Bioethik aktuell

IMABE: Gesundheitsberufe brauchen „heilsame Nähe und professionelle Distanz“

IMABE-Symposium in Wien untersuchte Strategien gegen "moralischen Stress" im Gesundheits- und Pflegewesen

Lesezeit: 04:57 Minuten

Um bei moralischem Stress und Belastungssituationen in Medizin und Pflege resilient zu sein, sind starke Teams und eine fürsorgliche Führung entscheidend, betonen Experten beim IMABE-Symposium in Wien. Dazu braucht es Räume für für Reflexion und Kommunikation.

Wer täglich mit Krankheit, Leid und Sterben konfrontiert ist wie Ärzte und Pflegende ist berufsbedingt mit hohen Belastungsfaktoren konfrontiert. Wie können diese abgefedert werden, damit daraus kein ungesunder moralischer Stress entsteht? Welche Ressourcen müssen gestärkt werden, um die persönliche und strukturelle Resilienz in Gesundheitsberufen zu stärken? Das war Thema des interdisziplinären Symposiums “Krisen. Emotionen. Lösungen. Konflikte am Krankenbett", das vom Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) am 11. November in Wien veranstaltet wurde. Namhafte Experten vereinten theoretische, gesellschaftliche Analysen mit praktischen Tipps wie mit moralischem Stress und konfliktreichen Situationen mit Patienten und Kollegen konstruktiv umgegangen werden kann.

Fürsorge braucht Selbstsorge

Resilient gegenüber Stressoren, Konflikten und Krisen zu sein bedeutet mit ihnen zu interagieren und durch diese zu wachsen, betonte Andreas Heller vom Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung an der Grazer Karl-Franzens-Universität. Dies müsse sowohl auf persönlicher Ebene als auch im Team ermöglicht werden. Die Lösung dafür sei nicht einfach eine "professionell" emotionale Distanz gegenüber den Patienten, betonte Heller. Gerade in der Palliativpflege oder bei besonders emotionalen Fällen seien nämlich die physische Präsenz sowie Mitleid und Mitgefühl genauso essenziell wie die medizinische Versorgung, um eine empathische Betreuung zu ermöglichen. Dennoch brauche Fürsorge auch Selbstsorge: Andere zu lieben, um sich um andere zu sorgen, setzt voraus, dass man sich um sich selbst sorgt und sich selbst liebt, so Heller.

Die Rolle der Systemresilienz für die persönliche Resilienz

Zentrales Thema der Tagung lag auf dem Zwischenspiel von Systemresilienz und persönlicher Resilienz im Umgang mit moralischen und praktischen Stressoren.

Stressfaktoren können erst dann verstanden und vorgebeugt werden, wenn sie adäquat definiert und kategorisiert sind, unterstrich die Münchner Psychologin und Medizinethikerin Katja Kühlmeyer (LMU München). Ein Auslöser von moralischem Stress könne etwa sein, wenn sich jüngere Ärzte oder Pflegende mit „unangemessen Erwartungen“ konfrontiert sehen. Sie fühlen sich alleine gelassen mit Situationen, denen sie aufgrund mangelnder Erfahrung oder fehlender Unterstützung durch die Führung nicht gewachsen fühlen. Hier entstehen Barrieren, die das ethische Handeln des Einzelnen erschweren oder verhindern können.

Barbara Juen, Professorin für Psychologie an der Universität Innsbruck, hält die Systemresilienz für einen entscheidenden Faktor: „Um Stresssituationen auszuhalten brauchen die Mitarbeiter ihr Team und die Erfahrung, dass sie etwas Sinnvolles tun“, betonte Juen. Hauptaufgabe der Führungskräfte sei es, fürsorglich zu sein, Störung rechtzeitig zu erkennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dabei müsse man auf die „Widerstandsfähigkeit, Erholungsfähigkeit und Wachstumsfähigkeit des Teams“ fokussieren, so Spezialistin im Feld der Krisenintervention.

Selbstsorge braucht „Oasen der Integrität“

In Bezug auf zwischenmenschliche Konflikte betonte die Wiener Psychologin und Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl, Emotionen als positive Ressource zu sehen und die Chancen im Konfliktmanagement zu erkennen. „Nicht alle Konflikte sind veränderbar, aber alle haben mit Gefühlen zu tun.“ Wer also Konflikte bewältigen möchte, muss lernen seine eigenen Gefühle zu regulieren und sich „Gewohnheiten der Selbstberuhigung“ anzueignen, so die Expertin.

Seine eigenen Gefühle zu verstehen und sich konkrete „Oasen der Integrität“ zu schaffen, könne im Aufbau der persönlichen Resilienz gegenüber Stressoren besonders hilfreich sein, betonte der Sozialethiker Clemens Sedmak. Er deutete hierbei auf Schönheit, Freundschaft, Ruhe und Gebet hin, friedenstiftende „Nahrungsmittel der Seele“ um Integrität im Arbeitsalltag zu gewährleisten, so der an der University of Notre Dame (USA) lehrende Theologe und Philosoph.

Das Fördern von Reflexion - persönlich und im Team - wurde beim Symposium als ein zentraler Weg für einen gestärkten Umgang mit emotionalen und ethisch schwierigen Situationen dargestellt. Jürgen Wallner, Leiter des Ethik-Bereichs bei den Barmherzigen Brüder Österreich, zog hier einen Vergleich zur Ethikberatung, in der „Hirn, Herz und Hand in Krisensituationen eingeschaltet werden müssen“. Reflexionsräume seien nötig, um kritisch über ethisch relevante Fragen nachzudenken. Dabei dürfe jedoch die Emotionalität der Situation nicht vernachlässigen werden. Schließlich müsse Beratung dazu führen, „handlungsfähig zu machen“.

Authentische Beziehungen zu Patienten und Angehörigen

Einen praktischen Einblick in einen von Krisen und emotionalen Konflikten geprägten Alltag von Gesundheitsfachkräften gewährten Martina Kronberger-Vollnhofer, Leitern des Wiener MOMO Kinderhospiz sowie der Geriater und Palliativmediziner Erwin Horst Pilgram am Albert Schweitzer Hospiz in Graz.

Bei der Begleitung von schwerkranken Kindern und ihren Familien sei es unabkömmlich, sich auf eine authentische Beziehung mit dem Kind und vor allem mit den gesunden Geschwistern, den Eltern und den Angehörigen einzulassen, betonte die Kinderärztin. Eine gewisse Verletzlichkeit der Gesundheitsfachkräfte sei notwendig, um die vulnerablen Gefühle der Familie zu ehren und annehmen zu können. „Hilfreicher Nähe und heilsame Distanz ist dabei ein dynamischer Prozess. Da muss man die Balance finden“, so die Expertin. Der Zusammenhalt im Team sei zudem ganz entscheidend, um „gemeinsam die Machtlosigkeit aushalten“ zu können.

Die Antwort auf Suizidwünsche bei älteren Menschen liegt nicht in der Beihilfe zum Suizid, unterstrich Geriater Pilgram. Sehr häufig liege einem Sterbewunsch eine Depression zugrunde, die auch behandelbar ist. Wichtig ist es, Menschen mit Suizidverlangen beizustehen und durch Gespräche ihren Nöten Raum und Zeit zu geben, so der Palliativmediziner.

Tenor der Experten war es, das Simple, das Menschliche und vor allem den Humor vor lauter Krise nicht aus den Augen verlieren – sowohl zum Wohle der Patienten und der Stimmung, die die Betreuung prägt, besonders aber auch für das Betreuungsteam und für die Resilienz der Gesundheitskräfte.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Christian Lagger (Geschäftsführer der Krankenhaus der Elisabethinen GmbH und Vorsitzendem der ARGE Ordensspitäler Österreich) und der Journalistin und Publizistin Gudula Walterskirchen.

Hinweis

Der Tagungsband „ Krisen. Emotionen. Lösungen. Konflikte am Krankenbett “ erscheint im Frühjahr 2023 und kann über den Link https://www.imabe.org/publikationen/imago-hominis-bestellen bestellt werden.

Institut für Medizinische
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