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Public Health: Wie Spiritualität Menschen bei Krankheit hilft

Pflegefachkräfte wünschen sich mehr Ausbildung in Spiritual Care

Lesezeit: 04:47 Minuten

Die Suche nach Sinn, Hoffnung und Frieden ist eine fundamentale Erfahrung des Menschseins. Dennoch fühlen sich Ärzte und Pflegefachkräfte häufig schlecht im Bereich Spiritualität ausgebildet. Experten fordern, Spiritualität wieder stärker in Medizin und Pflege einzubinden.

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Mehr als 80 Prozent der Menschen weltweit fühlen sich einer Glaubensrichtung angehörig. Am Ende des Lebens und im Kontext von schweren Krankheiten werden spirituelle Fragen immer relevanter. Trotzdem finden spirituelle und existenzielle Bedürfnisse bislang nur unzureichende Berücksichtigung in der Gesundheitsversorgung.

Nur etwa 9 bis 51 Prozent der Patienten berichten, dass Ärzte oder Pflegekräfte auf ihre existenziellen Anliegen eingehen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Analyse der Harvard University, die 568 internationale Studien zum Thema Spiritualität und schwere Krankheit auswertete (JAMA Network, 2022). Konkret zeigen sich spirituelle Anliegen im Bedürfnis, über den Sinn des eigenen Lebens zu sprechen, über Ängste und Sorgen reden zu können, die Gewissheit zu haben, dass das eigene Leben sinn- und wertvoll war, oder nach innerem Frieden zu suchen.

Pflegefachkräfte in Ausbildung wollen mehr über Spiritualität lernen

Pflegefachkräfte sind häufig die Ersten, die wahrnehmen, wenn Patienten nach Sinn, Trost oder Gott suchen. Oft fehlt ihnen das Wissen und die Erfahrungen, diese wichtigen Fragen sinnvoll und einfühlsam mit Patienten zu besprechen.

Eine aktuelle Übersichtsarbeit (ScienceDirect, 2025) von 12 Studien zeigt: Pflegestudierende sehen Spiritual Care als wichtigen Teil einer ganzheitlichen Betreuung. Das Thema wird in der Ausbildung allerdings nicht priorisiert und kommt meist zu kurz. In den USA bieten nur 7 Prozent der medizinischen Fakultäten verpflichtende Kurse zu Religion, Spiritualität und Gesundheit an.

Die Studierenden berichten, dass es an klaren Definitionen und systematischer Lehre zu Spiritualität und Spiritual Care fehlt. Viele fühlen sich unsicher, weil sie nie gelernt haben, Gespräche über Spiritualität mit Patienten zu führen und sich auch persönlich wenig mit existenziellen Fragen befasst haben.

Spiritual Care muss frühzeitig in die Ausbildung integriert werden

Die Autoren fordern daher, Spiritual Care frühzeitig und verpflichtend in die Pflegeausbildung zu integrieren – mit praktischen Übungen und Reflexionsmöglichkeiten. So können Pflegefachkräfte sich selbst mit spirituellen Fragen beschäftigen und Sicherheit in ihren eigenen Überzeugungen entwickeln.

Durch frühe Schulung und Normalisierung dieser Themen im Unterricht können Pflegekräfte die spirituellen und existenziellen Bedürfnisse ihrer Patienten erkennen und als integrierten Teil ihrer Arbeit verstehen.

Säkularisierung der Medizin

Die Pflege und Sorge um den Kranken sind historisch tief mit dem Christentum verbunden. Der Begriff der Spiritualität stammt auch aus dem christlichen Kontext. Über Jahrhunderte hinweg waren es vor allem religiös motivierte Orden, die Krankenhäuser und Pflegeheime für arme und hilfsbedürftige Menschen gründeten. Das Ziel war nicht nur körperliche Heilung, sondern die ganzheitliche Begleitung des Menschen auf seinem Weg – auch und gerade im Angesicht des Todes, der als Übergang zum ewigen Leben verstanden wurde.

Mit dem gesellschaftlichen Wandel der Aufklärung, die Medizin als rein naturwissenschaftliche Disziplin verstand (Bioethik aktuell, 08.10.2025), wurde das Thema Spiritualität immer stärker aus der Gesundheitsfürsorge abgetrennt.

Die Wertschätzung von Spiritualität in der Medizin wächst

In den letzten Jahren haben zahlreiche führende Medizinfachzeitschriften anhand empirischer Forschung bewiesen, dass Glaube und Religionsangehörigkeit, gemeinschaftliche Praktiken und persönliche Rituale wie Gebet mit positiven Gesundheitseffekten und geringerer Gesamtsterblichkeit verbunden sind.

Daher bezeichnen Forscher Spiritualität und Religion inzwischen als Determinanten von Gesundheit. Experten betonen zunehmend, dass Spiritualität im Zusammenhang mit schweren Krankheiten und Public Health eine wichtige Rolle spielt.

Basierend auf einer Auswertung von über 586 Studien zu Spiritualität, schwerer Krankheit und Public Health (2000–2022) wurden mittels Delphi-Methode evidenzbasierte, interdisziplinäre Empfehlungen von einer Forschergruppe der Harvard University (in Kollaboration mit einigen anderen amerikanischen Universitäten) entwickelt (Health Affairs 2024). Sie zeigen, wie Spiritualität im Umgang mit Krankheit und Gesundheit systematisch berücksichtigt werden kann.

Personenzentrierte und evidenzbasierte Ansätze

Die erste der Delphi-Empfehlung ruft dazu auf, die Relevanz von Spiritualität als Schutzfaktor der Gesundheit in der Forschung und Gesundheitsprogramme zu berücksichtigen.

Die zweite Empfehlung besteht darin, personenzentrierte und evidenzbasierte Ansätze zur Integration von Spiritualität in die Gesundheitsversorgung zu fördern. Befragungen stellten fest, dass auf klinischer Ebene die spirituellen Bedürfnisse von Patienten noch unzureichend beachtet werden.

Eine randomisierte Studie mit Onkologen zeigte: Patienten, denen existenzielle und spirituelle Fragen gestellt wurden, hatten weniger depressive Symptome, eine höhere Lebensqualität und das Gefühl, dass sich ihre Ärzte stärker persönlich um sie kümmerten.

Schulung zu Spiritualität und Gesundheit ist zentral

Eine weitere Empfehlung, die aus dem Review hervorgeht, ist die Integration von Ausbildungsprogrammen in die Curricula der Gesundheitsberufe. An den Universitäten Duke, Yale, Harvard und Emory werden bereits Programme angeboten, die Gesundheitsfachkräfte zu Spiritual-Care schulen. Studien zeigen, dass Teilnehmende solcher Schulungen häufiger auf spirituelle Bedürfnisse eingehen, was Lebensqualität, personenzentrierte Versorgung und Familienzufriedenheit in Krisensituationen verbessert. Frühe, vertiefte Schulungen und der Austausch mit Patienten und Gemeinschaften können das Verständnis und die Gesprächskompetenz zu spirituellen Themen deutlich verbessern.

Spirituelle Betreuung im Gesundheitssystem durch Seelsorge

Die vierte Empfehlung betont die Bedeutung einer strukturierten spirituellen Betreuung innerhalb von Gesundheitseinrichtungen. Sie fordert, dass Patienten Zugang zu professioneller spiritueller Begleitung erhalten – etwa zu Seelsorger – erhalten.

Auch die Anbindung von Gesundheitseinrichtungen an Kirchengemeinschaften wird als wertvolle Ressource gesehen. Glaubensgemeinschaften bieten soziale und spirituelle Unterstützung und tragen zur seelischen Stabilität bei – insbesondere in Krisen oder bei schwerer Krankheit.

Spiritual Care darf nicht instrumentalisiert werden

Die Sorge um Spiritual Care im Gesundheitswesen sollte allerdings nicht auf bloßes Wohlbefinden oder Kosteneinsparungen reduziert werden. Einer der Spiritual-Care-Pioniere im deutschsprachigen Raum, Erhard Weiher (1941-2024), warnte ausdrücklich vor Fehlinterpretationen: Spiritual Care sei „kein Wellnessprogramm in der medizinischen Versorgung" und diene nicht „vor allem der Ruhigstellung von Patient/-innen" oder wirtschaftlichen Interessen (Weiher, 2021). Vielmehr sind sie Ausdruck der Würdigung dessen, dass jeder Mensch – auch der schwer kranke und sterbende – Träger von Sinn, Identität und spirituellen Ressourcen ist, die ihn in seiner Krankheitsbewältigung stärken können.

Institut für Medizinische
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