Ageismus beinhaltet auch, welche Erwartungen wir in der Gesellschaft oft an ältere Menschen haben, zum Beispiel, dass sie körperlich und geistig aktiv bleiben, und niemandem zur Last fallen sollen. Eine weitere Facette, die Altersdiskriminierung umfasst und die mir als Psychologin als die wichtigste erscheint: Es gibt einen Ageismus, den ältere Menschen gegen sich selbst richten, die Überzeugung, dass man im Alter nichts mehr wert ist, nichts mehr kann, nicht mehr attraktiv ist.
Welche Auswirkungen haben ageistische Haltungen auf ältere Menschen?
Wir wissen mittlerweile aus sehr vielen Studien, dass diese Konfrontation mit Ageismus gravierende negative Auswirkungen für Individuen hat. Als älter werdender Mensch ageistisch behandelt zu werden, verursacht Stress, macht uns passiver und macht uns nachweislich kränker – körperlich und psychisch –, kognitiv eingeschränkter, weniger zufrieden mit unserem Leben und mindern unseren Lebenswillen.
Für die Gesellschaft ist Ageismus ein riesiges Problem, das sich aktuell noch schwer beziffern lässt. Aber wenn man sich überlegt, wie sehr in den genannten Beispielen älteren Menschen Schaden zugefügt bzw. Ressourcen vorenthalten werden und dadurch Potenziale ungenutzt bleiben, dann kann man sich ja ausmalen, dass Altersdiskriminierung auch ein massives volkswirtschaftliches Problem ist, das sich auch entsprechend monetär beziffern lässt.
Apropos Geld: Welche Rolle spielt die demografische Entwicklung in der Einstellung zu älteren Menschen? Wenn wir etwa an Kanada denken, wo bereits jährlich vorgerechnet wird, wieviel Geld sich durch - wie es dort heißt, „Euthanasie“ - eingespart werden kann…
Der 38-jährige Japaner Yasuke Narita, Assistenzprofessor für Wirtschaftswissenschaften an der amerikanischen Eliteuniversität Yale, hat Anfang 2023 medienwirksam vorgeschlagen, dass die ältere Bevölkerung in Japan Massensuizid begehen sollte. Seine Begründung: Er sieht die Volkswirtschaft durch die überalterte Gesellschaft bedroht. Hier werden also Suizide aus rein ökonomischen Gründen von älteren Menschen eingefordert. Ältere Menschen werden zu Suiziden gedrängt unter Berufung auf die Erwartung, dass man der Allgemeinheit im Alter nicht zur Last fallen soll.
So drastisch traut sich das kaum jemand in der Öffentlichkeit zu formulieren. Dennoch suggeriert dieser Fall eine beunruhigende Verknüpfung zwischen der Altersnorm des sozialen Rückzugs, am besten nicht zur Last fallen und der Einstellung gegenüber Suiziden im Alter. Dass es hier Zusammenhänge gibt, zeigen auch erste wissenschaftliche Belege.
Eine repräsentative Umfrage aus dem Jahr 2022 in Deutschland zeigte, dass assistierter Suizid bei gesunden Menschen mittleren Alters eher abgelehnt wird. Handelt es sich aber um gesunde ältere Menschen, fällt die Zustimmung zum assistierten Suizid höher aus. Das zeigt ja im Grunde, dass eine gewisse Abneigung gegenüber ihrem Leben besteht – nämlich die Zustimmung zum früher herbeigeführten Tod.
Es gibt Kulturen, in denen ältere Mitglieder der Gesellschaft einen sehr hohen Stellenwert genießen, mit Respekt behandelt werden und als weise Ratgeber gelten. Ihre Forschung in Deutschland hat gezeigt: Ein Drittel der Teilnehmer einer repräsentativen Umfrage erwartet, dass sich ältere Menschen gesellschaftlich zurückziehen und nicht zur Last fallen sollten. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?
Zunächst einmal klingt „ein Drittel der Befragten“ nach einer relativ kleinen Anzahl. Aber stellen Sie sich einmal vor, man würde dieselbe Aussage über andere Bevölkerungsgruppen treffen, Frauen, Menschen mit Behinderungen, Queere oder Personen mit Migrationsgeschichte. Da würde ein Aufschrei durch die Gesellschaft gehen, oder?
Die Zahlen sind deshalb problematisch, weil sich hinter dieser „gesellschaftlichen Altersnorm des Nicht-Zur-Last-Fallens“, wie wir das in der Forschung nennen, in hohem Maße altersdiskriminierende Einstellungen und Verhaltenstendenzen verstecken. Und das Schlimme ist: Oft sind es sogar die älteren Menschen selbst, die diese Haltung verinnerlicht haben.
Wir müssen genauer hinsehen, was hier eigentlich passiert: Es werden hier Erwartungen formuliert, wie man sich als ‚guter alter Mensch‘ zu verhalten hat. Solche Erwartungen liefern dann Rechtfertigung dafür, ältere Menschen zu benachteiligen oder zu bewerten, wenn sie von der Altersnorm abweichen. Dahinter steckt im letzten die Vorstellung, dass ältere Menschen gesellschaftlich nicht mehr produktiv oder innovativ sind.
In derselben Befragung zeigte sich deutlich: Die Aussage „Alte Menschen tragen zum Fortschritt unserer Gesellschaft entscheidend bei“ wurde von etwas mehr der Befragten abgelehnt – 53 Prozent – als befürwortet, das waren 47 Prozent.
In Österreich ist das Suizidrisiko der 75- bis 79-Jährigen mehr als doppelt und jenes der 85-Jährigen fünfmal so hoch wie in der Durchschnittsbevölkerung. In Deutschland betraf im Jahr 2023 knapp die Hälfte aller Suizide die Altersgruppe 65 und älter. Worin liegen Ihrer Meinung nach die Ursachen? Gibt es nachgewiesene Zusammenhänge zwischen Altersdiskriminierung und erhöhter Suizidrate?
Das ist eine zentrale Frage, und die Antwort ist erschreckend einfach: Die Form des Ageismus, die wahrscheinlich mit dem größten Suizidrisiko einhergeht, ist die subjektive Wahrnehmung als alter Mensch nicht mehr ernstgenommen, ignoriert, übergangen oder benachteiligt zu werden.
Es entsteht eine gegen sich selbst gerichtete Ablehnung nur aufgrund des Alters. Diese erwarteten und gespiegelten Verhaltensmuster werden dann verinnerlicht. Da finden sich dann Glaubenssätze wie „Ich bin so alt, ich kann mich nicht mehr verändern.“ „Ich bin so alt, es interessiert sich keiner mehr für mich.“ oder „Ich bin so alt, ich halte mich zurück.“. Die Selbstabwertung macht gestresst, passiv und vermindert massiv den Lebenswillen. Und dazu gibt es mittlerweile wirklich überzeugende neue Forschungsbefunde.
Sie haben sich viel mit der Beziehung von Psychotherapeuten und älteren Patienten beschäftigt. Haben Therapeuten eine andere Einstellung, wenn es um Depressionen und Suizide – einschließlich assistierter Suizide – bei älteren Menschen geht? Wird hier im gleichen Maße wie bei Jüngeren Suizidprävention angestrebt?
Das ist leider ein eher ernüchterndes Kapitel. Unsere eigenen Studien zeigen nämlich, dass auch unter Psychotherapeutinnen und -therapeuten – und da unterscheiden sie sich weder von der Normalbevölkerung noch von anderen Ärzten und Ärztinnen und Menschen in anderen Gesundheitsberufen – tendenziell durch oft unbewusste ageistischen Einstellungen gegenüber älteren Patienten voreingenommen sind. Konkret heißt das: Wenn es sich um ältere Patienten mit Depression und Todeswünschen handelte, zeigten Therapeuten und Therapeutinnen weniger positive Einstellungen und negative Emotionen im Vergleich zu jungen und mittelalten Patienten.
Auch waren sie weniger davon überzeugt, dass eine Behandlung überhaupt effektiv sein könnte. Sie stellen schlechtere Prognosen und hatten weniger Interesse daran, eine Behandlung anzubieten. Und – das finde ich besonders problematisch – sie fühlten sich häufiger nicht kompetent genug für die Fälle von hochaltrigen Patienten. Da stellt sich doch die Frage: Wie soll Suizidprävention funktionieren, wenn schon die Fachkräfte mit solchen Vorurteilen an die Behandlung herangehen?
Das klingt nach einem ziemlichen Widerspruch zur wissenschaftlichen Evidenz...
So ist es! Aus der Wissenschaft zeigt sich ein völlig anderes Bild: Es gibt klare Evidenz dafür, dass ältere Menschen mit Depressionen und sogar Todeswünschen positiv auf Psychotherapie reagieren und davon profitieren. Trotzdem sind Psychotherapeuten häufig abgeneigt, ältere Patienten zu behandeln und zweifeln an der Wirksamkeit einer Therapie.
Zusätzlich zu einem „Age Bias“ gibt es noch den sogenannten „Health Bias“ – die Annahme, dass Therapien aufgrund der beeinträchtigten körperlichen Gesundheit weniger effektiv und nützlich sind.
Aufgrund des Zusammenspiels dieser beiden Einstellungen erfahren ältere Menschen mit Depressionen und Todeswünschen im Zusammenhang mit chronischen körperlichen Erkrankungen regelmäßig Diskriminierung. Und die Folgen einer solchen Diskriminierung können im Hinblick auf Suizidgedanken für diese leidenden Menschen fatal sein.
In der Schweiz ist bereits jeder zweite assistierte Suizid eine Person über 80 – überwiegend Frauen. In den Niederlanden sind 80 Prozent aller Fälle von „Tötung auf Wunsch“ Senioren ab 60 Jahre und Hochaltrige – überwiegend Frauen. Was sagen uns diese Zahlen besonders über den gesellschaftlichen Umgang mit hochaltrigen Frauen?
Diese Zahlen sind erschreckend und zeigen etwas sehr Bedenkliches: Ältere Menschen – und hier besonders Frauen – spüren und verinnerlichen den Ageismus der von problematischen gesellschaftlichen Altersnormen ausgeht. Die ablehnenden Botschaften, die an ältere Menschen oft unbewusst gesendet werden, können gravierende Folgen haben. Eine besonders drastische Auswirkung von Ageismus ist, wenn Hochaltrige assistierten Suizid begehen. Nicht weil sie an einer schnell zum Tod führenden Krankheit leiden und dies nicht ertragen wollen, sondern weil sie die latente gesellschaftliche Erwartung verinnerlicht haben: dass man als alter Mensch nicht zur Last fallen soll und sich zurückziehen soll. Und das betrifft, wie die Zahlen deutlich zeigen, vor allem Frauen.
Das Gespräch führte IMABE-Redakteurin Debora Spiekermann.