Der Hippokratische Eid und das Corpus Hippocraticum: Ein Medizinhistorischer Wegweiser

Imago Hominis (2011); 18(2): 85-91
Gabriela Schmidt-Wyklicky

Zusammenfassung

Nach Wiedergabe des Originaltextes des Hippokratischen Eides, seiner späteren christlichen Fassung und des Gelöbnisses des Weltärztebundes (Genf 1948) werden Quellen, Entstehung, Bedeutung, Inhalte und Interpretationen dieses Eides im historischen Zusammenhang besprochen. Ebenso werden die Grundelemente der hippokratischen Schriftensammlung, die wichtigsten Charakteristika der Humoralpathologie und das Arztbild der griechischen Antike illustriert. Zweck dieser Darstellung ist es, eine Diskussionsgrundlage zur vertieften Einsicht in die überzeitliche Bedeutung dieses historisch wirkmächtigsten ärztlichen Gelöbnisses zu bieten. Unter Einbeziehung medizin- und kulturhistorischer Aspekte soll die Relevanz der ethischen Forderungen dieses Eides auch für die Erfordernisse des Arztes der Gegenwart hervorgehoben werden.

Schlüsselwörter: Hippokratischer Eid, Corpus Hippocraticum, ärztliche Ethik

Abstract

After a presentation of the original text of the Hippocratic Oath, its Christian version and the International Code of Medical Ethics (World Medical Association, Geneva 1948) source material, origin, meaning, contents and interpretations of this oath are historically reflected. Furthermore, the main characteristics of the Hippocratic Collection, of humoral pathology and of the Hippocratic physician in Greek Antiquity are depicted. This paper wants to offer a basis for a discussion aiming at a deeper insight into this historically most relevant medical oath independent from its particular period of origin. By integrating aspects of medical as well as of cultural history emphasis is laid on the relevance of this oath’ ethic demands also for the contemporary physician.

Keywords: Hippocratic Oath, Hippocratic Collection, Medical Ethics


Der Hippokratische Eid

Die antike Fassung

Der mit dem Namen des griechischen Arztes Hippokrates von Kos aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert verbundene ärztliche Eid nimmt in der abendländischen Geschichte der Heilkunde für das Berufs- und Berufungsverständnis des Arztes seit der Antike die zentrale Stellung schlechthin ein. Exakter historischer Ursprung, genaue Abfassungszeit und eindeutige Autorschaft der historisch nur bruchstückhaft belegbaren Persönlichkeit des Arztes Hippokrates und seiner Schule lassen sich trotz intensiver bis in die heutige Zeit anhaltender Forschungen nicht mit letzter Sicherheit belegen. Im Allgemeinen gilt der Hippokratische Eid1 als Schwur, den die Mitglieder der Ärzteschule von Kos im Sinne eines Lehrvertrages zu leisten hatten. Folgende ethische Maximen für die Persönlichkeit des Arztes und sein Handeln sind im Hippokratischen Eid festgelegt: Handeln zum Nutzen der Kranken, Vermeidung von Schaden für den Kranken, Schutz des menschlichen Lebens von der Zeugung bis zum natürlichen Tod (Verbot der aktiven und passiven Sterbehilfe sowie der Abtreibung), Verbot sexueller Beziehungen zu Patienten, sittliche Reinheit des ärztlichen Charakters und Schweigepflicht gegenüber Unbeteiligten während einer Behandlung. Diese ethischen Kernaussagen des Hippokratischen Eides gelten historisch als erstes tradiertes sittliches Grundgesetz für die ärztliche Berufsausübung und begründeten im Laufe der medizinischen Kulturgeschichte ein ideales und zuweilen auch idealisiertes Arztbild.

„Ich schwöre bei Apollon, dem Arzt, bei Asklepios, bei Hygieia und bei Panakeia, bei allen Göttern und Göttinnen und ich nehme sie zu Zeugen, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach Kräften und entsprechend meinem Urteilsvermögen vollständig erfüllen werde. Dass ich denjenigen, der mich in dieser Kunst unterwiesen haben wird, meinen Eltern gleich achten werde; dass ich mein Leben mit ihm teilen, dass ich ihm, wenn er etwas braucht, abgebe, dass ich sein Geschlecht wie eigene Brüder gleich achten werde. Dass ich sie in dieser Kunst ohne Bezahlung und ohne Vertrag unterrichten werde, wenn bei ihnen der Bedarf besteht, sie zu erlernen; dass ich an den Vorschriften, an der Vorlesung und an der gesamten übrigen Unterweisung Anteil geben werde meinen eigenen Söhnen, den Söhnen meines Lehrers, und den Schülern, die durch den Vertrag und den Eid nach der ärztlichen Satzung gebunden sind, sonst aber keinem. Die Regeln zur Lebensweise werde ich zum Nutzen der Kranken einsetzen, nach Kräften und gemäß meinem Urteilsvermögen; vor Schaden und Unrecht werde ich sie bewahren. Ich werde niemandem ein todbringendes Mittel geben, nicht einmal nachdem ich gebeten worden bin, noch werde ich keiner Frau einen abtreibenden Tampon verabreichen. In reiner und heiliger Weise werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. Ich werde nicht schneiden, und zwar auch nicht bei solchen, die ein Steinleiden haben, sondern ich werde den Männern Platz machen, die in diesem Handwerk beschäftigt sind. In alle Häuser, die ich betrete, werde ich zum Nutzen der Kranken gehen, wobei ich mich von jeglichem willentlichen, zerstörerischen Unrecht fernhalten werde, insbesondere von lustvollen Handlungen sowohl an Frauen und Männern, seien sie nun Freie oder Sklaven. Was ich aber während einer Behandlung vom Leben der Menschen sehen oder hören werde, oder auch ohne Behandlung, was nicht nötig ist, dass man es verbreitet, werde ich es verschweigen, im Glauben, dass derartiges heilige Geheimnisse sind. Wenn ich also diesen Eid vollständig erfülle und nicht breche, dann möge ich die Früchte meines Lebens und meiner Kunst ernten und auf ewige Zeit bei allen Menschen Ruhm genießen. Wenn ich den Eid aber übertrete und einen Meineid schwöre, soll das Gegenteil davon der Fall sein.“2

Die christliche Fassung

Die früheste historische Evidenz des Hippo-kratischen Eides findet sich bei Scribonius Largus, einem Arzt zur Zeit des römischen Kaisers Claudius um 50 n. Chr. Aus dem Gelöbnis leitete Scribonius bereits allgemeingültige ethische Normen wie Erbarmen und Menschlichkeit ab, die der Arzt allen Hilfesuchenden ohne Ansehen der Person entgegenbringen solle. Die religiöse Bindung an die griechischen (Heil-)Götter wurde seit der christlichen Spätantike durch die Veränderung der Präambel hin zu einem christlichen Gottesbezug adaptiert. Hippokrates galt etwa seit dem 4. Jahrhundert als Prototyp einer idealen Arztpersönlichkeit.3 Vor allem seit der Rückwendung zur griechisch-römischen Antike durch die humanistisch geprägte Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit etablierte sich der Hippokratische Eid – ohne religiöse Präambel – als Codex zeitlos gültiger Arztethik. Zumindest in Teilstücken fand er etwa seit Beginn des 16. Jahrhunderts nicht wörtlich, sondern in unterschiedlich abgewandelten „zeitgemäßen“ Formulierungen, Eingang in die Fakultätsstatuten und Promotionszeremonien für angehende Ärzte an vielen Universitäten (z. B. Wittenberg 1508, Basel 1570). Einzig an der Universität Montpellier wurde der Hippokratische Eid erstmals im Jahre 1804 zur Gänze vorgetragen. Eine juristische Verbindlichkeit wie bei der Leistung eines Eides vor Gericht war damit für den angehenden Arzt allerdings zu keiner Zeit zwingend verbunden.4

„Gepriesen sei der Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus, der gepriesen ist bis in alle Ewigkeit, dass ich nicht meineidig werde. Ich werde die Ausbildung in der Heilkunst nicht beflecken. Noch werde ich jemandem ein todbringendes Mittel geben, nachdem ich gebeten worden bin, noch zu einem solchen Rat anleiten. Gleichermaßen werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel geben, weder von oben noch von unten. Vielmehr werde ich diejenigen in dieser Kunst unterrichten, die sie zu lernen wünschen, ohne Missgunst und ohne Vertrag. Ich werde die Regeln zur Lebensweise einsetzen zum Nutzen der Kranken nach Kräften und gemäß meinem Urteilsvermögen. In reiner und heiliger Weise werde ich meine Kunst bewahren. In alle Häuser, die ich betrete, werde ich zum Nutzen der Kranken gehen, wobei ich mich von jeglichem willentlichen oder unwillentlichen Unrecht, zerstörerisch oder anderweitig schädigend, fernhalten werde und auch von lustvollen Handlungen sowohl an Freien oder Sklaven wie auch an Männern oder Frauen. Was immer ich während einer Behandlung oder außerhalb im menschlichen Zusammenleben sehen oder hören werde, was nicht nötig ist, dass man es verbreitet, werde ich verschweigen, im Glauben, dass derartiges heilige Geheimnisse sind. Wenn ich also diesen Eid vollständig erfülle und nicht breche, möge mir Gott im Leben und in der Kunst ein Helfer sein und möge ich auf ewige Zeit bei allen Menschen Ruhm genießen. Wenn ich diesen Eid halte, soll es mir gut ergehen, wenn ich meineidig werde, das Gegenteil davon.“5

Das Genfer Gelöbnis

Der Weltärztebund hat bei der erforderlichen Neugestaltung ethischer Normen nach dem Ende der NS-Schreckensherrschaft, als Zeichen des moralischen Neubeginns einer durch eine menschenverachtende Diktatur befleckten Ärzteschaft, im Genfer Ärztegelöbnis von 1948 und bei dessen Ergänzung im Jahr 1968 die hippokratische Tradition zwar nicht expressis verbis, wohl aber in Teilen des Inhalts als ideelle Bezugsquelle und Markstein einer universalen ärztlichen Ethik herangezogen.6 Bei der Promotion wird von jedem zukünftigen Arzt in feierlicher Form lediglich ein persönliches Gelöbnis abgelegt, in welchem er sich verpflichtet, die Reinheit der medizinischen Lehre und der Wissenschaft zu bewahren und der Universität, an welcher er studiert hat, Ehre zu erweisen. Sämtliche juristische Normen, an die die ärztliche Tätigkeit gebunden ist, sind im Rahmen nationaler Ärztegesetze, die keine ethische Normenskala vorgeben, geregelt. Allerdings hat sich in der öffentlichen Meinung bis heute, zumeist bei der Diskussion über konkrete ärztliche Fehler und Versäumnisse, die Bezugnahme auf den Hippokratischen Eid als gültige und allgemein verpflichtende ethische Norm des Arztes weitgehend erhalten.

„Wenn ich nun als Mitglied in den Ärztestand aufgenommen werde, so verpflichte ich mich feierlich, mein Leben dem Dienste der Menschheit zu weihen. Ich werde meinen Lehrern die Achtung und Dankbarkeit entgegenbringen, die ich ihnen schuldig bin. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Gesundheit meiner Patienten wiederherzustellen und zu erhalten, wird mein erstes Gebot sein. Ich werde Geheimnisse, die mir anvertraut werden, auch über den Tod des Patienten hinaus, bewahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten. Meine Kollegen werde ich achten. Ich werde nicht zulassen, dass Religion, Nationalität, Rasse, Parteipolitik oder sozialer Stand zwischen meine Berufspflicht und meine Kranken treten. Ich werde die äußerste Achtung vor dem menschlichen Leben von der Empfängnis an bewahren und selbst unter Bedrohung meine ärztlichen Kenntnisse nicht in Widerspruch zu den Gesetzen der Menschlichkeit anwenden. Dies verspreche ich feierlich und auf meine Ehre.“7

Wie Leven bemerkt, spielt der Hippokratische Eid in der gegenwärtigen medizinethischen Debatte allerdings kaum eine Rolle, „… da er einer überwunden geglaubten ’paternalistischen Epoche’ zugeordnet wird, womit die moderne Medizinethik ihren geschichtslosen Standpunkt eindrucksvoll unterstreicht.“ Die Rezeptionsgeschichte des Hippokratischen Eides spiegle jedoch in einzigartiger Weise das Selbst- und Fremdbild des ärztlichen Berufsstandes wider und ist, so Leven, „… ein zentraler Aspekt der Medizingeschichte überhaupt.“8

Das Corpus Hippocraticum

Über die historische Persönlichkeit des Hippokrates gibt es nur eine begrenzte Zahl historisch gesicherter Fakten. Er wurde 460 v. Chr. auf der Insel Kos geboren und starb um 375 v. Chr. in Larissa/Thessalien. Platon erwähnte Hippokrates als Zeitgenossen des Sokrates. Der als Asklepiade – also Nachkomme des Heilgottes Asklepios – tätige Arzt Hippokrates unterwies Schüler und war in seinen Heilverfahren auf die Berücksichtigung einer ganzheitlichen – Leib und Seele – gleichermaßen integrierenden Sicht des Menschen bedacht. Eigene Schriften des historischen Hippokrates werden bei Platon nicht angeführt, er würdigte Hippokrates aber als außerordentlich bedeutenden Arzt seiner Zeit.9 Diese Einschätzung wurde von Aristoteles uneingeschränkt übernommen, sodass Hippokrates seither als der berühmteste Arzt der Antike gilt.

Die gegenwärtig gültige medizinhistorische Lehre versteht im Corpus Hippocraticum10 eine medizinische Schriftensammlung, die rund 60 Texte in ionischem Dialekt enthält. Der überwiegende Teil ist etwa zwischen 430 und 350 v. Chr. entstanden. Zu etwa einem Viertel sind darin aber auch Texte aus hellenistischer und römischer Zeit beinhaltet. Aus dieser Zeitspanne, die sich aufgrund der historisch-kritischen Textanalyse ergibt, lässt sich erkennen, dass nur ein geringer Anteil dem historischen Hippokrates selbst zugeschrieben werden kann. Etwa ab dem 3. Jh. v. Chr. wurden diese Schriften v. a. in der damals bedeutendsten Bibliothek der Antike in Alexandria in Papyrus-Rollen zusammengetragen. Der in Rom wirkende Galenos von Pergamon hat im zweiten nachchristlichen Jahrhundert durch das Studium dieser Schriften den entscheidenden Beitrag zur Kodifizierung der hippokratischen Schriften und ihrer ethischen Maximen geleistet. Galen war es auch, der Hippokrates zum Idealbild des Arzt-Philosophen und zu seinem persönlichen Vorbild erkor. Die im Corpus Hippocraticum kodifizierte Humoralpathologie ist als erstes wissenschaftlich fundiertes, tragfähiges Konzept der abendländischen Heilkunde zu verstehen, das Jahrhunderte lang Gültigkeit besaß und in vielfachen Ausgaben bis in die Gegenwart tradiert, kommentiert und diskutiert wird. Die sogenannte Echtheitskritik, die Frage also, welche Traktate von Hippokrates selbst stammen, ist noch immer Gegenstand medizinhistorischer Forschung und Diskussion: „Zwischen unserem Wissen vom Leben des Hippokrates und dem umfangreichen Werk, das unter seinem Namen erhalten geblieben ist, besteht eine Kluft, die zu füllen der modernen Forschung nicht gelungen ist, weil die Gesamtheit der Traktate, bei aller unleugbaren Einheit, die vor allem auf dem Geist einer von jedem Rückgriff auf die Magie befreiten Medizin beruht, nicht von einem einzigen Mann geschrieben worden sein kann.“11

Im folgenden seien die wesentlichsten Schriften des Corpus Hippocraticum genannt: Über die Kopfverletzungen; Über die Knochenbrüche; Über die Gelenke; Über die Werkstatt des Arztes; Epidemien I-III; Über die Säfte; Über die Lüfte, die Wasser und die Örtlichkeiten; Über die heilige Krankheit; Prognostikon; Über die Diät bei akuten Erkrankungen; Aphorismen (Aspekte der ärztlichen Praxis, Darstellung der sogenannten „kritischen Tage“, die zur Prognose der individuellen Krankheitsentwicklung dienten); Über die Krankheiten; Über die inneren Erkrankungen; Über die Natur der Frauen; Über die Frauenkrankheiten; Über die Unfruchtbarkeit; Über den Leib; Über die Diät; Über die Natur des Menschen; Über die alte Heilkunde; Über das rechte Verhalten; Vorschriften; Über den Arzt.

Im Corpus Hippocraticum wurde das Konzept der Humoralpathologie („Vier-Säfte-Lehre“) exemplarisch entwickelt. Diese Lehre determinierte durch das jeweilige Mischungsverhältnis der vier Körpersäfte Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle Gesundheit oder Krankheit des Patienten. Sie behielt bis ins frühe 19. Jahrhundert, als sie allmählich durch die naturwissenschaftlich-experimentell fundierte Medizin abgelöst wurde, sowohl als medizinische Theorie als auch in der ärztlichen Praxis uneingeschränkte Gültigkeit. Bis dahin wurden das Corpus Hippocraticum und andere antike medizinische Autoren als Referenzwerke wie diejenigen der jeweiligen Zeitgenossen jeder historischen Epoche zitiert.

Medizin als rationale Wissenschaft

Historisch relevant ist das neue, rational geprägte Menschenbild, das sich in den hippokratischen Schriften widerspiegelte. Der Mensch reflektierte seine eigene Existenz innerhalb der ihn umgebenden Welt, er wurde sich seiner Geschichte allmählich bewusst und vollzog damit aufgrund der ihm gegebenen Vernunft den Übergang von der Natur zur Kultur. Krankheit wird nicht mehr als übernatürliche Erscheinung betrachtet, sondern als rational erfassbarer Prozess, der einer auf der griechischen Naturphilosophie basierenden Analyse unterzogen werden kann. Daraus resultierte für die hippokratisch geprägte Heilkunde, die überwiegend von Wanderärzten ausgeübt wurde, die genaue Beobachtung des kranken Menschen in seiner Ganzheit: seiner körperlichen und seelischen Verfassung und seiner äußeren Umgebung. Darüber hinaus verstand sich die hippokratische Medizin als Kunst und wird daher in der historischen Interpretation als Markstein auf dem Weg zu einer rational begründeten Wissenschaftstheorie gesehen. Große Bedeutung hatte daher das genaue Erheben der individuellen Anamnese des Patienten sowie die Beobachtung und Untersuchung des äußeren Zustands und der körperlichen Krankheitszeichen des Patienten mittels Inspektion, Palpation sowie der „Succussio Hippocratis“, einem Schütteln des Patienten, um Plätschergeräusche aufgrund von Flüssigkeitsansammlungen im Körper festzustellen. Diese diagnostische Maßnahme kann als ein-facher Vorläufer der späteren anatomisch fundierten physikalischen Diagnostik mittels Perkussion und Auskultation angesehen werden. Der leidende Gesichtsausdruck des Todgeweihten wird seither als „facies hippocratica“ bezeichnet.

Ganzheitlicher therapeutischer Ansatz

Charakteristisch für die hippokratische Medizin ist der Vorrang der individuellen Prognose gegenüber einer genauen Diagnose. In der Behandlung des Patienten dominierten neben Heilmitteln v. a. Diäten, Bewegungstherapie und Änderung der Lebensführung. Im Zentrum der Therapie durch den Arzt hippokratischer Prägung stand der individuelle Patient, der Kranke und nicht „die Krankheiten“ wurden behandelt. Auch nicht ein isolierter Einzelteil oder ein Teilaspekt waren Gegenstand der ärztlichen Zuwendung, sondern der Patient mit Leib und Seele. Oberstes Ziel der Therapie war es, die dem Körper innewohnenden Selbstheilungskräfte zu stärken und nicht zu stören. In den Epi-demiebüchern findet sich die ethische Maxime: „Wo Menschenliebe ist, da ist auch Liebe zur Kunst.“ Der Arzt sollte ein Begleiter des Patienten in allen Phasen seiner Krankheit sein. Die Richtlinie, als unheilbar eingestufte Kranke nicht zu therapieren, stellt dazu keinen ethischen Widerspruch dar. Sie bedeutete nämlich nicht, diese unversorgt zu verlassen, sondern die ärztliche Zuwendung auf das für den Patienten möglichst Sinnvolle zu konzentrieren.

Schlussfolgerung

Die Grundsätze der hippokratischen Medizin und ihre ethischen Normen hatten eine entscheidende Bedeutung für die Entwicklung einer über Jahrhunderte tragfähigen medizinischen Theorie. Sie bildeten das erste von magischen Elementen losgelöste wissenschaftliche System einer Heilkunde, der die ganzheitliche Sicht des Menschen als einer Einheit von Leib und Seele zugrunde lag. Die im Hippokratischen Eid zusammengefassten klaren ethischen Maximen zum Lebensschutz, der Dienst am Patienten zu seinem Wohle sowie die Festlegung der notwendigen sittlichen Eigenschaften eines guten Arztes in Verbindung mit der religiösen Gebundenheit seiner hohen Verantwortlichkeit haben das Ethos des Arztes über Jahrhunderte geprägt. Somit stellt die hippokratische Heilkunde und ihre ethische Grundlage aus medizinhistorischer Sicht ein immanentes Kulturerbe dar.12

Diesen Schatz zu pflegen, lebendig zu erhalten, an jede Ärztegeneration immer wieder neu weiterzugeben und in praxisnaher, lebendiger Diskussion in Beziehung zu den ethischen Fragen der gegenwärtigen Heilkunde zu setzen, sollte gerade in unserer Zeit, wo eine geschichtslose medizinische Ethik in Lehre, Forschung und Praxis im Vormarsch begriffen ist, eine zentrale Aufgabe in der Arztausbildung und somit eine unverzichtbare Grundlage der persönlichen Gewissens- und Bewusstseinsbildung jedes Arztes darstellen. Die historische Betrachtung des Anschauungswandels der medizinischen Theorien, der Entwicklung des Arztbildes und der ärztlichen Ethik von der Antike bis zur Gegenwart im Rahmen eines in das Studium obligat integrierten medizinhistorischen Unterrichts wäre nämlich ein wertvoller Beitrag, um durch eine Rückbesinnung auf die Wurzeln der abendländischen Medizin und deren Kultivierung eine höchst notwendige Neuorientierung der gegenwärtigen Heilkunde mitzugestalten. Als Frucht seitens der auf diese Art historisch und ethisch fundiert ausgebildeten Ärzte würde eine größere Ehrfurcht vor dem Leben und Sterben, mehr Zuwendung und Einfühlungsvermögen in die individuellen Bedürfnisse der Leidenden sowie ein menschenwürdigerer Einsatz der vorhandenen technischen und materiellen Ressourcen resultieren. In Analogie zu der biologischen Tatsache, dass ein Baum ohne Wurzeln nicht gedeihen und keine Früchte hervorbringen kann, sei es abschließend gestattet, dieses Bild auch auf die Medizin als Wissenschaft und auf die ausübenden Ärzte zu übertragen. Denn medizinische Forschung und Praxis ohne historisch gefestigtes Fundament führen, wenn sie weiterhin unreflektiert am materialistisch geprägten Fortschritts- und Machbarkeitsglauben und an der Übertechnisierung festhalten, letztlich an ihrem eigentlichen Sinn und Ziel – dem Heil und dem Trost der Kranken – vorbei in die Fruchtlosigkeit.

Referenzen

  1. Edelstein L., Der hippokratische Eid. Mit einem forschungsgeschichtlichen Nachwort von Hans Diller, Artemis-Verlag, Zürich (1969); Deichgräber K., Der hippokratische Eid, Text griechisch und deutsch – Interpretation – Nachleben, 4. Auflage, Hippokrates-Verlag, Stuttgart (1983); Lichtenthaeler Ch., Der Eid des Hippokrates. Ursprung und Bedeutung, Dt. Ärzteverlag, Köln (1984); Leven K.-H., Hippokratischer Eid, in: Gerabek W. E., Haage B. D., Keil G., Wegener W. (Hrsg.), Enzyklopädie Medizingeschichte, De Gruyter, Berlin/New York (2005), S. 598-600; Balkenohl M., Der Eid des Hippokrates, Griechischer Urtext, Übersetzung, Interpretation, Wirkungsgeschichte, heutige Problemlage und moderne Dokumente, Derscheider, Abtsteinach (2007)
  2. Schubert Ch., Der hippokratische Eid. Medizin und Ethik von der Antike bis heute, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt (2005), S. 9-11
  3. Temkin O., Hippocrates in a World of Pagans and Christians, The Johns Hopkins University Press, Baltimore-London (1991)
  4. Roth G., Die Eide und Gelöbnisse an der medizinischen Fakultät der Universität Wien, in: Studien zur Geschichte der Universität Wien, Bd. 1. Böhlau, Graz-Köln (1965), S. 218-258
  5. Schubert Ch., siehe Ref. 2, S. 13
  6. Wolff U., Abschied von Hippokrates. Ärztliche Ethik zwischen Hippokratischem Eid und Genfer Gelöbnis, Colloquium Verlag Otto H. Hess, Berlin (1981); Riha O., Kodifizierung ärztlicher Ethik. Vom hippokratischen Eid zum Genfer Gelöbnis, in: Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse Bd. 131/4. Stuttgart/Leipzig, Hirzel (2010)
  7. Schubert Ch., siehe Ref. 2, S. 88 f.
  8. Leven K.-H., siehe Ref. 1, S. 599
  9. Jouanna J., Die Entstehung der Heilkunst im Westen, in: Grmek M. D. (Hrsg.), Die Geschichte des medizinischen Denkens, C. H. Beck, München (1996), S. 31 f. und 77 f.
  10. Golder W., Hippokrates und das Corpus Hippocraticum. Eine Einführung für Philologen und Mediziner, Königs-hausen & Neumann, Würzburg (2007)
  11. Jouanna J., siehe Ref. 9, S. 38
  12. Beck M., Hippokrates am Scheideweg. Medizin zwischen naturwissenschaftlichem Materialismus und ethischer Verantwortung, Schöningh, Paderborn (2001); Ausfeld-Hafter B., Der hippokratische Eid und die heutige Medizin (=Komplementäre Medizin im interdisziplinären Diskurs 7), Lang, Bern (2003); Steger F., Das Erbe des Hippokrates. Medizinethische Konflikte und ihre Wurzeln, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (2008)

Anschrift der Autorin:

Univ.-Doz. Dr. Gabriela Schmidt-Wyklicky
Institut für Geschichte der Medizin
Department und Sammlungen für Geschichte
der Medizin der Medizinischen Universität Wien
Währinger Straße 25, A-1090 Wien
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