Die Welt nach Roe

Imago Hominis (2022); 29(3): 146-148
Sophia Kuby

Die öffentliche Meinung im Westen – ob diesseits oder jenseits des Atlantiks – überbot sich in Entrüstung über das Urteil des Obersten Gerichtshofs der USA vom 24. Juni 2022 zur Frage, ob Abtreibung als verfassungsmäßiges Recht anzusehen sei. Das Entsetzen über ein „Ende der Frauenrechte“ oder die „Rückkehr ins Mittelalter“ verkannte, dass sich die USA mit der Rechtslage von Roe v. Wade unter die einzigen vier Staaten der Welt mit extremen Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch einreihte, unter ihnen Nordkorea und China. Durch Roe war Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit (ca. 22. Woche) erlaubt, was nur in acht Ländern weltweit der Fall ist. Viele Bundesstaaten erlaubten sie allerdings bis zur Geburt.

Mit sechs zu drei kamen die Richter zum Schluss, dass das Hineinlesen eines solchen Rechts in die Verfassung ein schwerwiegender Fehler gewesen sei, den es nun zu korrigieren gelte. Das Urteil selbst macht Abtreibung in den USA weder illegal noch nimmt es Stellung zur Frage an sich. Vielmehr ändert es den Rahmen, in dem sich der Gesetzgeber zu der Frage bewegen kann. Mit dem Ende von Roe kann nun überhaupt wieder eine demokratische Debatte zu entsprechenden Gesetzen geführt werden. Es liegt nun bei den Bundesstaaten, wie sie eine zutiefst moralische Frage politisch regeln wollen.

185 Jahre lang, seit der Verabschiedung der amerikanischen Verfassung, war es rechtlich gesehen Sache der Bundesstaaten, das Thema Abtreibung im demokratischen Prozess zu regeln. Dann kam das Urteil im Fall Roe v. Wade im Jahr 1973. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass die Verfassung ein Recht auf Abtreibung enthielte, obwohl nichts dergleichen in der Verfassung stand. Genau das hat der Gerichtshof nun im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health Organization als “egregious mistake” bezeichnet, also als einen herausragenden Fehler, und hat diese 49 Jahre andauernde Fehlinterpretation der Verfassung korrigiert. Die Sprengkraft des Falls geht jedoch weit darüber hinaus.

Richter Samuel Alito, der Verfasser des Urteils, gehört rechtsphilosophisch zu der Gruppe von Richtern, die sich auf die „ursprüngliche Bedeutung“ (original meaning) der Verfassung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung berufen. Da die Verfassung kein Recht auf Abtreibung enthält, ergründet er die Frage, ob sich ein solches Recht historisch oder aus einer in der Nation tief verankerten Tradition ableiten ließe.

Die Gegenfraktion sieht die Verfassung als „lebendiges Instrument“ (living instrument), das sich in der Interpretation der Richter an die Gegebenheiten der Zeit und die Mehrheitsmeinungen der Bevölkerung anzupassen habe. Wenn das Volk also ein Recht auf Abtreibung, eine Neudefinition der Ehe oder Sterbehilfe will, müsse und könne es irgendwie in die in der Verfassung erwähnten Begriffe von Freiheit und den „gleichen Schutz für alle“ hineininterpretiert werden. So stand denn auch seit Roe die “equal protection clause” in der Kritik der Vertreter des “original meaning” an Universitäten und in Juristenkreisen, da sie mit genug Interpretation theoretisch die Erhebung von fast allem zum Verfassungsrecht ermöglichte. Kritiker bezeichnen dies als “judicial activism”, also eines Rechtsaktivismus, der einen Missbrauch der rechtsprechenden Befugnis hin zu einer quasi rechtsetzenden Funktion des Gerichts bedeute.

Das Urteil im Fall Dobbs stellt genau das infrage. Mit Blick auf die usprüngliche Bedeutung des Verfassungstextes hob nun Richter Alito Roe v. Wade mit folgender Argumentation auf: „Es steht zu Abtreibung nichts in der Verfassung und die Verfassung schützt auch nicht implizit ein Recht darauf. Es ist an der Zeit, die Verfassung zu achten und das Thema Abtreibung den vom Volk gewählten Vertretern zurückzugeben.“

Die abenteuerliche juristische Akrobatik, mittels derer der Gerichtshof im Fall Roe v. Wade vor fast 50 Jahren ein Recht auf Abtreibung in die Verfassung hineinlas – und ihm damit sogar Verfassungsrang zumaß – wurde bereits damals von Juristen jeder Coleur als schlecht begründet kritisiert. Selbst Rechtsexperten, die für Abtreibung waren, erkannten an, dass das Urteil nicht einmal den Versuch einer stichhaltigen Begründung eines solchen Verfassungsrechts darstellte, es aber dennoch nötig gewesen sei, so zu urteilen, da Frauen Zugang zu Abtreibung bräuchten.

Als Roe 1973 entschieden wurde, war Abtreibung noch in 46 Bundesstaaten fast gänzlich verboten. Durch Roe wurden mit einem Schlag die meisten Abtreibungsgesetze für nichtig erklärt. Damals erklärte Richter Byron White, einer von zwei Richtern mit abweichender Meinung, dass Roe eine „Ausübung roher Macht durch das Gericht“ darstellte. Genau das wurde nun in Dobbs von den Richtern bestätigt: Roe war eine unerhörte und fehlgeleitete Machtaneignung des Obersten Gerichtshofs.

Die juristische Sophisterei in Roe wurde 1992 im Fall Planned Parenthood v. Casey fortgesetzt. Denn obwohl das Urteil die juristisch schwache Argumentation in Roe nicht bestätigte und sogar ‚Vorbehalte‘ der Richter zu einem Verfassungsrecht auf Abtreibung zu erkennen gab, fand das Gericht dennoch einen Weg, das ‚Recht auf Abtreibung‘ beizubehalten. Außerdem führte Casey das Kriterium der „unzumutbaren Last“ ein, das auf der Lebensfähigkeit des ungeborenen Kindes außerhalb des Uterus (viability) fußte. Diese kann zwar als Zeitpunkt nicht präzise festgestellt werden, sie wird jedoch generell auf das Ende des zweiten Trimesters der Schwangerschaft datiert. Das Recht auf Abtreibung blieb, und den Bundesstaaten wurde verboten, Gesetze zu erlassen, die eine „unzumutbare Last“ für die abtreibungswillige Frau darstellten, allerdings ohne Kriterien dafür zu geben, welcher Grad des gesetzlichen Lebensschutzes eine ‚zumutbare‘ oder eine ‚unzumutbare‘ Last für die Frau sei. Mit Casey untersagten die Richter also den Bundesstaaten, per Gesetz das Leben des ungeborenen Kindes in den ersten beiden Trimestern zu schützen.

Die Richter argumentierten in Casey außerdem, dass der Respekt vor dem Obersten Gericht und vor der Rechtsstaatlichkeit es gebiete, Roe aufrechtzuerhalten, selbst wenn das Urteil falsch gewesen sei. Grundlage für diese Sichtweise war das Rechtsprinzip des stare decisis, das besagt, dass Entscheidungen des Gerichts nicht dem vorhergehenden Präzedenzfall widersprechen dürfen.

Casey war der Versuch, die erhitzte und polarisierte Abtreibungsdebatte zu befrieden. Dieses Ziel wurde jedoch weit verfehlt, denn Abtreibung ist nach wie vor nicht nur ein von allen Seiten leidenschaftlich diskutiertes, sondern mittlerweile ein wahlentscheidendes Thema in den USA geworden.

Seit Casey drehte sich die juristische Debatte zum Thema Abtreibung vor allem um die Frage, ob es möglich sei, vorangegangene Rechtsprechung als Fehler anzuerkennen und durch ein neues Urteil aufzuheben.

Das jetzige Urteil in Dobbs geht deswegen auch auf diese zentrale rechtspolitische Frage ein und erinnert an mehrere Urteile des Obersten Gerichtshofs, die bis dato geltende Präzedenzfälle aufhoben. Eines von zahlreichen Beispielen der Korrektur vorangegangener Urteile ist die 1954 erfolgte Aufhebung des Urteils Plessy v. Ferguson, das 50 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei die Segregation von schwarzen Bürgern in Schulen und anderen Einrichtungen erlaubt hatte. Auch das bezeichnete der Oberste Gerichtshof im Nachhinein als Fehler und korrigierte ihn in einem Folgeurteil. Das Urteil in Dobbs kann also auch als Korrektur der Kontinuitätsdoktrin angesehen werden, da es der Kontinuität der Rechtsprechung zwar Wichtigkeit beimisst, sie aber nicht als sklavisch zu befolgendes Dogma einstuft, das es unmöglich machen würde, Fehlentscheidungen des Gerichts zu korrigieren. Eine solche Korrektur darf allerdings nicht verwechselt werden mit einer beliebigen Neuinterpretation der Verfassung je nach Mode oder Mehrheitsmeinung, sondern muss im Gegenteil in einer Rückkehr zum ursprünglichen Verfassungssinn begründet sein. Nicht Zeitgeist, sondern Treue zum Text ist also das Kriterium, das einen Bruch mit der Kontinuität vorangegangener Rechtsprechung rechtfertigt, ja sogar gebietet, wie es nun in Dobbs geschehen ist.

In diesem Sinn argumentierte dann auch Richter Alito. Während das Rechtsprinzip des stare decisis zurecht die Integrität und Kontinuität der Rechtsprechung trotz schwankender weltanschaulicher Mehrheiten im Richterkollegium bewahren will, argumentierte Alito in Dobbs, bedeute stare decisis nicht, dass der Gerichtshof den „Missbrauch der richterlichen Vollmacht“, der sowohl in Plessy als auch in Roe stattgefunden habe, unendlich fortsetzen müsse. Es geht in Dobbs also nicht um eine weltanschaulich motivierte Aufhebung eines Präzedenzfalls, sondern um die Feststellung, dass Roe v. Wade von Anfang an grundlegend falsch und schlecht begründet war und es nötig sei, die gesetzgeberische Macht den Bundesstaaten zurückzugeben.

Der Gerichtshof machte allerdings mit Dobbs noch ein weiteres Fass auf. Die Amerikanische Verfassung enthält im 14. Amendment eine sogenannte due-process-Klausel. Diese besagt, dass der Staat keinen Bürger in seinen Grundrechten auf Leben, Freiheit und Eigentum ohne ein ordentliches Verfahren einschränken darf (also das Recht auf Anhörung, auf eine neutrale Entscheidungsinstanz etc.). Seit Mitte des 20. Jahrhunderts setzte sich nach und nach das Konzept des substantive due process durch. Dieses liest in das Recht auf ein ordentliches Verfahren substanzielle Rechte hinein, allem voran das Recht auf ‚Privatsphäre‘. Aus einem so interpretierten ‚Recht auf Privatsphäre‘ wurden im zweiten Schritt neuartige ‚Grundrechte‘ wie eben ein ‚Recht auf Abtreibung‘ geschaffen. Das Konzept des substantive due process wird mit dem Urteil in Dobbs grundlegend in Frage gestellt.

Was also nun mit dem Dobbs-Urteil vom 24. Juni 2022 auf dem Spiel steht, ist nichts weniger als das Ende eines sich über die letzten Jahrzehnte entwickelten Selbstverständnisses der Gerichte, die sich zunehmend die Rolle des Gesetzgebers angeeignet haben, anstatt sich auf die Interpretation des geltenden Rechts zu beschränken.

Dieser fundamentale Richtungswechsel könnte auch international erhebliche Bewegung in eine kaum noch infrage gestellte Aufweichung der Gewaltenteilung zwischen der Judikative und der Legislative bringen.

Anschrift der Autorin:

Sophia Kuby M.A.
Leiterin der Abteilung Strategische Beziehung und Ausbildung
Alliance Defending Freedom International (ADF)
Postfach 5, A-1037 Wien
skuby(at)adfinternational.org
www.adfinternational.org

Alliance Defending Freedom ist eine weltweit tätige juristische Menschenrechtsorganisation. Ihr Hauptsitz (ADF International) ist in Wien. ADF hat gemeinsam mit dem Bundesstaat Missisippi das Gesetz entworfen und vor dem Obersten Gericht verteidigt, das zum Ende von Roe v. Wade geführt hat.

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