Editorial

Imago Hominis (2022); 29(3): 143-145
E. H. Prat

Am 11. März 2020 erklärte WHO-Direktor Thedros Adhanom Ghebreyesus die weltweite Ausbreitung des Coronavirus als Pandemie. Rund drei Monate danach thematisierte Imago Hominis unter dem Titel „15 ethische Fragen zur Corona Pandemie“ die ethischen Aspekte des Umgangs mit der COVID-19-Pandemie. Ein Jahr später, als 2021 die ersten Impfstoffe auf dem Markt waren, legten Juristen, Philosophen und Medizinethiker in der Ausgabe Imago Hominis (3/2021) mit dem Titel „Pandemie und Ethik I“ eine erste Evaluierung und Analyse der bisherigen staatlichen Vorgangsweisen und Narrative in der Pandemie-Bekämpfung vor.

Nun stehen wir am Ende des dritten Jahres der COVID-Pandemie. Wie es mit COVID-19 weiter gehen wird, ist nicht leicht vorauszusehen. Die Entwicklung von fast drei Jahren Pandemie deutet darauf hin, dass SARS-CoV-2, das weltweit rund 632 Mio. Krankheitsfälle und rund 6,6 Mio Todesfälle (1,08%) und in Österreich 5.379.734 Krankheitsfälle und 20.971 Todesfälle (0,37%) verursacht hat (Stand 21. Oktober, vgl. www.worldometers.info/coronavirus/), seine Aggressivität und Bedrohlichkeit, nicht zuletzt wegen der Impfung und der Teilimmunität, eingebüßt hat.

Für die Zukunft bedeutet dies, dass wir mit dem Virus leben lernen müssen. Die Gefahr der Überlastung der Gesundheitssysteme wurde gebannt. Dank der Entwicklung von COVID-19-Medikamenten kann die Krankheit besser behandelt werden und sich hinsichtlich der Mortalität auf dem Niveau der Influenza einpendeln. Es bleiben aber medizinische Fragen offen, insbesondere Langzeitfolgen wie Long/Post-COVID.

Diese Zukunftsaussichten lassen einige Debatten der letzten Jahre als obsolet erscheinen. Insbesondere kann man darüber erleichtert sein, dass das Thema einer allgemeinen Impfpflicht vom Tisch ist und damit eine nicht ungefährliche Spaltung der Gesellschaft in zahlreichen Ländern verhindert wurde.

Zur Erinnerung: Ende Dezember 2020 stand der erste Impfstoff gegen SARS-CoV-2 (Comirnaty von Biotech/Pfizer) zur Verfügung. Die Hypothese, wonach im Falle der Impfung des Großteils der Bevölkerung bald eine Herdenimmunität erreicht würde, bewahrheitet sich nicht. Im Frühjahr 2021, als bereits mehrere Impfstoffvarianten verfügbar waren, zogen einige Länder eine Impflicht in manchen Berufen und sogar einen allgemeinen Impfpflicht in Erwägung.

Der Impfzwang stieß in der Bevölkerung als unverhältnismäßiger Eingriff in die Grund- und Freiheitsrechte auf massiven Widerstand und zog öffentliche Proteste in Städten Europas und Nordamerikas nach sich. Die Debatte über die Notwendigkeit der gesetzlichen Einführung eines allgemeinen Impfzwanges war angestoßen.

Österreich beschloss als erstes Land in Europa eine allgemeine Impfpflicht. Das Gesetz wurde aber bereits fünf Monate nach seiner Verabschiedung per 14. Juli 2022 wieder außer Kraft gesetzt.

Schließlich zeigte sich, dass die derzeit verfügbaren Impfstoffe vor einer Ansteckung nicht richtig schützen, sondern nur bewirken, dass bei der Infektion mit den neuen vorherrschenden Mutanten des Virus vorwiegend milde Krankheitssymptome auftreten. Das Gesundheitssystem war nicht überlastet, eine Einschränkung von Persönlichkeits- und Freiheitsrechten somit nicht zu rechtfertigen.

Die nun vorliegende Imago Hominis-Ausgabe kann auf zweieinhalb Pandemie-Jahre zurückblicken. Die zeitliche Distanz sowie gewonnene Erfahrungen erlauben eine vertiefte und kritische Analyse. Der Nationalökonom Karl Farmer (Universität Graz) analysiert die verschiedenen Aspekte des Dilemmas in der ersten Phase der Pandemie: Wie kann gleichzeitig der Verlust an Menschenleben und an Vermögen möglichst niedrig gehalten werden? Die Politik habe sich letztlich für die kostspieligeren Eindämmungsmaßnahmen – mehrfache harte Lockdowns – entschieden, trotz deren fraglicher Effektivität. Einer der Gründe lag in der stärkeren „Verwicklung“ von Wissenschaft und Politik. Politikern fehlte der Mut, eingeschlagene Pfade zu korrigieren, flüchtige Vorteile und Aktivismus spielten eine Rolle.

Die Medienberichterstattung zur COVID-19-Pandemie hat alle bisherigen Dimensionen von Wissenschaftsjournalismus gesprengt. Redakteure waren Tag und Nacht mit Corona befasst, obwohl sie bislang nichts mit Wissenschaftsjournalismus zu tun hatten. Selbst für Fachjournalisten war es kaum möglich, komplexe Zahlen und Angaben einzuordnen, die Gefahr vorläufiges Wissen als „Wahrheit“ zu präsentieren, war groß. Der Medizinjournalist Rainer Klawki (Köln) geht selbstkritisch der Rolle des Wissenschaftsjournalismus in der Corona-Krise nach.

Die Altersforscher Franz Kolland, Karoline Bohrn, Lisa Hengl und Katrin Lehner (Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Krems/Donau) zeigen in ihrem Beitrag, wie problematisch, weil diskriminierend, die während der COVID-19-Pandemie vielfach diskutierte Schutzbedürftigkeit von älteren Personen und deren Adressierung als Risikogruppe aus soziologischer Perspektive gewesen ist.

Der langjährige Geschäftsführer der Gesundheit Österreich GmbH Georg Ziniel (Wien) befasst sich mit der Triage. Ein für alle Beteiligten formulierter Handlungsrahmen soll gerechte Entscheidungen unterstützen und willkürliche ausschließen. Dafür braucht es Empfehlungen, die in einem Prozess der Konsensfindung entstehen. Damit bieten sie auch medizinischen, rechtlichen und ethischen Schutz und Unterstützung für diejenigen, die individuelle Entscheidungen treffen müssen.

Wilhelm Donner (Wien) legt, ausgehend von Michel Foucault, das spannungsreiche Verhältnis von Politik und Wissenschaft dar. Wissenschaft, die der Politik Gewissheit verschaffen soll, muss selbst mit hohen Ungewissheiten operieren. Die Wissenschaft liefert daher Orientierungswerte bzw. sie operiert in Fällen wie der Corona-Pandemie nicht im ‚Wissens-Modus‘, sondern im ‚Orientierungs-Modus‘.

Der Jurist Jakob Cornides (Brüssel) kritisiert die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom 23. Juni 2022. Dieser hatte im Hinblick auf den Lockdown 2021 eine sachliche Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung von Religion und Kunst in Abrede gestellt.

Die Juristin Sophia Kuby (Alliance for Defending Freedom, Wien) lädt zu einem differenzierten Blick auf das jüngste Urteil in den USA, wo ein verfassungsmäßiges Recht auf Schwangerschaftsabbruch aufgehoben wurde.

E. H. Prat

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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