Fundamentalist der Menschenwürde. Zum 80. Geburtstag von Robert Spaemann

Imago Hominis (2007); 14(2): 113-114
Susanne Kummer

„Wir übersehen, dass ein Mensch, der keine Überzeugungen hat, ein Mensch ist, dem wir normalerweise nicht trauen. Wenn man von jemanden sagt ‚dem ist nichts heilig’, dann bedeutet das: Vorsicht! Denn wenn jemandem etwas heilig ist, heißt das, dass es Dinge für ihn gibt, die nicht zur Disposition stehen.“1

Robert Spaemann, deutscher Philosoph und konsequent unabhängiger Denker, bezeichnete sich provokant als „Fundamentalist der Menschenwürde“. Toleranz gilt in einer liberal-pluralistischen Gesellschaft als unantastbarer Wert, vor dem sich alle Welt beugen muss. Wenigstens darin ist man sich einig. Doch genügt das? Spaemann verneint. Denn schlimmer als Überzeugungen zu haben, ist es, keine zu haben. Bestimmte Überzeugungen zu haben heißt ja noch nicht per se intolerant zu sein. Das Gegenteil sei der Fall, argumentiert der Denker, der am 5. Mai 2007 seinen 80. Geburtstag feierte: Wer tolerant sein will, muss eine feste Überzeugung besitzen, nämlich jene, dass der andere, weil er als Mensch die selbe Würde hat, in seinem Andersdenken geachtet werden muss – auch wenn es falsch ist oder nicht geteilt werden kann.

Spaemann hat diesen Grundsatz in seiner eigenen philosophischen Praxis gelebt. Seine Achtung vor dem Andersdenkenden, zugleich aber sein kompromissloses Festhalten an der Menschenwürde als nicht diskutierbarer Grundlage jedes ethischen Handelns hat Spaemann zu einem gern gesehen Gesprächspartner gemacht – ob in Feuilletondebatten über Embryonenforschung in Wochenzeitungen wie der Zeit, ob als Vortragender bei den linken Grünen, um sie auf die biopolitische Debatte vorzubereiten, oder in den meist kontroversiell ausgerichteten Fernsehdiskussionen zu aktuellen philosophischen und tagespolitischen Fragen, von der Atomkraft bis zur Sonntagsarbeit. Spaemann hat die Gabe, den manchmal etwas abstrakt anmutenden Philosophenhimmel mit Sprachengabe auch dem durchschnittlichen Mensch von der Straße näher gebracht zu haben, etwa mit seinem Taschenbuch „Moralische Grundbegriffe“ (C. H. Beck 1983), das für Millionen von Lesern (das Buch wurde in zwölf Sprachen übersetzt und liegt inzwischen in der 7. Auflage vor) ein lesbarer Zugang zu philosophischen Grund- und damit Lebensfragen geworden ist.

„Das Gerücht, dass es Gott gebe, liegt, wo immer Menschen sind, in der Luft.“ Der deutsche Denker, der aus seiner gläubigen Zugehörigkeit zur katholischen Kirche nie ein Hehl gemacht hat, glaubt an die Vernunft und ihre unausrottbare Sehnsucht nach Wahrheit. Auch an ihre Fähigkeit, sie zu erkennen, ja selbst vor der Gottesfrage macht sie nicht halt – aus guten Gründen, wie Spaemann in seinem jüngsten Buch „Das unsterbliche Gerücht. Die Frage nach Gott und die Täuschung der Moderne“ (Klett Cotta, 2007) aufzeigt und damit erneut ein sich aufgeklärt meinendes Publikum erneut überrascht.

Spaemann selbst plädierte dabei nie dafür, aus der Moderne auszusteigen, sondern „Aufklärung, Emanzipation, Menschenrechte, Wissenschaft und Naturbeherrschung gegen sich selbst in Schutz zu nehmen“. Diese Errungenschaften sind zu hoch, als dass man sie Deutungen und Zwängen preisgeben dürfte, die sie entwerten oder als Mittel gegen den Menschen und seine unabdingbare Würde zu missbrauchen. Die Attacken auf die Menschenrechte im Namen der Barmherzigkeit oder Selbstbestimmung (Stichwort: Euthanasie) oder des medizinisch-therapeutischen Fortschritts (Stichwort: Embryonenforschung) sind heute vielfältig. Gemeinsam mit dem früheren Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde formulierte er folgenden Grundsatz: „Wenn es überhaupt so etwas wie Rechte der Person geben soll, kann es sie nur geben unter der Voraussetzung, dass niemand befugt ist, darüber zu urteilen, wer Subjekt solcher Rechte ist.“ Es sei als Spaemanns Verdienst anzusehen, „die Debatte um Abtreibung und Euthanasie auf diese grundsätzliche Ebene gehoben zu haben“, bescheinigt ihm die Frankfurter Allgemeine Zeitung zu seinem runden Geburtstag. Die Menschenwürde kommt der Person nicht unter der Voraussetzung bestimmter Eigenschaften (z. B. des Selbstbewusstseins oder der Möglichkeit zur Selbstachtung) zu, sondern allein aufgrund ihrer biologischen Zugehörigkeit zur Spezies Mensch. Für die Aufklärung war eben diese These, dass „Menschen vor ihrer Geburt Personenrechte" haben, selbstverständlich, weist Spaemann nach. Die moderne Naturwissenschaft zeige außerdem, dass es keine Zäsur in der Entwicklung des Menschen gibt, die einen abgestuften Lebensschutz legitimieren könnte. Ausgerechnet ein Philosoph wie Spaemann verteidigt den Standpunkt der Biologen: Die befruchtete Eizelle enthält das vollständige DNA-Programm. „Der Anfang eines jeden von uns liegt im Unvordenklichen. Zu jedem Zeitpunkt ist es geboten, das, was, von Menschen gezeugt, sich autonom auf eine erwachsene Menschengestalt hin entwickelt, als „jemanden“ zu betrachten, der nicht als „etwas“, zum Beispiel als Organersatzlager zugunsten anderer, und seien sie noch so leidend, ausgeschlachtet werden darf. Auch die Unterkühlungsexperimente in den nationalsozialistischen Konzentrationslagern geschahen bekanntlich zugunsten anderer Leidender.“2

„Wer kann es auf sich nehmen, heute nicht alles zu unternehmen, um Therapien von morgen zu entwickeln und Leben zu retten?“, lautet die Frage jener, die Ethik als Strategie zur Optimierung des Lebensglücks verstehen. Gerät der Forscher oder der Arzt nicht in ein moralisches Dilemma, wenn er bestimmte Therapie verweigert?

Die Rede vom Dilemma ist irreführend, stellt Spaemann klar und weiß sich damit in der Tradition des abendländischen Denkens: „die Überzeugung, dass der Mensch gewisse Dinge nicht tun darf, dass es Dinge gibt, die keiner Abwägung unterliegen dürfen."3 Die einfache Formel dafür lautet: Der gute Zweck heiligt nicht die schlechten Mittel. Es stimmt also nicht, dass der Arzt oder Forscher so oder so schuldig wird. „Es gibt kein notwendiges Schuldigwerden. Wenn ich eine Hilfe nicht leiste, die ich nicht leisten kann, dann bin ich nicht schuldig geworden. Wenn ich einem Menschen nur helfen kann, indem ich einen anderen töte, kann ich eben nicht helfen. Dann werde ich aber auch nicht schuldig, wenn ich es nicht tue. Ich bin ja nicht Gott, der für alles verantwortlich ist." Ethisch „gebotene Unterlassung", nennt Spaemann jenes Handeln, das sich gegen den vorherrschenden „hypertrophen Verantwortungsbegriff“ absetzt.

Und was ist mit dem Argument, dass wenn wir es nicht machten, es ja in anderen Ländern trotzdem gemacht würde, etwa die Embryonenforschung?

Dieses Argument, sagt Spaemann, markiert das Ende jeder Moral. „Auch in der Natur kommen Menschen gewaltsam zu Tode. Und sterben müssen wir schließlich alle. Aber müssen oder dürfen wir deshalb töten? Niemand ist für alles verantwortlich, was geschieht. Verantwortlich aber sind wir für das, was wir tun.“

Referenzen

  1. Warum die Welt ist, das kann keine Wissenschaft beantworten, Interview mit Robert Spaemann, geführt von Susanne Kummer; Die Presse, 5. Februar 1999
  2. Spaemann R., Gezeugt, nicht gemacht. Wann ist der Mensch ein Mensch?, Die Zeit 4/2001
  3. Es gibt kein Recht auf ein gesundes Kind, Interview mit Robert Spaemann, geführt von Susanne Kummer; Die Furche 13/2001

Anschrift der Autorin:

Mag. Susanne Kummer, Imabe-Institut
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