Bioethik Aktuell

COVID-19: Der „totale Schutz“ der Älteren bedeutet Exklusion und Bevormundung

Experten warnen vor einer zunehmenden Altersdiskriminierung durch Corona

Lesezeit: 03:01 Minuten

Bild von Linus Schütz auf Pixabay

Corona-Risikogruppen pauschal an das Alter zu knüpfen, kann problematisch sein: Es fördert eine zunehmende Altersdiskriminierung und führt zur Festigung negativer Altersselbstbilder. Medien spielen dabei auch eine wichtige Rolle. Darauf weisen nun Altersforscher, Soziologen und Pflegewissenschaftler hin.

Ältere Menschen ab 60 Jahre werden derzeit als eine monolithische Gruppe, jene „der Alten“, kategorisiert, die eine Risikogruppe für Covid-19 darstellt – unabhängig von ihrem gesundheitlichen Zustand und ihrer körperlichen Fitness. „So sehr der Schutz hier im Vordergrund steht, man kann diese Schutzorientierung auch als eine Form positiven Diskriminierung sehen“, sagt der Wiener Soziologe und Altersforscher Franz Kolland (Science-ORF, online, 30.4.2020). Damit würde auch eine negative Selbstwahrnehmung gefördert. Ältere Menschen, die sich im Schnitt zwischen sechs und acht Jahren jünger fühlen, sind nun verunsicherter. Besser wäre es, die verschiedenen Risikogruppen direkt anzusprechen, also jene mit Erkrankungen, die das Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf tatsächlich erhöhen, wie Diabetes oder Lungenerkrankungen, so Kolland.

Diskriminierende Darstellung in Medien

Auch in den Medien ist von „den Alten“ als monolithischer Gruppe die Rede, heißt es in einer kürzlich im Stanford Social Innovation Review (SSIR) publizierten Analyse zu Corona und Altersdiskriminierung (online, 28.5.2020). Wenn in US-Medien von älteren Menschen und Corona berichtet wurde, sah man weder Gesichter noch reale Personen, sondern „leere Fassaden eines Pflegeheims und namenlose Leichensäcke aus Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen“. Diese Art der medialen Darstellung depersonalisierter älterer Erwachsene und verstärke „die gesellschaftliche Tendenz, sie aus unseren Gemeinschaften, unserer Sozialpolitik und unseren Solidarsystemen auszuschließen“, so die Autoren. Auf heftige Kritik stieß der Name #BoomerRemover" (Corona als „Baby-Boomer-Entferner“), der in den sozialen Medien für das Virus kursierte. Gemeint war eine zynische Anspielung darauf, dass besonders Menschen, die in den 1950er und 60er Jahren geboren wurden, zu den Risikogruppen gehören.

Einsamkeit als wachsendes Problem

Experten des vom Kardinal König Haus in Wien koordinierten Netzwerk Demenz beobachten ebenfalls eine "neue Art systematischer Ausgrenzung und Altersdiskriminierung". In einem Diskussionspapier Care trotz Corona mit und für Menschen im Alter (12.6.2020) halten sie fest, dass der „totale Schutz“ von vulnerablen Gruppen nicht Ziel sein kann, denn ein solches Konzept bedeute zugleich Exklusion und Diskriminierung. Es müsse hingegen gemeinsam eine entsprechende Balance zwischen Gemeinwohl, Fürsorge und Selbstbestimmung gefunden werden. Krankheit wurde im Zuge der Pandemie auf eine rein virologische Sicht reduziert, damit kamen aber andere Gesundheitsperspektiven wie psychische, soziale und spirituelle Bedürfnisse zu kurz. Für ein Leben mit Corona müsse die Politik eine ganzheitliche Perspektive einnehmen, denn „der Mensch ist so viel mehr als nur Risiko“.

Dass Isolation und Einsamkeit krankmachen, zu Leid führen und das Sterblichkeitsrisiko erhöhen können, zeigen zahlreiche Erhebungen (vgl. Bioethik aktuell, 3.6.2019). Besonders betroffen von der sozialen Isolation und Einsamkeit in der Corona-Krise sind alleinstehende Personen, ältere Menschen und Pensionisten (vgl. LBG-Pressemitteilung, online 23.6. 2020).

Einsamkeit ist ein wachsendes Problem in vielen westlichen Ländern. In Österreich lebten 2018 nach Daten der Statistik Austria 17 Prozent aller in Privathaushalten wohnenden Menschen alleine. Die größte Gruppe Alleinlebender ist bei den über 65-Jährigen zu finden: 526.000 Personen ab 65 Jahren wohnen ohne weitere Personen im Haushalt.

Der Psychiater und Psychotherapeut Thomas Wochele-Thoma, Ärztlicher Leiter der Caritas der Erzdiözese Wien, sieht großen Handlungsbedarf. Allein in Österreich gab es bereits vor der Corona-Krise rund 372.000 Menschen, die niemanden für persönliche Gespräche in ihrem persönlichen Umfeld haben. „Wenn wir Menschen aus nachvollziehbaren Gründen dann raten, ihre sozialen Kontakte auf ein Minimum zu reduzieren, dann bedeutet das für viele, dass sie gar keine Sozialkontakte mehr haben“, so Wochele-Thoma, der die Reden Sie mit!-Initiative der Ludwig Boltzmann Gesellschaft als Experte unterstützt.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: