos, völlig hilflos und abhängig in so gut wie allen Belangen. Sie brauchen uns, um zu überleben: körperlich, seelisch, sozial. Wir haben Macht über sie. Eine große Macht, von deren Ausmaßen wir uns in der Regel keine Vorstellung machen. Ein ungeduldiges oder harsches Wort, eine lieblose Berührung oder gleichgültiges Übersehen erschüttert, verletzt und ängstigt den dementen Menschen bis in die Tiefe seiner Seele; denn er hat der Verletzung wenig bis gar nichts mehr entgegenzusetzen.
  2. Der Schmerz, den jeder Ortswechsel hervorruft. Ein Mensch, der in einer unverständlichen und verfremdeten Welt leben muss, empfindet Trost und Halt in der Begegnung mit vertrauten Personen, Orten, Gegenständen oder Abläufen. Wird aufgrund einer schwereren Erkrankung eine Krankenhauseinweisung notwendig, ist der demente Mensch in der Anpassung an die neue Umgebung, die fremden Menschen und Abläufe häufig völlig überfordert und verängstigt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass demenzkranke Personen in dieser Situation mit einem Delir reagieren.

Multidimensionale und multiprofessionelle Schmerzerfassung:

Hat der Patient jetzt Schmerzen?

Das Erkennen von Schmerzen bei dementen Personen ist eine komplexe Aufgabe, die nicht nur auf eine einzige Art und Weise, womöglich ausschließlich mit genormten und vorformulierten Checklisten, bewältigt werden kann. Wir müssen uns – um dem dementen Menschen und seiner Situation auch nur annähernd gerecht zu werden – dem Problem von mehreren Seiten und auf verschiedenen Wegen gleichzeitig nähern. In der Praxis hat sich folgende Möglichkeit bewährt, die ich im Folgenden beschreiben werde:

Schmerzbefragung

Es lohnt sich, einen Menschen mit einer milden oder mittleren Demenz direkt zu fragen, ob er Schmerzen hat, ob ihm „etwas weh tut“. Ich bin immer wieder erstaunt, wie häufig es den Betroffenen in diesen Stadien gelingt, ihre Schmerzen sprachlich oder durch Zeigen auf die schmerzende Körperstelle auszudrücken. Manchmal antworten sie auf die Frage, wo es ihnen weh tut, mit einem Schulterzucken oder mit dem Satz: „Ich weiß nicht“. Diese Aussage bedeutet jedoch nicht zwingend, dass die Menschen keine Schmerzen haben. Die Aussage muss ernst genommen werden. Wir wissen, dass mit fortschreitender Demenz die Fähigkeit verloren geht, den Körper als Ganzheit zu erleben; wobei körperferne Bereiche (z. B. obere und untere Extremitäten) zuerst in der Wahrnehmung verloren gehen. Das heißt Schmerzen können dann nicht mehr (rechter Fuß, linke Hand) geortet werden.

Suche nach Schmerzursachen

  1. Aus der Anamnese bekannte Ursachen für chronische körperliche Schmerzen und kürzer zurückliegende akute Ursachen wie z. B. Stürze oder ein Harnwegsinfekt müssen vom behandelnden Arzt erhoben und so gut es geht ausgeschaltet werden.
  2. Können somatische Schmerzen ausgeschlossen werden, beginnt die Suche nach anderen Quellen des Unbehagens wie z. B. Hunger, Durst, Stuhldrang, Lagerung.
  3. Danach konzentrieren wir uns auf mögliche seelische Ursachen, die den Patienten beeinträchtigen könnten: Fühlt er sich unsicher, ängstlich, verlassen? Schmerzt ihn sein zunehmender geistiger Verfall? Frau Ernestine liegt im Bett und schaut verzweifelt vor sich hin. Sie will heute nicht essen und nicht trinken. Sie will gar nichts. Die Pflegeperson fragt sie: „Geht es Ihnen heute nicht gut?“ Frau Ernestine schaut zu ihr hoch und sagt völlig niedergeschmettert: „Mir geht es heute gar nicht gut, ich weiß noch gar nicht, wer ich bin. Ich habe mich selber vergessen.“
  4. Last but not least prüfen wir die Umgebungsfaktoren, um Lärm, Hitze, Kälte, grelles Licht etc. als mögliche Störungsquelle zu erkennen und auszuschalten.

Der hier zum besseren Verständnis systematisch dargestellte Untersuchungs- und Beobachtungsweg verläuft in der Praxis weitgehend gleichzeitig. Geübte Personen nehmen „ihre“ Patienten und deren Umfeld relativ rasch mit ihren Sinnen „gesamthaft“ wahr.

Beobachten des Verhaltens

Jetzt zahlt es sich aus, dass wir „unseren“ Patienten gut kennen. Bemerken wir irgendwelche Veränderungen der Mimik, seiner Bewegungsmuster, seiner Sprache, seiner „normalen“ Aktivitäten oder Routinen?

Schmerzbeobachtung durch mehrere Personen

Im Bereich der Langzeitpflege kommt den betreuenden Personen (Pflegepersonen, Arzt, Angehörigen und ehrenamtlichen Mitarbeitern) eine Schlüsselstellung zu. Regelmäßige gemeinsame Gespräche, in denen persönliche Beobachtungen erörtert und dokumentiert werden, tragen ganz wesentlich zu einer verbesserten Schmerzerkennung bei.

Probatorische Analgetikagabe

Es kommt immer wieder vor, dass wir nicht sicher sein können, ob der Patient an körperlichen Schmerzen leidet oder ob andere Ursachen der Verhaltensänderung zu Grunde liegen. In diesen Fällen ist ein Therapieversuch mit Analgetika angezeigt. Je nach Einschätzung der – vermuteten – Schmerzintensität, wird mit einer kleineren Dosis eines geeigneten Analgetikums begonnen und die Dosis gegebenenfalls gesteigert. Die Gabe von kleinen Opiatmengen (in der Geriatrie vorzugsweise Hydromorphon) ist gut dazu geeignet z. B. Agitation als Schmerzzeichen zu bestätigen oder auszuschließen.12 Der Einsatz eines Opiats zum Ausschluss von Agitation als Ausdruck von Schmerzen oder anderer Befindlichkeitsstörungen hat bei demenzkranken Menschen einige Vorteile gegenüber dem Einsatz von psychotropen Substanzen: Die Differentialdiagnose gelingt rascher, die Nebenwirkungen von Opiaten sind weniger gravierend, und die Schmerzen werden nicht durch den sedierenden Effekt der psychotropen Substanzen maskiert.13 Beruhigt oder entspannt sich der Patient, ist anzunehmen, dass körperliche Schmerzen die Ursache der Verhaltensänderung waren.14

Frau Herta sitzt mittags normalerweise zufrieden am Mittagstisch. Heute will sie nicht essen. Sie wirkt angespannt und irritiert. Ich setze mich zu ihr und frage, ob ihr das Essen nicht schmeckt. Sie verzieht keine Miene und schaut weiter starr vor sich hin. Anders als sonst üblich lässt sie keine Berührungen zu; unwirsch und heftig stößt sie mich weg. Auf Fragen antwortet sie wiederholt mit: „Was ist?“ Die anwesende Tochter berichtet, dass sie seit heute Morgen den Eindruck hat, dass ihre Mutter „verkrampft“ und „schwerhörig“ sei; die Verständigung mit ihr sei heute fast unmöglich. Nachdem keine körperlichen Auffälligkeiten oder andere Störungsquellen feststellbar sind, bekommt Frau Herta eine kleine Dosis eines geeigneten Analgetikums. Tatsächlich verändert sich die Patientin in ihrem Verhalten: Nach einer Weile wirkt sie deutlich entspannter und die Verständigung gelingt wieder leichter.

Unbehandelte Schmerzen beeinträchtigen nicht nur die Lebensqualität ganz allgemein, sondern führen darüber hinaus auch zu handfesten körperlichen Folgen wie z. B. Appetitverlust mit nachfolgender Gewichtsabnahme, Gangunsicherheiten mit vermehrter Sturzgefahr, Störung der Immunlage etc. Dauerschmerz verursacht zudem beachtliche seelische Schmerzen: Depressive Verstimmungen, Angst und vermehrte Unsicherheit sind keine Seltenheit. Schmerzen binden außerdem die Aufmerksamkeit und Konzentrationskraft, Fähigkeiten, an denen es gerade dementen Menschen in besonderem Maße mangelt. Frau Herta musste sich zum Beispiel so stark auf das Aushalten von Schmerzen konzentrieren, dass ihre Kapazitäten erschöpft waren und die Energie für das Hören nicht mehr ausreichte.

Kontinuierliche Verlaufskontrolle und Neueinschätzung des Verhaltens

Die einmalige Beobachtung und Dokumentation von Verhaltensänderungen hat nur begrenzte Aussagekraft. Es bedarf daher der kontinuierlichen Beobachtung und Einschätzung des Verhaltens der Patienten im Team. Die regelmäßige mündliche Weitergabe und die schriftliche Dokumentation der Wahrnehmungen aller betreuenden Personen sind Grundlage einer gelingenden Schmerzerkennung und -behandlung.

Fazit

Schmerzen demenzkranker Menschen werden bis heute nicht zuverlässig erkannt und daher auch nicht adäquat behandelt. Ursache für diesen Missstand sind in erster Linie gravierende Kommunikationsmängel. Daher fordert die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes: „Die Besonderheiten in der Kommunikation mit Schmerzpatienten und Palliativpatienten müssen alle in der Schmerztherapie Tätigen lernen, und sie müssen in der Aus- und Weiterbildung gelehrt werden“.15 Das heißt: Alle Menschen, die mit dementen Menschen zu tun haben, müssen lernen, dass die gelingende Kommunikation, also das „Verstehen und Verstanden werden“, Dreh- und Angelpunkt einer „guten“ Begleitung und Behandlung von Demenzkranken ist. Selbstverständlich ist fundiertes Fachwissen ebenfalls unerlässlich und notwendig. Es ist jedoch nicht hinreichend: Erst die „Beseelung“ dieses Wissens durch unsere Bereitschaft, dem Anderen mitfühlend zu begegnen, macht es möglich, den Kranken heilsam zu begleiten und ihn in seiner „Andersartigkeit“ besser zu verstehen. Das erfordert von den betreuenden Personen Mut. Mut, sich seinen eigenen Gefühlen zu stellen, Mut, das „Zarte“ in sich (wieder) zu entdecken und sich dem Kranken auf der Gefühlsebene zu nähern.

Referenzen

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  5. Achterberg W. P., Gambassi G., Finne-Soveri H., Liperoti R., Noro A., Frijters D. H. M., Cherubini A., Dell’Aquila G., Ribbe M. W., Pain in European long-term care facilities: Cross national study in Finland, Italy and the Netherlands, Pain (2010); 148: 70-74
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  13. Herr K., Coyne P. J., Key T., Manworren R., McCaffery M., Merkel S., Pelosi-Kelly J., Wild L., Pain Assessment in the Nonverbal Patient: Position Statement With Clinical Practice Recommendations, American Society for Pain Management Nursing (2006); 7: 44-52
  14. Herr K., Decker S., siehe Ref. 6
  15. DGSS (Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V.), Kurzfassung Ethik-Charta der DGSS, Deutscher Schmerzkongress Berlin „Schmerz in Deutschland“ (2007), www.dgss.org (letzter Zugriff am 11. 1. 2014)

Anschrift der Autorin:

Dr. Martina Schmidl, MAS (Palliative Care)
OA „Pflegewohnhaus Liesing“ der Stadt Wien
Haeckelstr 1A, A-1230 Wien
martina.schmidl(at)wienkav.at

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