Zum Zeitbegriff in der Medizin am Beispiel der terminalen Niereninsuffizienz

Imago Hominis (2001); 8(2): 129-139
Ralf Bickeböller, Horst Schuldes

Einleitung

Innerhalb der medizinischen Wissenschaft gilt die Überlebenszeit in Abhängigkeit von bestimmten Therapieformen als ein objektives Kriterium zur Beurteilung der jeweiligen Therapiequalität. Das Thema der vorliegenden Arbeit ist der Versuch einer kritischen Auseinandersetzung mit dem in der Überlebenszeit verwendeten Zeitbegriff.

Zunächst werden wir den Aristotelischen Zeitbegriff vorstellen, der dem physikalischen Zeitbegriff zugrunde liegt. In einem zweiten Schritt stellen wir den derzeit gesellschaftlich praktizierten Begriff der beschleunigten Zeit vor, um unter Würdigung philosophischer Ansätze des 20. Jahrhunderts Emmanuel Lévinas folgend für die Medizin die „Zeit des Anderen“ als handlungsweisend zu postulieren. Am Beispiel der Nierentransplantation unternehmen wir den Versuch, über eine quantitativ-physikalische Betrachtung der Zeit hinaus ihre qualitativen Eigenschaften im Sinne eines operationalisierten Begriffes von Lebensqualität zu demonstrieren.

Die Zeit bei Aristoteles

Die zentrale bei Aristoteles formulierte Erfahrung ist die des Zusammenhanges von Raum und Zeit: „Wir messen nicht bloß Bewegung mittels Zeit, sondern auch (umgekehrt) Zeit mittels Bewegung, weil sie nämlich durch einander bestimmt werden: Die Zeit misst den Bewegungsablauf, sie misst ja seine (Mess)-Zahl, der Bewegungsablauf seinerseits (gibt an, wie viel) Zeit (verstrichen ist). Und wir sprechen von viel und wenig Zeit, indem wir eben mittels der Bewegung messen (...).“1 Die Zeiterfahrung ist eingebunden in ein zyklisches Zeitkonzept, denn die Bedingung der Möglichkeit von Zeitmessung ist die zyklische Wiederkehr der gleichartigen Bewegung. „Ist sie also eine (je) andere, oder (kehrt) die gleiche (Zeit) oftmals wieder? Klar ist: Wie die Bewegung, so auch die Zeit; wenn nämlich ein und dieselbe (Bewegung) einmal wiederkehrt, so wird auch die Zeit eine und dieselbe sein, anderenfalls jedoch nicht. Da das Jetzt Ende und Anfang von Zeit (darstellt), nur nicht von dem gleichen (Stück), sondern des Vergangenen Ende, Anfang des Bevorstehenden, so mag wohl, wie der Kreis an der gleichen Stelle irgendwie Gekrümmtes und Hohles (vereint), so auch die Zeit sich stets am Anfang und am Ende verhalten.“2 „Weiter, auch gleichmäßig kann sein allein die Bewegung im Kreis; die (Gegenstände, die sich) auf der Geraden (bewegen), tun das in ungleichmäßiger Geschwindigkeit vom Anfang aus zum Ende hin. (...) Allein der (Bewegung) im Kreis eignet von Natur weder Anfang noch Ende an ihr selbst, sondern (dies liegt) außerhalb (von ihr).“3 Die denkerische Idealisierung der Zeit in Vergangenheit und Zukunft mit einem unendlich punktförmigen Jetzt muss neben der messtechnischen Definition der Zeit in Zusammenhang mit dem Raum als weitere Einführung des Aristoteles gesehen werden, die etwas, das physikalische Zeit genannt werden kann, bedingt. Gegenwart kennt er nicht, da Gegenwart in der Alltagserfahrung, zwischen Vergangenheit und Zukunft angesiedelt, sehr wohl eine Ausdehnung besitzt, Präsenzzeit genannt, die in der Aristotelischen jedoch so verkürzt ist, dass die Gegenwart auf einen idealisierten Punkt4 verkürzt wird, der einen mathematischen Umgang mit Zeit erst ermöglicht: „Das ,mehr’ und ,weniger’ entscheiden wir mittels der Zahl, mehr oder weniger Bewegung mittels der Zeit; eine Art Zahl ist also die Zeit.“5 Gleichwohl weist Aristoteles darauf hin, dass der Versuch einer Definition von Zeit eventuell nur ein Sekundärphänomen ist, eine Leistung des Bewusstseins: „Ob andererseits, wenn es ein Bewusstsein (davon) nicht gäbe, die Zeit vorhanden wäre oder nicht, das könnte man wohl fragen: wenn das Dasein von jemand, der zählen kann ausgeschlossen wäre, dann könnte auch unmöglich etwas sein, das gezählt werden kann, also dann klarerweise auch nicht Zahl (...).“6

Die beschleunigte Zeit

Eines der Merkmale der Moderne ist ihr Bezug auf die Zeit. Bereits zu Beginn unseres Jahrhunderts beschrieb Marcel Proust in seinem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, wie die ursprünglich erfahrene Verbindung von Raum und Zeit mit der Beschleunigung eine neue Qualität erhält. Die mit den Verkehrmitteln eingeführte Beschleunigung im Raum verändert das alltägliche Zeitbewusstsein, verändert Erfahrung, die so nie hätte ohne die Beschleunigung erfahren werden können. Wir möchten Proust zitieren: „Es wurde uns klar, als der Wagen in einem Ruck zwanzig Schritte eines ausgezeichneten Pferdes zurücklegte. Entfernungen sind nur Beziehungen zwischen Raum und Zeit und wandeln sich mit ihr. Wir drücken die Schwierigkeit, die wir haben, uns an einen Ort zu begeben, in einem System von Meilen, von Kilometern aus, das nicht mehr stimmt, sobald diese Schwierigkeiten sich verringert haben. Auch die Kunst wird von diesem Wandel betroffen, da ein Dorf, das in einer anderen Welt zu liegen schien als jenes andere, innerhalb einer Landschaft, deren Dimensionen verändert sind, in dessen Nachbarschaft rückt.“7 In der durch die Beschleunigung veränderten Zeiterfahrung ist der Mangel an Zeit zu einer Grunderfahrung des modernen Menschen geworden. Die Klage über den Zeitmangel ist fast schon zu einer Alltagsroutine geworden, die zeremoniellen Charakter hat. Zeit erfährt in ihrer Knappheit eine mehrfache Funktion. Zum einen dient Zeitknappheit zur stets legitimierenden Ausrede, personalen Verpflichtungen nicht nachzukommen. Unterlassungen jedweder Art können somit guten Gewissens begründet werden, weil man eben zu wenig Zeit gehabt habe. Was in der knappen Zeit erledigt werden kann, ist zum einen das große, erhabene Projekt, dem alle Kleinigkeiten in der Zeitplanung zum Opfer fallen müssen, andererseits lässt die Zeitknappheit resignieren, dass ohnehin jede kleine Kleinigkeit an Projekt scheitern werde an der zu knappen Zeit. Changierend zwischen Tatendurst und kleinlauter Resignation offenbart die Zeit ein Wesen, das einerseits als Ressource zur Verfügung steht, das andererseits das ist, was all mein Tun in eine starre Schublade presst und fremdbestimmend ist, eine eigene Macht jenseits meiner Verfügungsmöglichkeiten. Zeit stellt sich vor als behandeltes Objekt und als handelndes Subjekt.8 Solche Zeiterfahrung kann nur dann möglich sein, wenn Zeit als sich den Absichten zu Unterwerfendes verstanden wird. Die Absicht habend, Zeit zu unterwerfen, bedeutet eine begründete Gewissheit zu haben, dass die Natur unterworfen und verfügbar ist. Ist Zeit als solche bedeutungsvoll, weil in ihr sich Bedeutetes ereignet, kann ihr der Charakter der Knappheit nicht zukommen. Was ist, das ist in ihr und ist das Bedeutungsvolle. Zeit ist hingeordnet und nicht selbst. Darum kann Augustinus schreiben: „Zeiten sind drei, eine Gegenwart von Vergangenem, eine Gegenwart von Gegenwärtigem, eine Gegenwart von Künftigem. Denn es sind diese Zeiten als eine Art Dreiheit in der Seele und anderswo sehe ich sie nicht“9 Der Bezug auf den trinitarischen Gott ist in der mittelalterlichen Vorstellung auch im Bezug auf die Zeit deutlich, nämlich als einer „Art Dreiheit in der Seele“. Die Vorstellung, über Zeit verfügen zu können und Zeit als ökonomischen Faktor zu begreifen, wäre dem mittelalterlichen Menschen fremd gewesen. Damit Zeit verfügbar werden kann, muss Gott, als der Herr der Zeit, vertrieben werden. War in der jüdisch-christlichen Vorstellung der linearen Zeit die Heilserwartung an einen personal wirkenden Gott geknüpft, so ist der Mensch in der Säkularisierung ausschließlich auf sich gestellt. Die lineare Zeit richtet sich auf die Zukunft, auf die menschenmögliche Zukunft, die im eigenen Handlungshorizont gelegen ist. Fortschritt in der Form aktiver Tätigkeit ist nur im Rahmen eines linearen, Gott als Herren der Zeit entthront habenden Zeitbewusstseins denkbar, das den Glauben der Beherrschbarkeit von Natur ganz und gar internalisiert hat. Der in der Heilserwartung sicher gegebene Sinnbezug verschwindet mit der Notwendigkeit, selbst „sein Heil zu schaffen.“10 Letztlich wird ihm keine Hilfe zuteil. Entweder die Selbsterschaffung gelingt oder sie gelingt nicht. Mit der Aufgabe der Selbsterschaffung bricht die Endlichkeit des menschlichen Lebens in aller Deutlichkeit hervor. Was es zu erledigen gilt, gilt es in der zur Verfügung stehenden Lebensspanne zu tun. Und das Projekt ist ein gewaltiges und das, was in der Selbsterschaffung zu schaffen ist, ist noch gewaltiger. Mit der Sicherheit eines gegebenen Lebenssinnes konnte sich der Mensch ohne existentielle Zukunftsangst am Abend in sein Bett legen. Im Zwang der Selbsterschaffung muss dem Müden das Gefühl der Zukunftsangst am Abend erscheinen. Was an Plänen, an selbstauferlegten Pflichten, an Möglichkeiten noch zu erledigen gewesen wäre, es muss auf den morgigen Tag verschoben werden. Die Leistungsbilanz fällt mit dem hohen Anspruch der Selbsterschaffung immer negativ aus. Das kann nicht geschafft werden, was geschafft werden müsste, damit das Projekt auch nur annähernd gelingen könnte. Der moderne Mensch hat früh erkannt, wie die Zeitknappheit ihm ein enges Korsett überstreift. Eingedenk der begrenzten Lebensspanne des Menschen könnte eine Entschärfung der aussichtslos erscheinenden Situation nur gelingen, wenn innerhalb der möglichen Spanne auch die letzte Minute genutzt werde. Beschleunigung ist das Zauberwort. Was anscheinend geschehen muss, muss in immer kürzer werdenden Zeitabschnitten geschafft werden, damit endlich Zeit übrig bleibe, in der all das andere erledigt werden könne.

Die Beschleunigung will den Raum überwinden und verändert die Relation von Raum und Zeit. Wenn der Raum in der Beschleunigung verschwindet, wird im Idealfall die Zeit auf den Moment schrumpfen. Der erlittene Verlust ist demnach nicht nur ein Verlust des Raumes, sondern vielmehr ein Verlust der Dauer. So kann es nicht verwundern, wenn das heute Neue heute fast schon zum Alten gehört. Das Ziel der Beschleunigung muss die überholte Zukunft sein, die im besten Fall Zukunft schon als Vergangenheit ist. Die Zukunft haben wir noch nicht überholt, aber die Zukunft ist in die Gegenwart genommen, was Helga Nowotny als die „erstreckte Gegenwart“11 bezeichnet. Ebenso verhält es sich mit den Aktivitäten, die als Freizeit einen immer größeren Raum in unserem Zeitbudget einnehmen. Unter dem kategorischen Imperativ unserer Zeit: „Erlebe dein Leben!“12 ist der Umgang mit der Zeit zu einem Erlebniszwang geworden. „Erst wenn sich der Konsument auf erlebnisorientierte Zusatzqualitäten einlässt (...)“13 ist er in der Lage, tatsächlich etwas zu wollen. Nicht das Brauchbare ist das Notwendige, sondern das wird als notwendig empfunden, was die höhere Erlebnisqualität verspricht. Die Erlebnisqualität ist der Sinn einer vollzogenen Handlung. Da das Erlebnis den Gesetzen der Beschleunigung unterworfen ist, bedarf es auch im Erleben des Mehr, vor allem in seiner Funktion als Sinngeber. Da das rechnerische Kalkül aber nur das Mehr als gut anerkennt, muss das aktuelle Erleben enttäuschen, zumal die pragmatische Brauchbarkeit keine Rolle mehr spielt. In der „Erlebnisgesellschaft“14 kann es nur, der Innovation der Produktpaletten in der Industrie ähnelnd, ein unendliches Mehr geben, eine unendliche Beschleunigung, die letztlich in der immerwährenden Enttäuschung endet. „Wir stehen vor dem Phänomen einer innengerichteten Modernisierung. Rationalitätstypen entstehen, die sich auf flüchtige psychophysische Prozesse richten. Erlebnisse werden dabei nicht bloß als Begleiterscheinungen des Handelns angesehen, sondern als dessen hauptsächlicher Zweck.“15

Phänomenologischer Zeitbegriff

Insbesondere zu Beginn unseres Jahrhunderts findet sich eine ausgiebige Beschäftigung der Philosophen mit dem Phänomen Zeit. Die allseits erfahrbare Beschleunigung der Lebensvollzüge im Zuge der Industrialisierung mag ein Grund für die erhöhte Sensibilität der Philosophen gewesen sein, die sich auf die neue Methode der Phänomenologie stützend, Zeit als ein wesentliches Wesensmerkmal der menschlichen Existenz beschrieben. Merkmal des „lebensphilosophischen“ Ansatzes ist, dass die unmittelbare Selbstbesinnung das zentrale Erkenntnisinstrument sein soll. Darum unterscheidet Edmund Husserl in seinen „Ideen zu einer reinen Phänomenologie“16 die phänomenologische Zeit, „dieser einheitlichen Form aller Erlebnisse in einem Erlebnisstrome (dem eines reinen Ich)“17 von der kosmischen Zeit, der objektiven, physikalischen Zeit. Die phänomenologische Zeit ist „durch keine physikalischen Mittel zu messen und überhaupt nicht zu messen.18 Allenfalls besteht zwischen den unterschiedenen Zeiten eine Analogie. Der Sinn der phänomenologischen Zeit ist, als notwendig verbindende Form Erlebnisse mit Erlebnissen zu verbinden. Damit ist jedes Einzelerlebnis eingenommen in eine kontinuierliche Erlebniswirklichkeit, was Husserl „Erlebnisstrom“19 nennt. Das Erleben, indem es zeitliches Sein ist, „ist Erlebnis seines reinen Ich.“20 Die Konstitution der Dauer im Erlebnisstrom erfolgt im kontinuierlichen Ineinander vergangener Ereignisse. Der Horizont des Jetzt ist im Vorhin gegründet. Das Jetzt ist nur denkbar, weil vorangegangene Ereignisse eben das Jetzt ermöglichen, so dass im Jetzt das Vorhin wirklich geworden ist. „Jedes Erlebnisjetzt hat aber auch seinen notwendigen Horizont des Nachher (...).“21 Das Bewusstseins-Jetzt entsteht, weil jedes Ereignis in einen ganzen Horizont von Ereignissen eingebunden ist, die alle den Charakter des Jetzt haben. Dieser Horizont ist einer der Vergangenheit und sogleich einer der Zukunft, indem im unmittelbaren Anschluss an die Gegenwart die primäre Erwartung an das Erleben entsteht. Phänomenologische Zeit bedeutet damit eine sich nur in der Gegenwart verwirklichende Präsenzzeit. Das ins Bewusstseins-Jetzt, ins Ich, getretene Ereignis ist nun ein Erlebnis, das jedoch nicht alleine für sich steht. Dem Ich ist das Erlebnis bewusst, aber jedes erblickte Erlebnis hat „seinen Horizont nichterblickter Erlebnisse.“22 Weil das Ich um das Unerblickte weiß, kann es das Unerblickte in den Blick bekommen. Die Einbindung des Erlebnisses in nichtbewusste Ereignisse zeigt an, dass der Erlebnisstrom als Einheit gedacht werden muss. Ein Erlebnis ist nie für sich alleine. Für Husserl ist das Erleben eine „Gegebenheit“23, die nie vollständig ist, sondern immer „ergänzungsbedürftig hinsichtlich eines, seiner Art und Form nach nicht beliebigen, sondern gebundenen Zusammenhanges.“24 Kein Ereignis bleibt isoliert. Seine Bedeutung ändert sich mit der seelischen Grundverfassung des Ich. „Zwei Erlebnisströme von identischem Wesensgehalt“25 sind deshalb undenkbar. Bei Husserl geht es nicht um eine empirische Zeit. Ihm ist es um die Zeit als inneres Erleben zu tun, das sich symmetrisch zwischen Vergangenheit und Zukunft als Gegenwart einfügt.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgt Henri Bergson. Zeit ist ihm im Sinne der Uhrzeit, der messbaren, physikalischen Zeit allenfalls eine äußerliche Form, die mit der eigentlichen, erlebten Zeit nichts gemeinsam hat und der Verwechselung der Zeit mit dem Raum entspringt: „Entfalten wir die Zeit in den Raum, so nehmen wir damit dem Gefühl seine Lebendigkeit und seine Farbe.“26 Die verräumlichte Zeit, die abstrakte, gleichmäßig gegliederte und mit Uhren messbare Zeit, die eine Summe statischer Momente ist, steht im Widerspruch zu einer ursprünglichen, qualitativen Zeit menschlichen Erlebens, das er „Dauer“27 nennt. Zeit als Dauer ist ein ständiges, lebendiges Strömen im menschlichen Bewusstsein, ist nicht auftrennend, sondern verbindend und produktiv in ihrer Kontinuität des rein Qualitativen. Bergsons Argumentation für die erlebte Zeitdauer ist letztlich eine Antwort auf den Glauben seiner Zeit, durch Quantifizierung rational die Welt in ihrer Gesamtheit, damit jedes Intensive als Extensives, verstehen zu können. Um Zeit zählen zu können, muss das Qualitative des Momentes aufgegeben werden, damit der zu zählende Moment eindeutig zuzuordnen ist. Die Zuordnung, wir lernten es bereits bei Aristoteles, muss räumlich erfolgen. Jedes Zählen, auch das Zählen mit der Uhrenzeit, isoliert die zu zählenden Teile in den Raum. „Sie sind somit Teile des Raumes, und der Raum ist der Stoff, mit dem der Geist die Zahl konstruiert, er ist das Medium, in das der Geist die Zahl verlegt.“28 Eine qualitative Zeitbetrachtung wird jedoch einen anderen Weg einschlagen müssen. Ein Beispiel aus der Musik aufgreifend verdeutlicht Bergson seine Vorstellungen. Eine Melodie entsteht, weil im Gedächtnis die einzelnen Tonempfindungen in eine organische Verbindung gebracht werden. „Ich beschränke mich vielmehr darauf, den sozusagen qualitativen Eindruck zu empfangen, den ihre Zahl auf mich macht.“29 Das Zählen der auf dem Notenblatt aufgereihten Noten und das statistische Aufbrechen der Struktur des Musikstückes in seiner abstrahierten Form auf dem Notenblatt weiß ganz und gar nicht den Eindruck von Musik überhaupt zu vermitteln. Das durch die Bewusstseinsleistung zustande gebrachte einander Durchdringen der Töne und der Rhythmen erlaubt erst ein Gefüge, das als Musik den Menschen anrührt. Was in der auf Notenblättern dargestellten Musik vielleicht auf hoher Abstraktionsebene noch in der phantasievollen Vermittlung näherungsweise gelingen mag, soll auch für das Erleben in der Zeit gelingen, was als erlebte Zeit für den Menschen überhaupt erst Zeit konstituiert? „Und dennoch zählt man Dinge, die einander durchdringen und die, jedes seinerseits, die ganze Seele einnehmen? – Ja, ohne Zweifel, aber eben weil sie sich durchdringen, zählt man sie nur unter der Bedingung, dass man sie durch homogene Einheiten vorstellt, die wohlunterschiedene Stellen im Raume einnehmen, Einheiten also, die sich nicht mehr durchdringen.“30 Weil zum Zwecke des Zählens eine wohl definierte Einheit erforderlich ist, ist sogleich die Möglichkeit eines gegenseitigen Durchdringens aufgegeben. Die Differenzierung in verschiedene Einheiten, die quantitative Einheiten sind, bedeutet eine andere Realität als die der Qualität des zeitlichen Erlebens. Wir haben eine Realität ohne Qualität konstruiert. Bergson definiert folgerichtig: „Die ganz reine Dauer ist die Form, die die Sukzession unserer Bewusstseinsvorgänge annimmt, wenn unser Ich sich dem Leben überlässt, wenn es sich dessen enthält, zwischen dem gegenwärtigen und den vorhergehenden Zuständen eine Scheidung zu vollziehen.“31 Unser Ausdruck vermag nicht dieser Tatsache gerecht zu werden. Die Zeit wird in den Raum projiziert, die Dauer ist als Ausgedehntes beschrieben, die Sukzession erscheint als stetige Linie. Der menschliche Vollzug in der Dauer ist eine geistige Synthese, die nicht eine Bewegung von einem Punkt zu einem anderen meint, sondern in der sukzessiven Empfindung die Erfahrung zur Einheit des Erlebens formt, das, wir nutzten das Beispiel bereits, ähnlich einem Musikstück in der gehörten Synthese personale Wirklichkeit wird. Erlebte Zeit und Raum sind damit bei Bergson nicht einander definitorisch. Einerseits spricht er vom durchlaufenen Raum und andererseits vom Akt, der den Raum durchlaufen lässt. „Das erste dieser Elemente ist eine homogene Quantität; das zweite hat nur in unserem Bewusstsein Wirklichkeit; es ist, wie man will, eine Qualität oder eine Intensität.“32

Die Zeit des Anderen

„Die Einsamkeit ist nicht deshalb tragisch, weil sie Entzug des anderen ist, sondern weil sie in die Gefangenschaft ihrer Identität eingeschlossen ist, weil sie Materie ist. (...) Die Einsamkeit ist eine Abwesenheit von Zeit“33, schreibt Emmanuel Lévinas. Wenn der Mensch reduziert wird auf seine Taten, auf das was er faktisch vorstellt, so bleibt nur das als Realität, was Resultat ist. Der Mensch gerinnt in seinen gesammelten Werken und unterwirft sich damit einem vermeintlichen Totalsinn, der in einem gesetzten Kontext im Lichte dieser Positivität Bilanz zieht. Das Ziel der Bilanz ist die Sinnzuweisung an ein gelebtes Leben unter den Prämissen der Sieger, die sich den Zeitgeist anzueignen verstanden. Die Wirklichkeit der Spanne zwischen Geburt und Tod kann jedoch nicht im Sinne der Bilanz unter dem Gesichtspunkt der Positivität erfasst werden. Die Lebenszeit legt nämlich keinen objektiven Sinn frei, der bilanziert werden könnte. Der Mensch wäre wehrlos dem Zugriff der Überlebenden ausgesetzt, auch die Menschen, die durch ihre Grundsituation chronischer Krankheit den Bilanzmöglichkeiten gesellschaftlicher Zeit, ausgedrückt in der Beschleunigung von Zeit in der Erlebnisgesellschaft, ganz und gar nicht entsprechen und damit der Willkür der potentiell Überlebenden, die auch nichts anderes als statistisch Überlebende sind, anheimgestellt werden. Eine angemessene Interpretation der erlebten Zeit in unserem Kontext wird einen davon verschiedenen Begründungszusammen- hang suchen müssen. „Dass ich dem Anderen gegen seinen Tod beistehen kann, das findet innerhalb der Geschichte keine Bestätigung. In der Geschichte gibt es keinen Triumph der Gerechtigkeit. Für den anderen verantwortlich sein, das bedeutet, Leiden (...) für eine Gerechtigkeit ohne Triumph.’“34 Der Tod ist bei Lévinas die Grenze, die alle meine Möglichkeiten vernichtet, wo ich ganz und gar nichts mehr kann, wo „uns im Leiden das Subjekt an die Grenze des Möglichen zu gelangen scheint.“35 In dieser Verwiesenheit des anderen Menschen, die auch und gerade das Selbst bedroht, ist die Sterblichkeit gegründet, die mir als einzige Möglichkeit im Sein zum Tod eröffnet, den Tod des Anderen so, wenn nicht gar mehr zu fürchten als den eigenen. So entsteht eine paradoxe Situation, die für chronisch kranke Patienten charakteristisch ist: Der mit der Erkrankung angekündigte Tod nimmt Lebenszeit, aber zugleich gibt er sie. Nur in der Verwiesenheit auf den Tod kann die Einsamkeit angesichts des Seins durchbrochen werden. „Folglich stellt sich einzig ein Wesen, das durch das Leiden zum Zusammenkrampfen seiner Einsamkeit und in das Verhältnis zum Tod gelangt ist, auf ein Gelände, auf dem das Verhältnis zum anderen möglich wird.“36 Verantwortung bedeutet, das Sein zum Tod des Anderen zur Zeit des Anderen zu machen. Nur ein sterbliches Selbst kann ein Verhältnis zum Anderen eingehen. Weil es ein solches Verhältnis eingehen kann, gewinnt sogar der Tod eine Bedeutung, nämlich nicht nur Zeit zu nehmen, sondern Zeit in Beschränktheit zu geben, was Verantwortung bedeutet. Lévinas interpretiert darum Sterben als die Rückkehr in einen Zustand der Verantwortungslosigkeit.37 Leben bedeutet umgekehrt: verantwortlich sein für den Anderen. Die Rede ist nun von der authentischen Zukunft, die von der Gegenwart der Zukunft, Lévinas nennt ausdrücklich Bergson, abgegrenzt ist. Erlebte Zeit kann nicht den Rückzug des Subjekts in die je persönliche Dauer meinen. „Die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt. Die Zukunft, das ist das andere.“38 Das Verhältnis zur Zeit ist nicht geprägt von der übermächtigen Kontinuität des Seins, die uns in den Begriffsgebäuden der Physik und der Philosophie begegneten. Es ist bestimmt im Verhältnis zum Seienden, was sich dem Selben als der Andere offenbart. Die erlebte Zeit ist der Ausdruck aufgebrochener Einsamkeit gegenüber der Last des Seins. Jenseits der Kategorien des Seins hat in der erlebten Zeit Ungleichzeitigkeit und Pluralität der menschlichen Transzendierung Möglichkeiten geboten, die keine Rückkehr des Selben zum Selben sein will, sondern ein Durchbrechen der abgeschlossenen Seinseinsamkeit hin auf eine Rückkehr des Selben zum je anderen. Diese Aufgabe ist keine, die nur den betreuenden und begleitenden Menschen betrifft. Die erlebte Zeit des Patienten ist vor allem die Zeit, die ihm noch vom Tod gegeben ist und die, weil sie vom Tod gegeben ist und weil der kranke Mensch weiß, dass sie vom Tod gegeben ist, ausdrücklich in den Bezug als Zeit des Anderen gestellt werden muss, damit die Leere der Einsamkeit gegenüber dem Sein nicht übermächtig werde. Die Idee der Beschleunigung von Zeit, wie sie in der Modernen entwickelt und im Sinne eines gesellschaftlichen Ideals realisiert wurde, findet ihre Anwendung vor allem bei den Gesunden, denen die Bewusstwerdung des Todes zur Aufgabe machte, die Fülle des Lebens als Fülle des Konsums zu versuchen, nämlich ähnlich einem Wettlauf, möglichst viele Erlebnismöglichkeiten auszuschöpfen, wobei die noch offenen Möglichkeiten nach der Realisation von Möglichkeiten sich bereits vervielfacht haben. Geht es bei der erlebten Zeit also um eine Rückkehr in das Selbst, eine meditative Bewegung in den Binnenraum der je einzelnen Person? Wenn die Zukunft der Erlebnismöglichkeiten innerhalb der beschleunigten Zeit aufgegeben ist, liegt der Weg in die meditiative Erfassung der rein qualitativen Zeit sehr nahe. Der Sprung von der Enttäuschung über die verbleibenden Erlebnismöglichkeiten, die quantitativer Natur sind, hin zu der scheinbar einzig verbleibenden Möglichkeit, die qualitativer Natur ist, wird als letztes Angebot durchaus innerhalb der Sinnvermittlung durch Erlebnisräume ergriffen. Die meditative Versenkung in die eigenen Tiefen des Daseins verspricht zum einen neue Energien im Kampf gegen die Krankheit, die jedoch immer der Gewinner bleiben wird, zum anderen die erlebnisbesetzte Erfahrung von Sinnbezügen innerhalb des Selbst. Wo dann das Ziel nicht benannt werden kann, ist das Ziel der Reise in die Innerlichkeit das Nichts, das möglichst staubfreie Verschwinden im Universum, entpersonalisiert angesichts der inneren Unendlichkeit, die unendlich scheint, weil über die Leere ein scharfer Wind bläst. Erlebte Zeit, die qualitative Betrachtung von verbliebener Lebenszeit, die sich dem Begriff der Dauer bei Bergson annähert, ist personal orientiert. Sie weiß um den verzweifelten Gang in die Leere der Innerlichkeit, deren Ziel unter Rückgriff auf eine zyklische Zeitvorstellung in der Selbstverpuffung liegt. Erlebte Zeit, qualitative Zeit, nimmt den personal anderen in das Gesichtsfeld. Kontemplation ist eben nicht das Verschwinden in der Tiefe des Selbst, sondern ist ein tiefes Vergegenwärtigen der Nähe des Anderen, ist das Abenteuer des Überlassens an den Anderen. Betrachtungen zur Überlebenszeit werden also Betrachtungen sein, die die physikalische, homogene Zeit nutzen, um die Zeit quantifizieren zu können, die dem Patienten als erlebte personale Zeit noch verbleibt. Diese erlebte personale Zeit als Zeit des Anderen vermittelt in drei Richtungen Sinn, nämlich einerseits als Aufgabe an den chronisch sterbenden Patienten, dass er das personale Mit-Sein als Aufgabe ergreift, auch kontemplativ ergreift, zum anderen als Aufgabe an den nächsten Personenkreis, diesen Menschen in ihre Zeit aufzunehmen und zum dritten als Aufgabe an die professionellen Helfer, eine solch erlebte personale Zeit durch ihre Therapie zu stützen. Am Beispiel der Nierentransplantation werden wir nun versuchen, wie eine gemeinsame Betrachtung von quantitativer Lebenszeit und ihrer qualitativen Intensität im wissenschaftlichen Kontext handlungsweisend werden kann.

Von der Quantität zur Qualität der Zeit am Beispiel der Nierentransplantation

Manche therapeutischen Möglichkeiten können dem Kranken Gesundheit zurückbringen. Andere können neue Krankheitsbilder dann schaffen, wenn durch die Therapie zwar eine Heilung nicht erreicht wird, jedoch ein Zustand, der in der Therapie den Mangel an Gesundheit immer wieder dem Kranken vor Augen führt. Patienten in einer terminalen Niereninsuffizienz z.B. waren vor den Möglichkeiten der Organersatztherapie dem Tod geweiht. Sowohl die Dialyse, als auch die Nierentransplantation sind lebensrettende Maßnahmen. Die Einführung der Langzeitdialysetechniken bedeutete die Einführung lebensverlängernder Techniken, die letztlich den terminal niereninsuffizienten Dialysepatienten in einen chronisch Sterbenden verwandeln. Auch der nierentransplantierte Patient lebt in einem Zustand der Lebensverlängerung. Das transplantierte Organ steht immer in der Versagensgefahr. Damit das nicht geschehe und wenn es geschehe, dann möglichst spät, werden für den Rest des Lebens mit dem transplantierten Organ immunsuppressive Medikamente eingenommen, die über die Tatsache der immerwährenden medikamentösen Therapie hinaus ein hohes Potential von sekundären Krankheitsbildern bedeuten. Die Effektivität der Behandlungsmöglichkeiten darf nicht darüber hinweg täuschen, dass in der Funktion der Organersatztherapie als fortwährender Lebensprothese die Frage aufgeworfen bleibt, ob der Tod nicht doch das geringere Übel gegenüber dem hohen Preis der Lebensverlängerung sei. Im Vergleich zwischen den nierentransplantierten Patienten und den nur dialysiert habenden Patienten scheint ein Überlebensvorteil für die Transplantierten zu bestehen. Nach zehn Jahren leben von den nierentransplantierten Patienten noch ca. 50% der Patienten, hingegen in der Dialysegruppe nur noch ca. 20%.39 Die Autoren der Statistik stellen allerdings fest, dass der scheinbare Überlebensvorteil der Nierentransplantationsgruppe nur der Effekt besserer Grundvoraussetzungen der Patienten sein könnte. Insbesondere das Alter stellt einen negativen Risikofaktor dar. Bei einem altersbereinigten Vergleich der beiden Therapieformen sind die Sterbewahrscheinlichkeiten einander angeglichen.40 Die zunächst objektiven Aussagen der Überlebenskurven sind bei näherer Betrachtung dann so objektiv nicht mehr, sondern an Voraussetzungen gebunden, die, wenn sie benannt sind, einen anderen Zeitbegriff als den der homogenen, physikalischen Zeit fordern, so dass die Qualität der Zeit Teil des therapeutischen Konzeptes wird. Die Diagnose einer terminalen Niereninsuffizienz, die, wenn nicht der Tod eintreten soll, eine Organersatztherapie notwendig werden lässt, konfrontiert den Erkrankten mit einer Vielzahl von Belastungen körperlicher und psychosozialer Art. Die objektiv reduzierte Lebenserwartung empfindet der Patient als Lebensbedrohung. Das körperliche Wohlbefinden und die körperliche Leistungsfähigkeit sind eingeschränkt, wodurch der Patient sein Selbstbild bedroht sieht. Ehedem vertraute Rollen im familiären, beruflichen und sonstigen Sozialbereich sind zumindest bedroht. Im Sinne einer den ganzen Menschen umfassenden Therapie formulieren sich für die Organersatztherapie Zielkriterien, die mit dem Begriff der Rehabilitation prozesshaft und mit dem Begriff der Lebensqualität ergebnisorientiert beschrieben sind. Zunächst ist Lebensqualität daher ein nur formaler, inhaltsleerer Begriff, der sich nur füllen lässt, wenn die erlebte Qualität des eigenen Lebens das einzige Bewertungskriterium darstellt: „Unter Lebensqualität wird ein multidimensionales Konstrukt verstanden, das die subjektiven Bewertungen seelischen, körperlichen und sozialen Erlebens enthält, bezogen auf einen definierten Zeitraum.“41 Anscheinend objektiv schlechte Lebensbedingungen bei schwerer, chronischer Krankheit können durchaus mit einer hohen Lebensqualität einhergehen und umgekehrt. Das erste nennt Sigrun-Heide Filipp Zufriedenheitsparadox, das zweite Unzufriedenheitsdilemma.42 So konnte zum Beispiel gezeigt werden, dass trotz einer objektiv sehr ungünstigen Prognose Patienten mit Bronchialkarzinomen bezogen auf die generelle Lebenssituation die relativ größte Häufigkeit der Selbsteinschätzung „sehr zufrieden“ abgaben, gefolgt von Herzinfarktpatienten, hingegen Gesunde mit ihrer generellen Lebenssituation sich am unzufriedensten zeigten.43 Insbesondere lassen objektive Lebensbedingungen wie Einkommen, Familienstand, Wohnsituation usw. keine Prognose auf die subjektive Lebensqualität zu.44

Wie nun ist die Lebensqualität terminal niereninsuffizienter Patienten einzuschätzen, wenn wir Studien betrachten, die den Lebensqualitätsbegriff operationalisiert in hypothetischen Konstrukten mittels psychometrisch validisierter Instrumente umsetzten? Zunächst sollen die somatischen Indikatoren betrachtet werden, die sich aus dem körperlichen Zustand und der Arbeitsfähigkeit zusammensetzen. Hier ist die intraindividuelle Veränderung von besonderem Interesse, um zunächst den Effekt der Nierentransplantation in einem Kollektiv besser beschreiben zu können, aber auch, um dem Vorwurf eines Selektionsnachteiles für die Dialysegruppe zu begegnen. In einer fünfstufigen Selbsteinschätzung des körperlichen Zustands bezeichnet unter der Dialyse kein Patient seinen Zustand als ,extrem gut’, als ,gut’ 15%, als ,normal’ 42%, als ,schlecht’ 34% und als ,extrem schlecht’ 9,2%. Nach statt gehabter Nierentransplantation schätzten sich ,extrem gut’ 25,3%, ,gut’ 40,1%, ,normal’ 26,2%, ,schlecht’ 8% und ,extrem schlecht’ 0,4% ein45, was in vielen anderen Studien bestätigt werden konnte. Immer fanden sich die höchsten Einschätzungswerte für nierentransplantierte Patienten, gefolgt durch Patienten, die die Peritonealdialyse durchführten. Zuletzt kommen die hämodialysierenden Patienten.46

Die psychischen und sozialen Indikatoren des Lebensqualitätskonstruktes zeigen ein den somatischen Indikatoren entsprechendes Bild. Dialysepatienten zeigen bezüglich der Instrumente für Beschwerdesumme und Depression signifikant die schlechtesten Werte im Vergleich zu Karzinom-, Multiple Sklerose- und Herzinfarktpatienten, wobei letztere die höchsten Selbsteinschätzungen vornahmen. Die Messung der Lebenszufriedenheit wies für Karzinom- und Herzinfarktpatienten die besten Werte auf, hingegen die schlechtesten für Dialyse- und Multiple Sklerose-Patienten.47 Nach stattgehabter Nierentransplantation ändert sich die Situation deutlich. Für die Lebenszufriedenheit, die Beschwerdesumme und Depression haben nun die nierentransplantierten Patienten die besten Testergebnisse, die sogar im Vergleich zur Normalbevölkerung höhere Werte aufweisen.48 Was wir bereits als das Unzufriedenheitsdilemma und Zufriedenheitsparadox kennengelernt haben, findet hier eine Bestätigung. Die subjektive Selbstbewertung für die einzelnen Indikatoren des Konstruktes Lebensqualität beziehen sich auf ein Urteil, das aus dem Vergleich zwischen dem angestrebten und dem erreichten Zustand gefällt wird. Wegen des unter dem Eindruck der Dialyse erheblich geänderten inneren Referenzbereiches ist die Zufriedenheit trotz der noch immer eingeschränkten Lebensverhältnisse sehr groß, im Gegensatz zum gesunden Menschen, dessen innere Referenz eine weite Diskrepanz zwischen der hohen Erwartung und der tatsächlich realisierbaren Möglichkeit sieht. Die hohe subjektive Zufriedenheit mit der Nierentransplantation kontrastiert mit der subjektiven Verträglichkeit der Dialyseprozedur. Nur 7,2% der Dialysepatienten geben an, die Dialyse schlecht zu vertragen. 46,4% der Patienten antworteten mit ,gut’ und nochmals 46,4% mit ,mäßig’.49 Die Dialyseprozedur als solche kann also nicht alleine die so schlechten Ergebnisse für die psychischen und emotionalen Indikatoren erklären. Insbesondere der durch die Dialyse erzwungene gänzliche Verzicht auf Freizeitaktivitäten bei 85,5% der Patienten ist bemerkenswert. Wenn die Patienten gefragt werden, wie oft sie sich noch mit Freunden und Bekannten im Vergleich zur Zeit vor der Dialyse treffen können, so geben nur 36,2% an, es genauso oft zu tun, ,seltener’ 44,9% und 18,9% ,wesentlich seltener’. Etwa ein Viertel der Patienten findet im Rahmen der Dialyseumgebung neue Bekanntschaften, die allerdings eher lockerer Natur sind. Pläne für die weitere Zukunft macht nur ein Drittel der Dialysepatienten. Ein weiteres Drittel plant nur für die allernächste Zukunft und das dritte Drittel lebt ohne Zukunftspläne. Mit der mangelnden Planungsfreudigkeit für die Zukunft haben sich 55,1% der Patienten mit ihrem Leben unter der Dialyse abgefunden, nochmals 39,1% zumindest teilweise abgefunden.50 Bei den erkrankungs- und therapiebedingten sozialen Komplikationen leidet immerhin ein Drittel der Befragten unter ihren nur sehr gering ausgeprägten Möglichkeiten zwischenmenschlicher Beziehungen.51 Auch im Vergleich mit anderen Erkrankungsgruppen fallen dialysierende Patienten durch eine größere Zurückgezogenheit von sozialen Kontakten auf.52 Neben den sich auflösenden Sozialbeziehungen sind bei 44% der Dialysierenden ausgeprägte wirtschaftliche Probleme im Zusammenhang mit ihrer Erkrankung aufgetreten. Nach der Transplantation einer Spenderniere ändert sich die Situation dramatisch. Sowohl die somatischen, als auch die psychisch-sozialen Indikatoren des Lebensqualitätskonstruktes ändern sich positiv.53 Eine Angleichung der Reaktionsweisen und der Selbsteinschätzung bezüglich der gesunden Normalbevölkerung tritt ein, wobei die Referenz der Selbsteinschätzung weiter der Situation unter der Dialyse eingedenk ist. 

Schluss

Am Beispiel der Nierentransplantation konnten wir zeigen, dass eine handlungsweisende Betrachtung allein anhand der Überlebenszeit nicht sinnvoll gelingt. Angesichts chronischer Krankheit und chronischen Sterbens gewinnt die Qualität der gelebten Zeit an Bedeutung, da insbesondere die Deprivation durch die Erkrankung als Leid empfunden wird, weniger die unmittelbaren somatischen Einschränkungen. Die vorgestellten Studien demonstrieren die Notwendigkeit einer qualitativen Betrachtung der Zeit hin auf ihre personale Dimension, die sich jenseits der objektiven Quantifizierbarkeit als Zufriedenheitsparadox und Unzufriedenheitsdilemma doku- mentiert. Die quantitative Erfassung von Zeit erlaubt, den Rahmen für ihre qualitative Erfassung abzustecken, wobei diese eingedenk der unterschiedlichen Referenzsysteme, die uns für den jeweiligen Menschen als sinnvermittelnde erscheinen, nicht bezogen auf Gesundheit, sondern bezogen auf die existenzielle Erfahrung von chronischem Sterben zu erfolgen hat.

Referenzen

  1. Aristoteles, Physik. In: Philosophische Schriften; Band VI. Meiner, Hamburg (1995), S.109
  2. ebd., S.114
  3. ebd., S.232
  4. ebd., S.147ff.
  5. ebd., S.106
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  7. Proust, M., Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main (1984), S.2575f.
  8. Gronemeyer, M., Das Leben als letzte Gelegenheit, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (1993), S.73
  9. Augustinus, A., Bekenntnisse, Suhrkamp, Frankfurt am Main (1987), S.641ff.
  10. Foucault, M., Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit, Band III. Suhrkamp, Frankfurt am Main (1986), S.59
  11. Nowotny, H., Eigenzeit, Suhrkamp, Frankfurt am Main (19952), S.9
  12. Schulze, G., Die Erlebnisgesellschaft, Campus, Frankfurt am Main (1993), S.59
  13. ebd., S.59
  14. ebd.
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  17. ebd., S.180
  18. ebd., S.181
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  27. ebd., Kapitel II
  28. ebd., S.66
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  53. vgl. FN 46

Anschrift der Autoren:

Priv.-Doz. Dr. med. Ralf Bickeböller
Klinik für Urologie und Kinderurologie der Universität Frankfurt am Main
Theodor Stern Kai 7
D-60590 Frankfurt am Main

Priv.-Doz. Dr. med. Horst Schuldes
Urologische Abteilung des St.-Katharinen-Hospitals
Kapellenstraße 1-5
D-50226 Frechen

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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