Bewertung der Multicenterstudie: Efficacy and safety of recombinant human activated protein C for severe sepsis

Imago Hominis (2001); 8(2): 140-142
(Bernard, G.R. et al.; N Engl J Med (2001); 344: 699-709)

Fragestellung

Drotrecogin alfa, ein rekombinantes humanes aktiviertes Protein C hat antithrombotische, antiinflammatorische und profibrinolytische Eigenschaften. In einer früheren Studie konnte gezeigt werden, dass Drotrecogin die Entzündungsmarker und auch die Koagulationsmarker bei Patienten mit schwerer Sepsis reduziert.

In einer randomisierten, plazebokontrolllierten doppelblinden Multicenterstudie wurde die Frage untersucht, ob die Behandlung mit Drotrecogin die Mortalitätsrate bei Patienten mit schwerer Sepsis reduzieren kann.

Methodik

Es wurden 1690 Patienten mit Sepsis und consecutivem akuten Organversagen in die Studie aufgenommen. Sie erhielten entweder Drotrecogin 24µg/kg/h i.v. oder Placebo über 96 Stunden. Als primärer Endpunkt wurde die Mortalität nach 28 Tagenfestgelegt. Weiters wurden unerwünschte Wirkungen und eine Reihe von Laborparameter monitorisiert.

Ergebnisse

Die Mortalitätsrate nach 28 Tagen betrug 30,8% in der Placebogruppe und 24,7% in der Drotrecogingruppe. Dies entspricht einer relativen Risikoreduktion von 18,4% bzw. einer absoluten Reduktion von 6,1% (p=0,005). Als auffälligste Komplikation fand sich eine erhöhte Blutungsneigung unter Drotrecogin mit 3,5% verglichen zu 2,0% in der Placebogruppe (p=0,06).

Diskussion

Die Autoren schließen aus den Ergebnissen, dass durch die Behandlung mit Drotrecogin von 16 Patienten mit schwerer Sepsis 1 Patientenleben zusätzlich gerettet werden kann. Das Sicherheitsprofil im Bezug auf die mit der Behandlung in Zusammenhang stehenden Blutungskombinationen sei akzeptabel. In einem Kommentar zur Studie in derselben Ausgabe des N. Engl. J. Med. wird empfohlen, dass die Substanz allen Patienten, die die Einschlusskriterien der Studie erfüllen, verabreicht werden soll.

S.O.M.-Analyse

Stufe 1: Wirkungsnachweis

Da es sich um eine randomisierte kontrollierte Doppelblindstudie handelt, kann den Ergebnissen ein hoher Evidenzgrad zugesprochen werden. Eingeschränkt wird die Wahrscheinlichkeit der Wirkung durch die eher punktuelle Hypothese über den Wirkungsmechanismus der Substanz, der sich nur auf die Beeinflussung gewisser Laborparameter der sehr komplexen Sepsiskaskade bezieht. Daraus resultiert eine relativ geringe hypothetische Plausibilität des Therapieansatzes. Der Nachweis der Wirksamkeit in der Studie bezieht sich nicht lediglich auf sogenannte Surrogatparameter, sondern bezieht sich auch auf das direkte Handlungsziel des Arztes nämlich auf die Reduktion der Mortalität sowie auf mögliche Komplikationen bzw. Nebenwirkungen.

Stufe 2: Quantitativer Nutzen: Relevanz

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass Patienten, die eine lebensgefährliche Sepsis überleben, als gerettet angesehen werden können. Aus dieser Perspektive wäre eine 6% Reduktion der Mortalität bei einem 60jährigen Patienten eine hoch effektive Therapie mit großer Relevanz. Sie würde bedeuten, dass bei diesem Patienten eine echte Lebensrettung und damit eine Lebensverlängerung konkret um ca. 17-20 Jahre (=Lebenserwartung von 60jährigen Männern bzw. Frauen) erreicht werden könnte. Dies kann freilich nur im Konjunktiv gesagt werden. Eine gravierende Einschränkung der Ergebnisse in der Studie besteht darin, dass die Überlebensraten bzw. Mortalitätsraten nur bis zum 28.Tag publiziert wurden. Da nicht damit zu rechnen ist, dass zu diesem Zeitpunkt die „geretteten“ Patienten in Anbetracht der Schwere ihrer Erkrankung bereits außer Lebensgefahr waren, kann auch nichts darüber ausgesagt werden, ob letztlich in der Behandlungsgruppe mehr Patienten die Intensivstation geheilt verlassen haben als in der Placebogruppe. Im Gegenteil, dies muss eher angezweifelt werden, weil ein solches Ergebnis im positiven Fall von den Autoren sicher publiziert worden wäre (Publikations-Bias!). Die Daten darüber sind mit Leichtigkeit zu erhalten und liegen daher den Autoren mit Sicherheit vor. Dies ist um so bemerkenswerter, da es sich um eine subventionierte Studie handelt und der Großteil der Autoren Angestellte oder zumindest Konsulenten der Erzeugerfirma von Drotrecogin waren. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Herstellungsfirma und die von ihr abhängigen Autoren an der Publikation der Langzeiteffekte nicht interessiert war.

Stufe 3: Verhältnismäßigkeit

Bei der Analyse der Verhältnismäßigkeit muss Schaden gegen Nutzen abgewogen und ins Verhältnis zu den Kosten gestellt werden:

  1. Der Nutzen: Der Nutzen der Therapie besteht in der Tatsache, dass durch eine i.v. Therapie mit Drotrecogin die Mortalität von Sepsispatienten bis zum 28. Tag von 30,8 auf 24,7% reduziert werden konnte. Es muss jedoch angezweifelt werden, dass es sich dabei um einen anhaltenden Effekt und damit um einen echten Nutzen für die Patienten gehandelt hat (siehe oben).
  2. Der Schaden: In der Behandlungsgruppe kam es um 1,5% öfter zu schweren Blutungen als in der Placebogruppe. In zwei Fällen kam es dabei zu einer tödlichen intracraniellen Blutung während der Infusion mit Drotrecogin. Diese schweren Blutungskomplikationen sind insofern bemerkenswert, weil Patienten mit Blutungsrisko (Operationen innerhalb der letzten 12 Stunden, potentielle Notwendigkeit einer Operation, Blutung nach einer Operation, Schädel-Hirntrauma in der Anamnese, Intracranielle Operationen, Schlaganfall, cerebrale Läsionen, gastroenterologische Blutungen innerhalb der letzten 6 Wochen, Thromboseneigung, Patienten mit schweren konsumierenden Erkrankungen, Leberschaden, usw.) von vornherein aus der Studie ausgeschlossen wurden. Da es sich dabei um Ausschlusskriterien handelt, die im allgemeinen Patientengut von Intensivstationen mit schwerer Skepsis häufig vorkommen, ist in der Praxis sicher mit einer höheren Komplikationsrate zu rechnen.
  3. Die Kosten: Die Kosten für die Therapie sind auch nach dem Urteil der Kommentatoren zum jetzigen Zeitpunkt enorm (genaue Zahlenangaben liegen nicht vor).

In der Summe ergibt sich daraus, dass es zum jetzigen Zeitpunkt noch keinesfalls geklärt ist, ob die Verabreichung von aktiviertem Protein C (Drotrecogin) bei Patienten mit schwerer Sepsis möglicherweise nicht mehr Schaden als Nutzen bringt. Die generelle Verabreichung der Substanz für alle Patienten, die die Einschlusskriterien der Studie erfüllen würden, wie dies von den Kommentatoren empfohlen wurde, erscheint aus der Sicht einer sinnorientierten Medizin (S.O.M.) nicht sinnvoll bzw. unverhältnismäßig.

Zusammenfassung

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Ergebnisse der Studien aus der Perspektive der Biometrie beeindruckend sind. Aus der Perspektive einer sinnorientierten Medizin (S.O.M.) ist es jedoch nicht verständlich, dass die für den Patienten relevante Frage nämlich, ob die Behandlung mit aktiviertem Protein C (Drotrecogin) bei schwerer Sepsis auch längerfristig, d.h. über den 28. Tag hinaus hilfreich ist, nicht beantwortet wird. Dies ist um so bedauerlicher, weil diese Frage mit Hilfe dieser höchst aufwendigen Studie leicht hätte geklärt werden können. Es ist daher zu fordern, dass in weiteren Studien Langzeitergebnisse über mind. 2-3 Monate präsentiert werden, bevor eine positive Therapieempfehlung abgegeben werden kann. Bis dahin muss angenommen werden, dass bislang noch keine positiven Langzeiteffekte erzielt werden konnten. Demnach freilich wäre die Behandlung mit Drotrecogin auf Grund der erhöhten Blutungsgefahr mehr schädlich als nützlich, so dass vorläufig eher noch Zurückhaltung geboten ist.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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