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Beihilfe zum Suizid: eine kritische Analyse

Mag. Susanne Kummer
Stand: September 2021

Der österreichische Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat im Dezember 2020 das Verbot der „Hilfeleistung zum Selbstmord“ für verfassungswidrig erklärt. Das bisherige gesetzliche Verbot der Hilfeleistung zum Suizid in § 78 des Österreichischen Strafgesetzbuchs (StGB) verstoße gegen das Recht auf Selbstbestimmung, urteilte der VfGH1 (Urt. v. 11.12.2020, Az. G 139/2019). Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasse „sowohl das Recht auf die Gestaltung des Lebens als auch das Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“. Es sei deshalb verfassungswidrig, jede Art der Hilfe zur Selbsttötung ausnahmslos zu verbieten, befanden die Richter. Die „Tötung auf Verlangen“ (§ 77 StGB) sowie das Verleiten eines anderen zur Selbsttötung bleiben weiterhin strafbar. Anlass für den VfGH-Entscheid waren vier Anträge gegen §77 und §78 StGB, die ein Wiener Anwalt mit Unterstützung des international agierenden Schweizer Sterbehilfevereins Dignitas eingebracht hatte.

Die Hilfe zum Suizid durch Dritte ist mit 1. Jänner 2022 straffrei. Bis dahin wird dem Gesetzgeber empfohlen, Maßnahmen zu treffen, um „Missbrauch“ zu verhindern. Noch ist offen (Stand: September 2021), ob beim Suizid nur unter bestimmten Voraussetzungen kooperiert werden darf (Volljährigkeit, Vorliegen einer schweren Erkrankung usw.) oder ob die Mitwirkung straffrei z.B. auch für Suizidwillige ohne lebensbedrohliche Erkrankung, Gesunde, aber Lebensmüde, psychisch Kranke oder Kinder möglich sein wird. Entsprechende Gesetzesvorschläge sollen dem Parlament erst im Herbst 2021 vorliegen. Beschließt das Parlament bis Ende des Jahres keine Neuregelung, ist ab 1. Jänner 2022 jede Form der Beihilfe zum Suizid straffrei.

Heftige Kritik an der VfGH-Entscheidung kam u.a. von Seiten der Österreichischen Ärztekammer (ÖÄK), der Österreichischen Palliativgesellschaft, des Dachverband Hospiz, der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik (ÖGPP), Behindertenvertretern, des Seniorenbund Österreich sowie der Österreichischen Bischofskonferenz (vgl. IMABE Dossier: Sterbehilfe-Stellungnahmen).

Aus ethischer Sicht bedeutet die Proklamation der „Beihilfe zur Selbsttötung“ als Garant eines „Rechts auf menschenwürdiges Sterben“ eine tektonische Werteverschiebung. Die gesetzlich ermöglichte Mitwirkung an Suiziden durch Dritte setzt nämlich voraus, dass der Suizid zumindest als wertneutral oder unter bestimmten Bedingungen als „gut“ angesehen wird. Wenn sich ein Mensch das Leben nehmen will, alleine oder durch Mitwirkung eines Dritten, ist dies jedoch nicht wertneutral. Ein Suizid bedeutet letztlich immer eine tragische Absage an sich selbst und an seine Mitmenschen. Im Suizid-Report 2021 der WHO heißt es: „Jeder Suizid ist eine Tragödie“.2 Der Suizid gibt keine Antworten, sondern reißt viele Fragen auf. Jeder Suizid ist einer zu viel. Im Falle des assistierten Suizids kommt erschwerend hinzu, dass ein Außenstehender involviert wird, die Selbsttötung eines anderen ermöglicht und damit seine Zustimmung signalisiert („Es ist gut, dass dich nicht gibt“).

Wer die Hand zur Tötung reicht, zeigt sich nicht solidarisch, sondern lässt den Kranken, Verzweifelten oder Einsamen mit seinen Nöten alleine – ein Verhalten, das den Erkenntnissen aus der Suizidforschung eklatant widerspricht. Menschen, die keinen Sinn mehr im Leben sehen, leiden, sich als Last fühlen und in einer existenziellen Krise keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich das Leben zu nehmen, brauchen ein heilsames Gegenüber. Jemand, der ihre Nöte ernst nimmt und ihnen lebensbejahende Auswege aufzeigt, anstatt sich mit ihren Suizidgedanken zu solidarisieren.

Der Suizid zählt zu den wichtigsten vermeidbaren Todesursachen. Beihilfe zum Suizid bedeutet genauer betrachtet also nicht Ermöglichung von Selbstbestimmung, sondern de facto Fremdbestimmung durch unterlassene Hilfeleistung in der Straße der Verzweiflung.

Schon Immanuel Kant (1724-1804) sieht im Selbstmord nicht einen Ausdruck von, sondern die Absage an die Autonomie des Menschen. Mit dem Akt der Selbsttötung zerstöre der Mensch sich selbst als Subjekt von Autonomie und Sittlichkeit, jenen Grundlagen also, die ihm erst ermöglichen, aus Freiheit zu handeln. Selbsttötung bedeutet im letzten nicht Gewinn an Selbstbestimmung, sondern endgültigen Verlust von Freiheit.

In diesem Kontext scheint die quasi gesetzliche „Aufwertung“ des Suizids als Ausdruck von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung höchst fragwürdig. Zwar hat der VfGH den Gesetzgeber aufgefordert, Missbrauch zu verhindern und Menschen zu schützen, deren Wunsch zu sterben gar nicht so selbstbestimmt ist, wie es zunächst scheint. Doch wo der Staat die Hand zum Suizid reicht und Selbsttötung (oder Tötung auf Verlangen) zu einem Akt autonomer Selbstbestimmung erklärt, hat dies Signalwirkung: Damit wird das Konzept der Suizidprävention ausgehöhlt und die damit einhergehenden Bemühungen untergraben.

Zahlreiche Studien belegen, dass das wirksamste Mittel, um Leben zu retten, darin besteht, den Zugang zu Suizidmethoden zu erschweren (z.B. strenges Waffengesetz, Schutzkonzepte bei Autobahnbrücken, Suchtmittelgesetz)). Wo jedoch das Angebot erleichtert wird, steigen unweigerlich die Zahlen. So weist die Schweiz mit 2.178 Suiziden im Jahr 2018 bei annähernd gleicher Einwohnerzahl fast doppelt so viele Suizide auf wie Österreich (1.209).3 Diese Zahl setzt sich aus 1.176 assistierten Suiziden und 1.002 „normalen“ Suiziden zusammen. 87 Prozent der Fälle der Beihilfe zum Suizid, die vor allem von Sterbehilfe-Vereinen geleistet wird, waren Pensionisten (Alter: 65+). Die Zahl der „harten“ Suizide ist zwischen 2010 und 2018 stabil geblieben ist, hingegen hat sich im selben Zeitraum die Zahl der assistierten Suizide bei Bürgern mit Wohnsitz in der Schweiz verdreifacht (!).

Allerdings wird in der offiziellen Schweizer Todesursachenstatistik mit beschönigend mit zweierlei Maß gemessen: Während „harte“ Suizide als „vorsätzliche Selbstbeschädigung“ geführt werden und Angaben zu Begleiterkrankungen wie Depressionen gemacht werden, scheinen die assistierten Suizide als normale Sterbeursache auf. Der Suizid erscheint in der Todesursachenstatistik bloß als "Begleitumstand des Todesfalls“, nicht als Ursache.

In der Deklaration zu Euthanasie und Assistiertem Suizid (2019) hält die World Medical Association (WMA)4  fest: „Ärztlich assistierter Suizid und Euthanasie sind grundsätzlich abzulehnen.“ Ärzte seien verpflichtet, Leiden zu lindern und die Selbstbestimmung der Patienten zu achten. Sich an Tötungsoptionen zu beteiligen, sei unethisch. „Wo die Assistenz des Arztes absichtlich darauf gerichtet ist, einem Individuum zu ermöglichen, sein eigenes Leben zu beenden, handelt der Arzt unethisch.” Ethisch sei das Verhalten eines Arztes dann, wenn er „das Grundrecht des Patienten auf Ablehnung der medizinischen Behandlung“ achte.

Die WMA unterstreicht damit klar, dass Tötung und Mitwirkung an der Selbsttötung keine medizinischen Handlungen darstellen. Wenn Suizidassistenz zu einer ärztlichen Leistung würde, würde damit das Berufsethos des Arztes beschädigt und das Arzt-Patienten-Verhältnis ausgehöhlt. Denn: Ärztliche Beihilfe zum Suizid beinhaltet ein Werturteil: Das Werturteil, dass der Suizidwillige in seiner Verzweiflung über sein Leben fällt – das er für nicht mehr lebenswert oder lebenswürdig erachtet – und dem der Arzt/die Ärztin schließlich zustimmen würde.

Sowohl die ÖÄK, die OPG und die ÖGPP plädieren klar dafür, dass die Mitwirkung am Suizid grundsätzlich keine ärztliche Aufgabe ist. Eine medizinische Indikation gäbe es „nur zum Heilen, nicht zum Töten“. Auch das Verschreiben entsprechender Präparate zur Selbsttötung lehnt die Ärztekammer ab. Ärzte dürften nur Heilmittel verschreiben, nicht aber Gifte, die töten.5

Es wäre demokratiepolitisch höchst bedenklich, wenn der Staat Suizidbeihilfe als ärztliche Leistung definiert. Damit würden Ärzte oder Apotheker strukturell verpflichtet, sich am Prozess von Selbsttötungen zu beteiligen –  sei es in der Begutachtung, Verschreibung von tödlichen Präparaten oder im Falle der Apotheker des Aushändigens von Giften. Die wäre ein Tabubruch für den ärztlichen Auftrag. Ein liberaler Rechtsstaat sollte das Ethos respektieren, das sich eine freie Berufsgruppe selbst gegeben hat. Dieses besteht darin, Menschen in Krankheit beizustehen, zu heilen, Leiden und Schmerzen zu lindern, zu begleiten – aber nicht den Tod zu verursachen. Töten ist keine Therapieoption.

Die Geschichte – etwa der Rolle der Ärzte im Dritten Reich, aber auch heute – mahnt: Wenn das ärztliche Ethos korrumpiert und ein Werteverlust in der Ärzteschaft schleichend Einzug hält, kann dies buchstäblich fatale Folgen für die Patienten haben. So zeigen die offiziellen Daten aus den Niederlanden, dass im Jahr 2015 Ärzte in 431 Fällen Patienten ohne deren explizite Einwilligung getötet hatten. Dazu kommen noch weitere rund 1.700 Todesfälle, in denen Medikamente von Ärzten zumindest teilweise mit Tötungsabsicht gegeben wurden. Als Begründung geben Ärzte „Mitleid“ an: Das Leben dieser Patienten sei in ihren Augen nicht mehr lebenswert gewesen.

Welcher Kulturwandel zu beobachten ist, wenn der Staat Tötungswünsche nur noch regelt, statt seiner Schutzpflicht für Menschen in vulnerablen Situationen wie Krankheit, Alter oder sozialer Isolation nachzukommen, zeigt sich in etlichen Ländern auf erschreckende Weise: In den Niederlanden starben im Jahr 2020 täglich 19 Menschen durch Euthanasie, wie sie dort genannt wird. 75 Prozent aller Fälle von Tötung-auf-Verlangen betreffen Menschen im Alter zwischen 60 und 90 Jahren. In Kanada, wo seit 2016 Tötung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung erlaubt sind, haben Gesundheitsökonomen bereits vorgerechnet, dass dank der Ausweitung der Euthanasie auch auf chronisch und psychisch Kranke jährlich 149 Mill. Kanadische Dollar eingespart werden können. Umgekehrt wird die Versorgung von Sterbenden erschwert. So musste im Februar 2020 in Westkanada das erste Hospiz schließen. Der Trägerverein hatte sich geweigert, Tötung auf Verlangen im Hospiz durchzuführen, worauf die Gesundheitsbehörde die finanziellen Mittel strich. In der Schweiz wächst der Druck auf die Kantone, Sterbehilfe-Organisationen den Zutritt in Alten- und Pflegeheime zu ermöglichen. Entsolidarisierung geht schneller, als man denkt.

Ist das Tabu der Tötung auf Verlangen einmal gebrochen, ist der Schritt zu einer gesellschaftlichen Normalität, die schließlich zu einer sozialen Pflicht mutiert, nicht weit. Kranke, schwache oder vulnerable Menschen fühlen sich in unserer dominierenden Leistungsgesellschaft ohnehin schon häufig als „Last“ für andere. Der Gedanke, dass sie den ganzen Aufwand (Zeit, Geld, Personal usw.) ihrer Umgebung jederzeit ersparen könnten, schwingt stillschweigend mit oder wird anhand ökonomischer Kosten-Nutzen-Rechnungen illustriert. Der Pflegebedürftige gerät unter einen Rechtfertigungsdruck, aber auch ein Gesundheitssystem, das sich Therapie, Pflege oder Hospiz noch leistet. Aus dem Recht auf den „begleiteten Suizid“ wird schleichend eine Pflicht zum „sozialverträglichen Frühableben“. Die Selbstbestimmung kippt unversehens in Fremdbestimmung. Hier sind Machtstrukturen wirksam, die es klar zu benennen gilt."

Medial wird häufig das Beispiel von jungen oder im mittleren Alter stehenden Menschen gezeichnet, die schwerkrank sind und aus Angst vor künftiger Abhängigkeit und Leiden selbstbestimmt einem „unwürdigen Tod“ entrinnen wollen. De facto ist jedoch die gefährdetste Gruppe jene der Senioren und Hochaltrigen. Aus der Suizidforschung ist bekannt, dass bis zu 90 Prozent der vollendeten Suizide im Zusammenhang mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen stehen. Gerade in der Gruppe der Senioren spielen unentdeckte Altersdepressionen eine große Rolle.

Jährlich sterben rund 1.100 Menschen durch Suizid in Österreich: Das sind mehr als 3 Suizide pro Tag in Österreich und mehr als 2,5mal so viele Suizide wie Verkehrstote bzw. mehr als 6 vollbesetzte A 320 Flugzeuge pro Jahr. Auch in Österreich sind ältere Menschen besonders gefährdet: Das Suizidrisiko ist hierzulande in der Altersgruppe der 75- bis 79-Jährigen fast 2,5-mal, in der Altersgruppe der 85- bis 89-Jährigen fast 5-mal so hoch wie jenes der Durchschnittsbevölkerung. Es braucht also dringend neue und weitgehendere Konzepte, wie man Suiziden vorbeugen kann.

Aus der Suizidforschung wissen wir, dass ein Suizidgefährdeter gar nicht dem Leben entrinnen will. Er oder sie will nicht nicht leben, sondern nicht mehr so leben. Studien zeigen zudem, dass das Hauptmotiv für den Todeswunsch nicht körperlicher Schmerz ist, sondern psychische Belastungen wie Depression, Hoffnungslosigkeit und Angst.

Die Suizidforschung belegt, dass Suizide gerade bei älteren Menschen oftmals aus großen Lebensängsten (z.B. Einsamkeit und Hilflosigkeit) oder Verlusterfahrungen resultieren, die sich in seelischen Schmerzen niederschlagen. Seelische Schmerzen können Suizidgedanken fördern, auch ohne pathologische Ursache. So gaben im US-Bundesstaat Oregon Personen, die Beihilfe zum Suizid in Anspruch nehmen wollen (75 Prozent davon waren Senioren) im Jahr 2020 folgende drei Hauptgründe für ihren Entschluss an:6

  • 94 Prozent: „weniger in der Lage zu sein, an Aktivitäten teilzuhaben, die dem Leben Freude geben“ (Sinnverlust)
  • 93 Prozent: Angst vor einem „Verlust von Autonomie“ und damit Sorge, Last für andere zu werden
  • 72 Prozent: Furcht vor einem „Verlust an Würde“

Daraus wird klar ersichtlich: Nicht körperliche Schmerzen, sondern existentielle Nöte sind der Hauptgrund für den Wunsch nach Beihilfe zum Suizid. Kaum thematisiert wird in diesem Kontext, dass auch sozioökonomische Faktoren eine Rolle spielen. So zählen 74 Prozent der Suizid-Beihilfe-Willigen in Oregon zur einkommensschwachen Bevölkerung. Bestimmte medizinische Leistungen sind für sie unerschwinglich, während der assistierte Suizid als kostengünstigeres Verfahren von Ärzten angeboten wird.

In den Niederlanden steigt die Zahl der Sterbehilfe-Fälle bei Senioren, die keine schwere Erkrankung aufweisen, aber unter dem Altwerden leiden. In 1.605 Fällen von Tötung auf Verlangen/ assistiertem Suizid wurde ein sog. „multiples geriatrisches Syndrom“ (MGS) offiziell zwischen 2013 und 2019 als Grund für „aktive Sterbehilfe“ gemeldet.7 Ältere Menschen empfinden ihr Leben dann als „unerträglich“, wenn existentielle Krisen und Einsamkeit die Sinnhaftigkeit ihres Lebens in Frage stellen. Die Frage, was unerträglich ist, lasse sich in diesem komplexen Zusammenspiel von physischem, psychischem und existenziellem Leiden nur schwer beantworten.

In diesem Zusammenhang erscheint es höchst problematisch, dass der VfGH den Eindruck erweckt, als ob die „selbstbestimmte“ Selbsttötung der unhinterfragbare Ausdruck menschlicher Freiheit sei. Solch einem Verständnis von Selbsttötung ist entgegenzuhalten, dass die Entscheidung, sich das Leben zu nehmen, zu jedem Zeitpunkt die Reaktion auf eine dramatische Grenzsituation im Leben ist, die als aussichtslos empfunden wird.8 Jedem Suizidwunsch haftet eine Tragik an.

Bei Patienten oder älteren Menschen kann der Satz fallen: „Ich will nicht mehr“ oder „Lasst mich lieber sterben.“ Das kann man gut nachfühlen. Gleichzeitig wird Senioren, die die Hauptzielgruppe der Beihilfe zum Suizid/Tötung auf Verlangen sind, zunehmend vermittelt, dass Altwerden eine Krankheit ist und die Therapie für existentielle Nöte Tötung bedeutet.

Diese Entwicklungen müssen dem österreichischen Gesetzgeber zu denken geben. Das Bild des freien, selbstbestimmten Todes gerät angesichts des älteren Menschen, der sozial vereinsamt immer mehr Angst vor seiner Hinfälligkeit bekommt und deshalb Tötung auf Verlangen oder Beihilfe zum Suizid wählt, ins Wanken. Die Antwort auf Alterseinsamkeit, Depressionen und Hoffnungslosigkeit kann nicht Tötung sein, sondern ruft nach medizinischer Hilfe, Beratung und Beistand.

Wenn der Staat die Hand zur Tötung reicht, in dem Beihilfe zum Suizid oder Tötung auf Verlangen legalisiert werden, gibt es kein prinzipielles Argument mehr gegen eine weitere Ausweitung sog. „Sterbehilfe-Gesetze“. Prinzipielle Gründe für ein Verbot der Tötung eines Menschen werden aufgeweicht und durch pragmatische (Ausnahmeregelung) ersetzt. Jede Ausnahme, die zur Regel wird, wird selbst wiederum Gegenstand von Ausnahmen. So werden die Kriterien laufend ausgeweitet und entziehen sich im konkreten Fall schließlich auch der Kontrolle, wie die empirischen Daten zur Handhabung der Beihilfe zum Suizid und Tötung auf Verlangen zeigen.

Das zeigen die erschreckende Entwicklung in Ländern wie den Niederlanden, Belgien oder Kanada. „Euthanasie“, wie sie dort unverblümt genannt wird, war anfangs nur unter strengen Bedingungen erlaubt, etwa für Schwerstkranke, wenn der Tod in absehbarerer Zeit zu erwarten ist. Innerhalb weniger Jahre wurde die Zielgruppe ausgeweitet auf neue Personengruppen: Chronisch kranke Menschen, psychisch Kranke mit Depressionen, drohender Demenz und Borderliner, auch Kinder und Minderjährige und Senioren ohne lebensbedrohliche Erkrankungen, die einfach genug haben vom Leben, können dort mittlerweile Töten auf Verlangen in Anspruch nehmen. In den Niederlanden halten Experten deshalb das System mittlerweile für „gescheitert“. Auch in der Schweiz arbeiten Sterbehilfe-Vereine daran, den assistierter Suizid auch für gesunde, aber Lebensmüde anbieten zu dürfen.

Eine Rechtsordnung, die zwar das Recht auf assistierten Suizid einräumt, aber kein Recht auf persönliche Assistenz, psychotherapeutische Betreuung oder Palliativversorgung, kann nicht von gleichwertigen Handlungsoptionen oder „Wahlfreiheit“ ausgehen. Denn es ist viel leichter, jemanden zu finden, der ein Suizidpräparat besorgt, als jemanden der einem tagtäglich, vielleicht jahrelang und kostenlos dabei hilft, sein Leben zu leben. Was es also braucht ist Assistenz zum Leben - nicht Hilfe zur Selbsttötung. Bedauerlicherweise ist zu erwarten, dass die vom Verfassungsgerichtshof geschaffene Rechtslage dazu führen wird, dass Menschen ihr Leben als unwürdig oder als eine Belastung für andere betrachten und dadurch unter Druck geraten, ihre Existenz rechtfertigen zu müssen oder gar ihr Leben zu beenden.

Das zentrale Anliegen im Sinne der Suizidprävention und Solidarität bleibt daher Menschen zu begleiten und nicht ihnen beim Suizid zu helfen. In Politik und Gesellschaft braucht es dafür ein größeres Bewusstsein für die Fragilität des Selbstwertgefühls, für Gefahren, die die Legalisierung des assistierten Suizids mit sich bringt.

Selbstbestimmung wurde schon bislang vom Gesetzgeber hochgehalten. Jeder kann Behandlungen ablehnen, auch wenn dies sein Sterben beschleunigt oder zu seinem Tod führt. Außerdem darf laut Gesetz niemand gegen seinen Willen behandelt werden (§ 110 StGB). Mit Instrumenten wie der Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht sind Patienten in Österreich ermächtigt, hinsichtlich ihres Lebensendes Entscheidungen zu treffen. Im Rahmen der Palliativmedizin ist Ärzten Rechtssicherheit gegeben, schmerzlindernde Maßnahmen zu treffen, auch wenn dies unter Umständen das Risiko einer Lebensverkürzung beinhaltet (§ 49a ÄrzteG). Eine palliative Versorgung ermöglicht Schmerzen fast vollständig zu vermeiden sowie medizinisch, pflegerisch und psychosozial begleitet in Würde aus dem Leben zu scheiden. All diese Maßnahmen zielen auf eine Lebenshilfe im Sterben ab (vgl. IMABE-Info: Ethische Aspekte der Behandlung am Lebensende, September 2021).

Es gibt ein Recht darauf, dass Sterben nicht unnötig verlängert wird. Umso wichtiger ist es, dass Ärzte und Pflegende im Bereich der Palliative Care flächendeckend ausgebildet werden. So fordert die Grazer Erklärung zum assistieren Suizid (18.8.2021) einen Rechtsanspruch für alle in Österreich lebenden Menschen auf Palliativ- und Hospizbetreuung sowie auf psychosoziale Suizidprävention.

Ziel eines Rechtsstaates kann es nicht sein, Tötungswünsche zu regeln, sondern Menschen in verletzlichen Lebensphasen zu schützen und ihnen Hilfe zum Leben statt „Sterbehilfe“ zu geben. Vielleicht sollten wir dem Wort Sterbehilfe seinen ursprünglichen Sinn wiedergeben. „Hilfe beim Sterben“ braucht nämlich jeder Mensch: Begleiten, Angst und Schmerzen nehmen – aber nicht das Leben nehmen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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