Wartezeiten auf medizinische Behandlungen im Gesundheitssystem

Imago Hominis (2016); 23(2/3): 139-148

Eine 74-jährige Patientin berichtet über den Ablauf ihrer Krankengeschichte: Sie bekommt im Dezember Schmerzen im rechten Bein mit anfangs nur leichten, später zunehmend stärkeren Lähmungserscheinungen. Sie sucht mit Hilfe eines Krankentransportes die stark überlaufene Kassenpraxis eines Orthopäden auf. Dieser erklärt der Patientin, dass es wohl das Beste wäre, wenn sie sich in ein Belegspital legen würde. Dort könne er ihr einige Infusionen geben und zur genaueren Diagnostik auch eine Magnetresonanztomographie (MRT) veranlassen. Da die Patientin weder zusatzversichert noch wohlhabend ist, konnte sie diesem Vorschlag nicht Folge leisten. Daraufhin bekam die Patientin einige „Schmerzinfusionen“ in der Ordination des Orthopäden und es wurde eine ambulante MRT-Zuweisung ausgestellt. Allerdings war erst in einigen Wochen ein Termin zu bekommen. Die Infusionen erbrachten keine Linderung der Beschwerden. Im Gegenteil, der Zustand der Patientin verschlechterte sich dermaßen, dass sie sich auch zu Hause nur mit Hilfe eines Rollstuhls weiterbewegen konnte.

Über die Kinder der Patientin wird sie ambulant zu einer ihnen bekannten Orthopädin in ein Ordensspital gebracht. Diese untersucht die Patientin genau und veranlasst eine MRT, worauf die Diagnose „Vertebrostenose“ gestellt wurde. Man erklärte der Patientin, dass es sich dabei um eine ernste Verengung an der Wirbelsäule mit Nerveneinklemmung handelt, die dringend operiert werden muss. Denn wenn zu lange zugewartet wird, besteht die Gefahr einer dauerhaften Lähmung. Allerdings war im Krankenhaus auf der dritten Klasse kein Bett frei, weil eine Station wegen Personalmangel in der Weihnachtszeit gesperrt werden musste. Man hat daher der Patientin geraten, in die Ambulanz eines Gemeindespitals zu fahren, um auf diese Weise ein Bett zu bekommen, was die Patientin dann auch beherzigt hat. Dort wurde der Patientin mitgeteilt, dass im Augenblick ebenfalls kein Bett frei sei und sie wurde in drei Tagen zu einer Kontrolluntersuchung wiederbestellt. Diesmal wurde sie tatsächlich auf der neurochirurgischen Abteilung aufgenommen und bekam einen Operationstermin in zehn Tagen. In der Zwischenzeit wurde eine physikalische Therapie durchgeführt.

Am vorgesehenen Operationstag kommt die Stationsärztin kurz vor Mittag zur Patientin und teilt ihr mit, dass sie leider jetzt nicht mehr operiert werden kann, weil die Operationen am Vormittag unerwartet zu lange gedauert hätten und die Anästhesistin den Dienst auf Grund des Arbeitszeitgesetzes beenden muss. Ein Ersatz steht leider nicht zur Verfügung. Der neue Termin für die Operation stünde noch nicht fest, er wird aber frühestens in einer Woche stattfinden können.

Die Kinder der Patientin berichten dieses Missgeschick auch einem Bekannten der Familie. Dieser war zufällig mit einem Oberarzt der neurochirurgischen Abteilung befreundet. Er ruft diesen an und bittet ihn, er möge sich um die Patientin kümmern. Der Anruf hat Wirkung und die Patientin wird am nächsten Tag noch in das OP-Programm eingeschoben und operiert.

Danach kommt die Patientin in ein Rehabilitationszentrum. Die Beschwerden besserten sich zunehmend, die Lähmung am rechten Bein bildet sich langsam zurück, sodass die Patientin jetzt, drei Monate nach der Operation, mit Rolator gehen und sich zuhause nahezu selbständig versorgen kann.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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