Editorial

Imago Hominis (2023); 30(1): 003-005
E. H. Prat

Für Patienten ist jeder Aufenthalt im Krankenhaus oder im Pflegeheim mit Leid, Krisen und Emotionen verbunden. Mit Unbehagen und Unsicherheit beladen, blicken sie in die Zukunft, vor allem, wenn sie den Tod – begründet oder unbegründet – herankommen sehen. Eine wichtige Funktion von Ärzten und Pflegenden besteht deshalb darin, diesen Stress für Patienten oder Heimbewohner abzufedern. Dies erfordert neben einer fürsorglichen medizinischen und pflegerischen Betreuung auch eine individuell angemessene empathische Kommunikation.

Die Patienten und Bewohner sollen spüren, dass sie nicht als bloßer Befund, als Zimmernummer, sondern als Person wahrgenommen werden. Dem können Hindernisse entgegenstehen. Sie können einerseits in einer individuellen Überforderung der im Gesundheitsbereich Tätigen liegen. Andererseits erschweren auch strukturelle Ursachen eine würdevolle Begleitung. Es fehlt die Zeit für eine individuelle Betreuung, weil es zu wenig Ärzte und Pflegepersonen gibt. Das wiederum belastet Ärzte, ganz besonders jedoch die Pflegenden, die in der Regel viel näher am Patienten bzw. Bewohner sind.

Der starke Mangel an Fachkräften im Gesundheitswesen spitzt sich in Österreich und Deutschland zu – und er ist besorgniserregend. Laut einer aktuellen Studie von der PricewaterhouseCoopers GmbH (PWC 2022) werden in Deutschland im Jahr 2030 ein Viertel der notwendigen ärztlichen Stellen und fast ein Drittel der Stellen in der Pflege nicht mehr besetzt werden können. Bis zum Jahr 2035 soll die Situation noch dramatischer werden. Österreich steht nicht viel besser da, vor allem, wenn man berücksichtigt, dass viele Absolventen der medizinischen Universitäten nach Deutschland oder überhaupt in andere Tätigkeitsfelder außerhalb der Krankenbetreuung abwandern.

Welche Ressourcen müssen gestärkt werden, um die persönliche und strukturelle Resilienz in Gesundheitsberufen zu stärken? Wer täglich mit Krankheit, Leid und Sterben konfrontiert ist wie Ärzte und Pflegende, hat berufsbedingt mit hohen Belastungsfaktoren zu rechnen. Wie können diese abgefedert werden, damit daraus kein ungesunder moralischer Stress entsteht? Dies war Thema des interdisziplinären Symposiums „Krisen. Emotionen. Lösungen: Konflikte am Krankenbett“, das vom Institut für Medizinische Anthropologie und Bioethik (IMABE) am 11. November 2022 in Wien veranstaltet wurde. Zentrales Thema der Tagung war das Zwischenspiel von Systemresilienz und persönlicher Resilienz im Umgang mit moralischen und praktischen Stressoren.

Moralischer Stress bezeichnet eine psychische Reaktion auf eine moralische Herausforderung. Moralische Herausforderungen können Unsicherheit, Konflikte, Fehlverhalten oder Handlungsbarrieren auf verschiedenen Ebenen des sozialen Handelns beinhalten, analysiert die Münchner Psychologin und Medizinethikerin Katja Kühlmeyer (LMU München). So können sich jüngere Ärzte oder Pflegende mit ‚unangemessenen Erwartungen‘ konfrontiert sehen. Sie fühlen sich allein gelassen mit Situationen, denen sie sich aufgrund mangelnder Erfahrung oder fehlender Unterstützung durch die Führung nicht gewachsen fühlen. Hier entsteht moralischer Stress, der das ethische Handeln des Einzelnen erschweren oder verhindern kann. Stressfaktoren kann man nur dann vorbeugen, wenn sie adäquat definiert und kategorisiert werden.

Eigene Gefühle zu verstehen und sich konkrete „Oasen der Integrität“ zu schaffen, können im Aufbau der persönlichen Resilienz gegenüber Stressoren hilfreich sein, betont der Sozialethiker, Theologe und Philosoph Clemens Sedmak (University of Notre Dame/USA). Er deutet hierbei auf Schönheit, Freundschaft, Ruhe und Gebet hin, friedenstiftende „Nahrungsmittel der Seele“, um Integrität im Arbeitsalltag zu gewährleisten.

Die Psychologin Barbara Juen und Mitautoren (alle Universität Innsbruck) zeigen, dass Resilienz unterschiedlich ausgeprägt sein kann. Um Stresssituationen auszuhalten, brauchen Mitarbeiter ihr Team. Hauptaufgabe der Führungskräfte ist es, fürsorglich zu sein, Störung rechtzeitig zu erkennen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Dabei müsse man auf die Widerstandsfähigkeit, Erholungsfähigkeit und Wachstumsfähigkeit des Teams fokussieren.

Resilient gegenüber Stressoren, Konflikten und Krisen zu sein bedeutet, mit ihnen zu interagieren und durch diese zu wachsen. Dies muss sowohl auf persönlicher Ebene als auch im Team ermöglicht werden. Der Palliativforscher Andreas Heller (Zentrum für Interdisziplinäre Alterns- und Care-Forschung an der Grazer Karl-Franzens-Universität) erläutert in seinem Beitrag, dass die Lösung nicht einfach in einer ‚professionell‘ emotionalen Distanz gegenüber den Patienten bestehe. Gerade in der Palliativpflege oder bei besonders emotionalen Fällen seien nämlich die physische Präsenz sowie Mitleid und Mitgefühl genauso essenziell wie die medizinische Versorgung, um eine empathische Betreuung zu ermöglichen. Dennoch brauche Fürsorge auch Selbstsorge: Andere lieben, sich um andere sorgen, setzt voraus, dass man sich um sich selbst sorgt und sich selbst liebt.

In Bezug auf zwischenmenschliche Konflikte schlägt die Psychologin und Psychotherapeutin Helga Kernstock-Redl (Wien) vor, Emotionen als positive Ressource zu sehen und die Chancen im Konfliktmanagement zu erkennen. Nicht alle Konflikte sind veränderbar, aber alle haben mit Gefühlen zu tun. Wer also Konflikte bewältigen möchte, muss lernen, seine eigenen Gefühle zu regulieren und sich ‚Gewohnheiten der Selbstberuhigung‘ anzueignen.

Einen praktischen Einblick in einen von Krisen und emotionalen Konflikten geprägten Alltag von Gesundheitsfachkräften gewährt die Pädiaterin Martina Kronberger-Vollnhofer (MOMO-Kinderhospiz, Wien). Bei der Begleitung von schwerkranken Kindern und ihren Familien sei es unabkömmlich, sich auf eine authentische Beziehung mit dem Kind und vor allem mit den gesunden Geschwistern, den Eltern und den Angehörigen einzulassen. Eine gewisse Verletzlichkeit der Gesundheitsfachkräfte ist notwendig, um die vulnerablen Gefühle der Familie ehren und annehmen zu können. Hilfreiche Nähe und heilsame Distanz sind nach Kronberger-Vollnhofer ein dynamischer Prozess, in dem man die Balance immer neu finden müsse. Der Zusammenhalt im Team sei zudem ganz entscheidend, um gemeinsam die Machtlosigkeit aushalten zu können.

E. H. Prat

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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