Niederlande: Proteste gegen die immer laxer gehandhabten Euthanasie-Regeln mehren sich

Imago Hominis (2018); 25(2): 082-085
Susanne Kummer

25 Jahre nachdem in den Niederlanden ein Meldeverfahren für Fälle von Tötung auf Verlangen verpflichtend eingeführt wurde, beginnen Ärzte, Ethiker und Politiker zunehmend am eigenen Euthanasie-System zu zweifeln. Im Jahre 2002 waren die Niederlande das weltweit erste Land, das die Euthanasie, wie sie dort unverblümt genannt wird, legalisierte.

Das Recht auf einen selbstbestimmten Tod wurde als Errungenschaft der liberalen Gesellschaft gefeiert, die die Autonomie des Individuums schützt – bis zum Tod. Doch inzwischen wird offen diskutiert, ob nicht doch etwas falsch läuft. Die Indizien verdichten sich, dass die Freigabe der Beihilfe zu Selbsttötung oder der Tötung auf Verlangen Autonomie nicht fördert – sondern Gefahr läuft in eine neue Form von Paternalismus zu kippen, also in jene Haltung, wo allein Ärzte in Anspruch nehmen zu wissen, was für ihre Patienten gut sei. Wenn Ärzte aus Mitleid töten – auch ohne ausdrückliche oder freiwillige Zustimmung der Patienten –, wie dies in den Niederlanden geschieht, dann wird aus der vermeintlichen Selbstbestimmung eine eklatante Fremdbestimmung.

Interessant sind dazu die jüngsten Signale aus den Niederlanden: Aus Protest gegen die steigende Zahl von Demenzpatienten bzw. Menschen mit beginnender Demenz, die durch aktive Sterbehilfe zu Tode kommen, ist die für die Kontrolle gesetzeskonformer Euthanasie zuständige Medizinethikerin Berna van Baarsen Anfang 2018 zurückgetreten. Sie könne den „deutlichen Wandel“ in der Auslegung der Sterbehilfe-Gesetze hin zu tödlichen Injektionen für Menschen mit Altersdemenz nicht mittragen, begründete sie ihren Schritt und löste damit eine breite Debatte aus.

Die Zahl der jährlichen Tötungen in dieser Patientengruppe habe sich in den vergangenen fünf Jahren vervierfacht. Viele Menschen würden den Euthanasie-Arzt aufsuchen, bereits im Anfangsstadium einer Demenz, getrieben von der Angst, später nicht mehr selbst entscheiden zu können. Vorsorge-Euthanasie sozusagen. Van Baarsen gehörte 10 Jahre einem regionalen Euthanasie-Kontrollkomitee an. Sie ist nicht das einzige Mitglied, das den Euthanasieprüfungsausschuss verließ. Vor drei Jahren trat auch der Ethiker Theo Boer zurück und wurde zu einem harten Kritiker des niederländischen Euthanasie-Systems.

Auch in Belgien ist jüngst ein Neurologe aus der Kontrollkommission für aktive Sterbehilfe (FCEE) ausgetreten, berichtet das Deutsche Ärzteblatt.1 Auch hier war der Auslöser ein Demenzpatient, der aktive Sterbehilfe erhielt. In seinem offenen Brief teilte Ludo Vanopdenbosch dem belgischen Parlament mit, warum er sich für den Austritt entschied. Mit 2013 wurde in Belgien die Möglichkeit zur Euthanasie auf Demenzerkrankte ausgeweitet. Der Neurologe kritisiert, dass die Kontrollkommission weder „unabhängig“ noch „objektiv“ sei. Der Arzt nimmt Bezug auf einen Fall von September 2017, bei dem ein Demenzpatient mit einer erhöhten Dosis von Schmerzmitteln getötet wurde. „Keine Bedingung, die im Gesetz beschrieben wurde, außer der Bericht danach, wurde erfüllt“, kritisiert der Arzt. Vanopdenbosch zufolge wurde der Patient auf Wunsch der Familie getötet.

In der Kontrollkommission sei eine Zwei-Drittel-Mehrheit für einen Beschluss nur knapp verfehlt worden, um den Bericht an die Staatsanwaltschaft weiterzuleiten. „Die Beweggründe von denen, die das Dossier nicht weiterleiten wollten, sind von fundamentaler politischer Art“, schreibt er. Sie befürchteten, dass es weniger aktive Sterbehilfe in Wallonien geben könnte, besonders bei aktiver Sterbehilfe von Demenzpatienten. Mit dieser Entscheidung habe sich die Kontrollkommission FCEE als „obsolet“ erwiesen, schreibt der Neurologe in seinem Brief ans Parlament.

Die beiden Vorsitzenden der Kontrollkommission, Wim Distelmans und Gilles Genicot, argumentieren, dass der Arzt den Prozess „irrtümlicherweise“ als aktive Sterbehilfe beschrieben habe. Ihnen zufolge hätte er sie „Palliative Sedierung“ nennen sollen. Distelmans, selbst Onkologe und Palliativmediziner, zählt übrigens zu den führenden Euthanasie-Ärzten Belgiens. Seine Diktion ist in gewisser Weise verräterisch: Viele Euthanasie-Fälle werden offenbar gar nicht als solche gezählt, sondern unter „Palliativer Sedierung“ subsumiert.2

Alle fünf Jahre führen die Niederlande eine offizielle Studie über End-of-Life-Entscheidungen im eigenen Land durch, um festzustellen, wie die Menschen sterben und ob Bedenken gegenüber dem Euthanasiegesetz angebracht sind. Die Daten zeigen, dass im Jahr 2015 Ärzte in 431 Fällen ohne explizite Einwilligung ihre Patienten getötet hatten.3 Dazu kommen noch weitere rund 1.700 Todesfälle, in denen Medikamente von Ärzten zumindest teilweise mit Tötungsabsicht gegeben wurden. Laut offiziellem Euthanasie-Report starben im Jahr 2017 6.585 Menschen durch Tötung auf Verlangen. Das sind gegenüber dem Vorjahr 8 Prozent mehr und inzwischen 18 Menschen täglich.

Der prominente Psychiater Boudewijn Chabot zeigt sich erschrocken. Er gilt als Befürworter und Vorkämpfer der Euthanasiegesetze seines Landes. Die gesetzliche Regelung aus dem Jahr 2002 sieht vor, dass der Arzt überzeugt sein muss, dass der Todeswunsch auf freiwilliger Basis und nach reiflicher Überlegung erfolgt, das Leiden des Patienten unerträglich ist, keine Aussicht auf Besserung besteht und der Patient über seine Prognose gut informiert ist. Zudem sollte der Arzt zusammen mit dem Patienten zur Ansicht gelangen, dass es keine vertretbare Alternative gibt. Ein weiterer, unabhängiger Arzt muss den Patienten begutachten und schriftlich bestätigen, dass diese Sorgfaltskriterien erfüllt sind.

Doch, so Chabot: „Das System in den Niederlanden ist entgleist“ und er ergänzt: „Ich weiß nicht, wie wir den Geist wieder in die Flasche zurückbekommen.“4 Dem Psychiater zufolge brechen die gesetzlichen Schutzmaßnahmen für die Sterbehilfe langsam weg, Menschen mit psychiatrischen Leiden oder Demenz würden nicht mehr geschützt, gleichzeitig würden die finanziellen Mittel zur Versorgung dieser Patienten gekürzt. Besorgt beobachtet er, wie insbesondere die sog. „Lebensende-Klinik“ immer mehr Zulauf bekommt: Sie bietet jenen Patienten eine Tötung auf Wunsch an, wo Ärzte diese zuvor abgelehnt hatten. Auffallend ist, dass 2016 in dieser Klinik 75 Prozent der Euthanasiefälle von Patienten mit psychiatrischen Diagnosen stattfand.

Chabot ist mit seiner Sorge nicht alleine. Mehr als 200 niederländische Ärzte hatten im Februar 2017 öffentlich gegen Euthanasie bei fortgeschrittener Demenz protestiert.5 „Unsere moralische Abneigung, das Leben eines wehrlosen Menschen zu beenden, ist zu groß“, schrieben die Ärzte. Sie seien nicht bereit, jemandem bloß aufgrund einer Patientenverfügung aktive Sterbehilfe zu leisten, ohne aktuelle mündliche Zustimmung.

Die Zahl von Menschen mit einer psychiatrischen Krankheit oder Demenz, die durch Euthanasie sterben, nimmt drastisch zu: 2009 fanden 12 Fälle bei Demenzkranken statt, im Jahr 2017 waren es bereits 189 Fälle, bei chronischen psychiatrischen Patienten stieg die Zahl von 0 auf 83. Eine sog. Akkumulation von altersbedingten Einschränkungen im Sehen, Hören oder Beweglichkeit sowie Osteoporose war in 293 Fällen hinreichender Grund, um eine Tötung auf Verlangen durchzuführen.6

Laut Statistik steht das Gros der Menschen, die Euthanasie für sich wählen, im letzten Drittel ihres Lebens: 75 Prozent aller Menschen, die 2017 in den Niederlanden aktive Sterbehilfe in Anspruch nahmen, waren zwischen 60 bis 90 Jahre alt. Die Akzeptanz aktiver Sterbehilfe führt dazu, dass diese zu einer normalen Option wird, sein Leben – mitunter auch in jungen Jahren – zu beenden, freiwillig – oder eben auch nicht so freiwillig.

Die Details jenes Falles, in dem 2017 erstmals eine holländische Ärztin von den Behörden „gerügt“ wurde, sind jedenfalls pikant. Die Ärztin hatte zunächst einer Demenz-Patientin ohne deren Zustimmung ein Beruhigungsmittel in den Kaffee gemischt. Es gab keine gültige Erklärung der rund 80-jährigen Frau, wonach sie den aktuellen Wunsch hatte, getötet zu werden. Die Ärztin wiederum gab an, dass die Frau aus ihrer Sicht unerträglich leide. Als die Patientin sich mit Händen und Füßen gegen die tödliche Injektion wehrte, holte die Ärztin die Angehörigen zu Hilfe, um die Frau festzuhalten.7 Der Fall wurde der Regionalen Tötungskommission Euthanasie gemeldet. Diese rügte die Ärztin, beschied ihr aber, dass sie „in gutem Glauben gehandelt“ habe. Es kam zu keinem Gerichtsverfahren.

Offenbar hat der Fall aber nun dazu geführt, dass die Regionalen Tötungskommissionen nach 15 Jahren nun doch vereinzelt Fälle melden, in denen nicht alles mit rechten, im Sinne von gesetzeskonformen Dingen zugegangen zu sein scheint. Immerhin: Erstmals hat die Staatsanwaltschaft im März 2018 angekündigt, vier Euthanasie-Fälle näher untersuchen zu wollen.8 Allerdings kann dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das niederländische Rechtssystem offenkundig versagt hat. Es gibt keinen Schutz von vulnerablen Personen, Töten aus Mitleid ist salonfähig geworden.9 Aber: Töten ist niemals eine Therapie, Töten heißt Versagen.

Das Schema für die Einführung der aktiven Sterbehilfe oder des assistierten Suizids ist jedenfalls immer das selbe: Prinzipielle Gründe für ein Verbot der Tötung eines Menschen werden aufgeweicht, durch pragmatische (Ausnahmeregelung) ersetzt – und diese sind dehnbar, weil jede Ausnahme ja wieder eine Regel ist, und damit allgemein ist – also weitere Ausnahmen nach sich zieht.10 Der Staat wird zudem als Kontrolleur ans Sterbebett geholt, ja es gibt theoretisch kaum einen so bürokratischen Tod wie die Tötung auf Verlangen oder den assistierten Suizid. Die Bürokratie führt jedoch nicht zu mehr Transparenz, wie die empirischen Daten zur Handhabung der Euthanasie aus den Niederlanden und Belgien zeigen:11 Denn trotz aller Papiere entzieht sich die Umsetzung schließlich der Kontrolle.

Zum anderen: Der Staat will nur offiziell zertifizierte Todeswünsche als selbstbestimmt gelten lassen, beschränkt auf Schwerkranke. Warum gerade die Autonomie des Kranken, der durch physische und psychische Nöte beeinträchtigt ist, für den Gesetzgeber höherwertiger ist als jene der Gesunden, lässt sich eigentlich nicht einsehen.

Denn warum, so könnte man zu Recht fragen, soll die Erfüllung von Todeswünschen nur auf Schwerkranke beschränkt bleiben? Sind Gesunde nicht genauso selbstbestimmt? Oder Pensionisten, Menschen mit Liebeskummer oder Häftlinge, die meinen, das Leben habe nichts Gutes mehr mit ihnen vor? Wer sagt eigentlich, dass die Autonomie des Kranken zum Töten legitimiert, nicht aber die Autonomie des Gesunden? Die Niederlande beantworten diese Frage mit einem konsequenten Pragmatismus: der tödliche Medikamentencocktail – als Angebot für alle. Das ist zwar zynisch – aber auch wieder konsequent.

Gemeint ist der Vorschlag der niederländischen Gesundheitsministerin Edith Schippers. Sie plädierte im Jahr 2016 dafür, dass auch über 75-Jährige, die gesund und rüstig sind, aber irgendwie vom Leben genug haben, Unterstützung beim Suizid erhalten dürfen. Das Gefühl einer gewissen Lebenssattheit sollte ausreichendes Motiv sein, um Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können. Dann sei der Staat dazu gerufen, „Barmherzigkeit“ zu zeigen. Einzig nötig sei, dass die Entscheidung autonom gefällt werden muss, ohne Druck von außen, also freiwillig. Weder muss eine schwere Erkrankung noch unerträgliches Leiden vorliegen. Die Letzte-Wille-Pille sollten Senioren in Hinkunft auf Rezept selbst in der Apotheke abholen können – und unter Aufsicht eines Arztes einnehmen.

Die Entwicklung in den Niederlanden ist erschreckend. Der Staat regelt Tötungswünsche nur noch, aber er verabsäumt es, seiner Schutzpflicht für Menschen in vulnerablen Situationen wie Krankheit, Alter oder sozialer Isolation nachzukommen. Es bleibt abzuwarten, ob aus den aktuellen Protesten von Ärzten eine Bewegung entsteht, die in den Niederlanden eine neue Kultur des Beistands am Lebensende statt aktiver Sterbehilfe auslöst. In nur wenigen Jahren entstand ein Kulturwandel, bei dem aktive Sterbehilfe zu einer normalen Option mutiert ist, aus dem Leben zu gehen, wobei dies nicht immer freiwillig geschieht. Die fundamentale Angewiesenheit des Menschen und sein Eingebundensein in Gemeinschaft wird ausgeblendet. Kein Mensch lebt für sich allein, kein Mensch stirbt für sich allein.

Referenzen

  1. Deutsches Ärzteblatt, 1.3.2018 (online).
  2. Weixler D., Palliative Sedierungstherapie - Richtlinien und Grauzonen, Imago Hominis (2018); 25(2): 105-112, S. 107.
  3. Zentrales Statistikbüro, 24.5.2017 (online).
  4. Interview im NRC Handelsblad, 16.6.2017 (online).
  5. NRC, 9.2.2017 (online).
  6. Vijftien jaar euthanasiewet: belangrijkste cijfers 2017, Regionale Toetsingscommissies Euthanasie, 7.3.2018, www.euthanasiecommissie.nl/actueel/nieuws/2018/maart/7/vijftien-jaar-euthanasiewet-belangrijkste-cijfers-2017
  7. Vgl. Dailymail, 28.1.2017 (online).
  8. Het OM wil nu zélf grenzen euthanasie onderzoeken, nrc.nl, 8.3.2018 www.nrc.nl/nieuws/2018/03/08/het-om-wil-nu-zelf-grenzen-euthanasie-onderzoeken-a1594903
  9. Vgl. Kummer  S., Sterbehilfe: Zwischen Selbstbestimmungsenthusiasten und ökonomischen Zwängen, Imago Hominis (2015); 22(3): 151-155.
  10. Pöltner G., Das Problem einer gesetzlichen Regelung von Extremfällen, in: Hoffmann T. S., Knaup M. (Hrsg.), Was heißt: In Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens, Springer, Wiesbaden (2015).
  11. Kummer S., Ex in the City, in: Hoffmann T. S., Knaup M. (Hrsg.), Was heißt: In Würde sterben? Wider die Normalisierung des Tötens, Springer, Wiesbaden (2015).

Anschrift der Autorin:

Mag. Susanne Kummer
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