Frau Kummer, IMABE versteht sich als Schnittstelle zwischen Medizinethik und Anthropologie. Wie definieren Sie heute die Rolle eines Instituts, das an diesen Grenzlinien arbeitet?
Susanne Kummer: Unsere Rolle im Bereich Medizinethik und Anthropologie ist es, einen Raum zu schaffen, in dem die Frage nach dem Menschen nicht verloren geht. Wir erleben heute eine Medizin, die in den vergangenen Jahrzehnten enorme wissenschaftliche Fortschritte erzielt hat. Doch was sie aus sich selbst heraus nicht beantworten kann, ist die Frage, was letztendlich gut für den Menschen ist. Dazu braucht es die Anthropologie – das Nachdenken über den Menschen in seiner Ganzheit – und die Ethik, die fragt: Nicht nur, was können wir tun, sondern was sollen wir tun?
Konflikte entstehen immer dort, wo Medizin auf reine Machbarkeit reduziert wird. Wir verstehen uns daher als Stimme in einem großen Konzert der medizinischen Realität – eine Stimme, die versucht, philosophische Reflexion, Lebenswirklichkeit von Patientinnen und Patienten und das tägliche Handeln im Gesundheitswesen zusammenzuführen. Im Kern geht es um die Frage: Was ist wirklich gut für den Menschen? – und damit auch um die Frage: Was ist der Mensch?
Inwiefern prägt das christliche Menschenbild Ihre ethischen Fragestellungen – und wie begegnen Sie säkularen Perspektiven?
Ich verwende den Begriff „säkulare Perspektive“ ungern, weil er eine falsche Gegenüberstellung suggeriert – hier die religiöse Minderheit, dort das neutrale Menschenbild. Eine wertneutrale Ethik gibt es nicht. Jede Ethik lebt von Voraussetzungen, von einem bestimmten Verständnis des Menschen.
Ich halte aber das christliche Menschenbild für besonders tragfähig – nicht, weil es exklusiv christlich wäre, sondern weil es dem Menschen gerecht wird. Es nimmt seine Verletzlichkeit, seine Endlichkeit und seine Bezogenheit auf andere ernst. In einer Zeit, in der das Ideal der Machbarkeit überhöht wird, etwa in der Vorstellung eines leidfreien oder gar „transhumanen“ Lebens, erinnert das christliche Menschenbild daran, dass es in unserem Dasein eine Lücke gibt, die wir nicht selbst schließen können. Diese Einsicht befreit uns von der Hybris, alles selbst machen zu müssen. Heilung im tiefsten Sinn bleibt letztlich ein Geschenk.
In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit Fragen von Autonomie und Fürsorge. Wie lassen sich diese beiden Prinzipien in der Praxis vereinbaren?
Das ist eine der Daueraufgaben der Medizinethik. Giovanni Maio hat es treffend formuliert: „Die Beziehung ist die Gefährtin der Autonomie, die Autonomie die Schwester der Verletzlichkeit, und die Sorge ist ihre Mutter.“
Wir müssen uns von der Vorstellung lösen, Autonomie sei reine Unabhängigkeit. Autonomie lebt von Voraussetzungen – vor allem von Beziehung. Kein Mensch ist aus sich selbst heraus autonom. Sie entsteht durch eine liebevolle Umgebung, durch Bildung, durch Beistand in Situationen des Leids. Daher sprechen wir heute von relationaler Autonomie, also einem Verständnis, das die Selbstbestimmung des Menschen in seiner sozialen Eingebundenheit begreift.
Demenz und andere neurodegenerative Erkrankungen stellen besondere Anforderungen an die Patientenautonomie. Wie lotet IMABE hier die Grenzen zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge aus?
Demenz ist wohl die größte Herausforderung für unser heutiges Autonomie-Paradigma. Viele Menschen fürchten, mit dem Verlust kognitiver Fähigkeiten auch ihre Würde zu verlieren. Dieses Narrativ – dass Würde an Denken oder Erinnerung gebunden sei – ist gefährlich.
Gerade die Pflege von Menschen mit Demenz zeigt, dass Kommunikation auf anderen Ebenen möglich bleibt: durch Berührung, durch Musik, durch Beziehung. In solchen Momenten tritt der Mensch in seiner Ganzheit hervor. Deshalb darf man nie sagen, ein Leben mit Demenz sei kein würdevolles Leben. Der Mensch ist mehr als sein Wille, mehr als sein Gedächtnis. Er bleibt Person – mit Biografie, Beziehungen und Wünschen.
Künstliche Intelligenz beeinflusst zunehmend Entscheidungen in der Medizin. Wie beurteilen Sie die moralische Verantwortung von Algorithmen im Vergleich zum menschlichen Handeln?
Algorithmen haben keine moralische Verantwortung. Punkt. Sie berechnen, sie analysieren, sie liefern Wahrscheinlichkeiten. Aber Verantwortung setzt Freiheit voraus, und Maschinen haben keine Freiheit.
Das herrschende Narrativ lautet: Je mehr Daten wir generieren, desto sicherer werden Entscheidungen. In Wahrheit ertrinken wir in Informationen. Entscheidend ist nicht die Datenmenge, sondern ihre Bedeutung – und die erschließt sich nur im konkreten Arzt-Patienten-Gespräch. Daten sind Silber, Deutung ist Gold.
Die eigentliche Gefahr besteht darin, dass wir beginnen, den Algorithmen mehr zu glauben als dem eigenen Urteil. Studien zeigen, dass besonders jüngere Ärztinnen und Ärzte dazu neigen, maschinelle Ergebnisse unkritisch zu übernehmen. Wir müssen deshalb die Fähigkeit zum Denken, zum ethischen Abwägen, in der Ausbildung stärken. Verantwortung darf nicht an Maschinen delegiert werden – sie bleibt immer menschlich.
Welche Verantwortung trägt ein Institut wie IMABE in der Vermittlung moralischer Orientierung an Mediziner, Pflegefachkräfte und Forschende?
Wir erleben einen großen Bedarf an ethischer Aus- und Weiterbildung. Ethik ist im universitären Curriculum meist unterrepräsentiert. Deshalb bieten wir eigene Ethik-Lehrgänge an, etwa für junge Fachkräfte im Gesundheitswesen. Unser Ziel ist, Menschen zu befähigen, ethische Probleme zu erkennen, Fragen zu stellen, Antworten zu finden – und danach zu handeln.
Medizin ist kein neutrales Handwerk. Jede Entscheidung betrifft einen Menschen – und verändert zugleich den, der entscheidet. Ethik prägt das Klima im Krankenhaus, im Team, in der Gesellschaft. Wir arbeiten interdisziplinär – mit Medizin, Philosophie, Biologie und Rechtswissenschaft – um das berufliche Ethos in den Gesundheitsberufen zu stärken und dies praxisnah zu vermitteln.
Wo sehen Sie die größten Spannungsfelder zwischen moderner Medizin – etwa Reproduktionsmedizin – und dem christlichen Menschenbild?
Wir erleben heute eine Überforderung der Medizin. Ihr wird zugemutet, Probleme zu lösen, die weit über das Phänomen „Krankheit“ hinausgehen. Heute herrscht in der Gesellschaft die Utopie der leidfreien Existenz. Die Medizin wird dafür instrumentalisiert: Sie soll für jegliche Art von Leiden zuständig sein und es beseitigen. Nicht nur Krankheit, sondern auch Trauer, Frustration, versäumte Erfüllung des Kinderwunsches, den Tod. Das endet in einer Dystopie. Es gibt nicht für alle Probleme eine medizinische Lösung – das ist eine Überfrachtung, die gefährlich ist.
Wenn etwa Embryonen erzeugt und selektiert werden, um „unerwünschtes Erbgut“ zu vermeiden, wird die Medizin instrumentalisiert, um Eugenik salonfähig zu machen. Oder wenn Unternehmen „Social Freezing“ anbieten, um Karriere und Familiengründung technisch zu entkoppeln – dann verschiebt sich die Verantwortung von gesellschaftlichen Strukturen hin zur Biotechnologie.
Ähnlich problematisch ist die Pathologisierung des Alltags: Wenn die Trauer nach dem Tod eines geliebten Menschen länger als zwei Wochen anhält, gilt das heute schon als Depression. Wenn jede Art von Leiden zur Krankheit erklärt wird, verlieren wir andere Instanzen des Trostes – Familie, Freunde, Seelsorge. Auch die Diskussion um assistierten Suizid zeigt: Wir haben verlernt, mit Leid umzugehen. Das Leid gehört zur Conditio humana. Wenn die Antwort darauf die Beseitigung des Leidenden ist, statt das Leid zu lindern, dann verlieren wir das Fundament unseres Menschseins. Medizin darf nie „heilen, lindern, töten“ heißen, sondern: heilen, lindern, trösten.
Wenn Sie in die Zukunft blicken – welche gesellschaftlichen Entwicklungen sehen Sie, und welche Rolle könnte die Kirche darin spielen?
Viktor Frankl, der österreichische Neurologe und Psychiater, der die Logotherapie und Existenzanalyse begründete, und dessen letzte Vorlesungsreihe ich als junge Philosophiestudentin in Wien noch miterleben durfte, sprach von der „tragischen Trias“ des Lebens: Leiden, Schuld und Tod. Das sind Erfahrungen, denen kein Mensch entkommt. Die Größe des Menschen liegt darin, wie er sich diesen Erfahrungen gegenüber verhält. Gerade darin liegt aber die Chance, den Menschen wieder als geistiges und sinnorientiertes Wesen zu verstehen.
Kirche kann hier eine entscheidende Rolle spielen – als Ort des Zuhörens, der Sinnsuche und der spirituellen Begleitung. Mit einem Angebot der Heilung im tiefsten Sinne. Nicht jede Krise ist medizinisch zu lösen, aber in jeder Krise kann etwas in einem Menschen reif werden.
Wir brauchen eine neue Kultur der Sorge. Papst Franziskus hat darauf hingewiesen, dass wir in technischen Dingen enorme Fortschritte machen, aber zugleich „Analphabeten in der Sorge um den Schwachen und Kranken“ geworden sind. Der „Arme“ ist heute nicht nur der ökonomisch Benachteiligte, sondern auch der Mensch, der alles hat – außer einem Sinn.
Dieses Interview wurde vom Bistum Regensburg am 7. November 2025 erstmals veröffentlicht.