Bioethik Aktuell

Interview des Monats: „Der Handlungsdruck in der Pandemie war sehr groß“

Internist Ludwig: Auch in der Pandemie sollten die Werkzeuge einer evidenzbasierten Medizin gelten

Lesezeit: 04:28 Minuten

Univ.-Prof. Dr. Wolf-Dieter Ludwig ist seit 2006 Vorsitzender der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft in Berlin und Mitglied des Management Boards der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA). Im IMABE-Interview erläutert er, warum in der Pandemie Erkenntnisprozesse komplex und Pseudoweisheiten gefährlich sind - und warum Haftungsfragen bald geklärt werden sollten.

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Bioethik aktuell: Viele Verläufe von COVID-19 waren und sind leicht, so dass 20 bis 40 Prozent der infizierten Personen gar keine Symptome haben. Hätte eine frühe Identifizierung der Risikogruppe die Strategie gegen die Pandemie verbessern können? 

Ludwig: Wir hatten im Jahr 2020, als SARS-CoV-2 zum ersten Mal aufgetreten ist, keine genaue Vorstellung davon, was dieses Virus im Körper auslöst. Wir wussten nicht, wie die Infektion verläuft und welche der Folgen möglicherweise lebensbedrohlich sind. Das heißt: Wir haben erst sehr langsam gelernt, welche Personen besonders gefährdet sind und welche Begleitumstände im Krankheitsverlauf gefährlich sind. Von Anfang der Pandemie an wurde davon ausgegangen, dass besondere Risiken nach Infektion mit SARS-CoV-2 für Menschen bestehen, die pulmonale Begleiterkrankungen haben. Dieser Lernprozess ist inzwischen weitgehend abgeschlossen.

Bioethik aktuell: Was war besonders herausfordernd?

Ludwig: Wir haben nach SARS-CoV-2-Infektionen ganz spezielle Komplikationen gesehen, die wir zum Beispiel von einer Influenza-Virus-Infektion nicht kannten. Dazu gehören unter anderem Gerinnungsstörungen und kardiale Komplikationen bis hin zu Spätschäden am Herzen. Auch der Verlauf der Lungenentzündung ist meist vollkommen anders als nach einer Infektion mit dem Influenza-Virus.

Das Virus selbst wirkt stark immunsuppressiv. Das bedeutet: Wenn man eine Infektion durchmacht, kann es sein, dass das Immunsystem – da es ohnehin schon geschwächt ist, wie zum Beispiel bei onkologischen Patienten – gar nicht mehr oder unzureichend funktioniert. Und das ist das Tückische an einer Infektion mit SARS-CoV-2: Sie kann auch verschiedene Autoimmunerkrankungen auslösen. Das Virus ist ein Protein, das in den Körper gelangt und vom Immunsystem als fremd erkannt wird. Falls zu diesem Zeitpunkt keine ausreichende Abwehr besteht, kann es erheblichen Schaden anrichten. Deshalb sind Patienten mit einer Immunsuppression besonders für schwere Krankheitsverläufe von COVID-19 gefährdet. Heute kennen wir den speziellen Krankheitsverlauf, den das neu aufgetretene SARS-CoV-2 und seine Varianten auslöst, sehr viel besser.

Bioethik aktuell: Wissenschaft bedeutet, Dinge zu sagen, die man weiß, aber auch klarzumachen, was man nicht weiß. In der Pandemie entstand mitunter der Eindruck, dass sowohl Wissenschaftler als auch Politiker in ihren Aussagen darüber, was tatsächlich gesichertes Wissen ist, übers Ziel hinausgeschossen sind.

Ludwig: Wir benötigen selbstverständlich auch in einer Situation wie der Corona-Pandemie den „Werkzeugkasten“ der evidenzbasierten Medizin: Wenn man keine vernünftige Evidenz – also wissenschaftlich fundierte Belege aus geeigneten klinischen Studien – hat, sollte man mit Aussagen vorsichtig sein. Im März 2020 erhielt die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) von Jens Spahn – damals noch Gesundheitsminister in Deutschland – eine Liste von Arzneistoffen, die wir hinsichtlich ihrer Wirksamkeit zur Vermeidung von COVID-19 nach SARS-CoV-2 Infektion beurteilen sollten. Wenn man sich diese Liste mit Arzneistoffen heute anschaut, muss man schmunzeln, weil – mit Ausnahme von Remdesivir – bei keinem der erwähnten Arzneistoffe inzwischen eine eindeutig bewiesene Wirksamkeit in der frühzeitigen Behandlung einer SARS-CoV-2 Infektion nachgewiesen werden konnte.

Der Stand der Coronaforschung vom Jahresanfang 2022 findet sich in einer Publikation der „Leibniz-Sozietät der Wissenschaften“. Ich habe mich sehr intensiv mit diesem Thema beschäftigt, auch vor dem Hintergrund, dass zum damaligen Zeitpunkt so viele Pseudoweisheiten verkündet wurden. Wir haben inzwischen ja sowohl gelernt, dass die Impfung sehr selten bei manchen Menschen schwere Nebenwirkungen verursacht, aber auch, dass die Impfung bei einigen geimpften Personen nicht vollständig vor einer Infektion mit SARS-CoV-2 schützt.

Ich sehe bei meiner ärztlichen Tätigkeit als Hämatologe und Onkologe in der Praxis Patienten mit einer schweren Immunsuppression infolge ihrer hämatologischen beziehungsweise onkologischen Erkrankung oder aufgrund einer notwendigen medikamentösen Therapie. Sie machen trotz Impfung eine SARS-CoV-2 Infektion durch, die aber dann meist aufgrund der durch die Impfung erworbenen Immunität nicht mit schweren Komplikationen verbunden ist. Ähnliche Krankheitsverläufe trotz Impfung sehen wir beispielsweise bei Patienten mit rheumatologischen oder Autoimmunerkrankungen.

Bioethik aktuell: Der Handlungsdruck der Politik auf Institutionen, die Arzneimittelsicherheit unabhängig überwachen sollten, war enorm…

Ludwig: Man hätte am Anfang einfach klipp und klar sagen sollen: Es handelt sich um ein völlig neues Virus, dessen Eigenschaften, Krankheitssymptome und Behandlungsmöglichkeiten wir (im Frühjahr 2020) unzureichend kennen. Wir mussten deshalb zwangsläufig sowohl, was die medikamentöse Therapie als auch die Impfung gegen SARS-CoV-2 angeht, mit Überraschungen rechnen. Gleichzeitig war 2020 der Handlungsdruck besonders groß, weil man einerseits sehr schnell wirksame medikamentöse Behandlungsoptionen für schwere Verläufe der SARS-CoV-2 Infektion benötigte, andererseits aber unklar war, ob und inwieweit das 2020 langsam angelaufene Impfprogramm tatsächlich schwere Verläufe, insbesondere bei älteren und/oder immunsupprimierten Personen, verhindern konnte. Erschwerend kam hinzu, dass damals die Wirksamkeit und Sicherheit der neuartigen mRNA-Impfstoffe noch unklar war.

Bioethik aktuell: War nicht auch das Marketing für Impfstoffe übertrieben?

Ludwig: Bei den Impfstoffen hatten wir natürlich angesichts der Bedeutung dieser Impfung und der hierfür infrage kommenden großen Zahl an Personen eine Konkurrenz-Situation bei den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie und deshalb auch ein nicht immer auf evidenzbasierten Ergebnissen basierendes Marketing.

Bioethik aktuell: Die Pharmafirmen hatten mit der EU eine Haftungsfreistellung bei Impfschäden vereinbart. Wie stellt sich die Situation aktuell dar?

Wir verfügen derzeit über sieben Impfstoffe in Deutschland, die alle im Rahmen beschleunigter Verfahren zugelassen sind. Medizinjuristen beschäftigen sich derzeit intensiv mit der Frage der Haftung, da für gesundheitliche Schäden im Zusammenhang mit der Impfung gegen SARS-CoV-2 die pharmazeutischen Hersteller zunächst von der Haftung für Impfschäden freigesprochen waren. Dies bedeutet, dass der Staat finanziell für gesundheitliche Schäden nach der SARS-CoV-2 Impfung aufkommen musste.

Den großen Vorteilen einer schnellen Impfstoffentwicklung in der Pandemie, die mit großen Unsicherheiten auch hinsichtlich der Sicherheit der Impfstoffe verbunden waren, stehen auf der anderen Seite auch gravierende Leiden aufgrund von Post-/Long-COVID und Post-Vac gegenüber.

Die Häufigkeit beider Zusammentreffen in den Komplexitätsfällen und der pandemische öffentliche Impfdruck sind derzeit Anlass für rechtspolitische Überlegungen zur Einrichtung eines Entschädigungs- und Härtefallfonds in Stiftungsform, der einem sozialen Aufopferungsgedanken zum Ausgleich solcher schwerwiegender Schäden folgt. Deshalb sollte natürlich rasch geklärt werden, wie lange diese Befreiung von der Haftung gilt, angesichts der großen Umsätze, die pharmazeutische Unternehmer durch ihre Impfstoffe erzielt haben.

Das Gespräch führte Bioethik aktuell-Redakteur Rainer Klawki.

Institut für Medizinische
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