VIAGRA. Medizinische Fakten und ethische Überlegungen

Imago Hominis (1998); 5(3): 167-170
Rupert Klötzl

Medizinische Fakten

Am 27. März 1998 erteilte die U.S. Food and Drug Administration die Zulassung für die Substanz Sildenafil unter dem Handelsnamen Viagra® für die USA. Als Indikation gibt die Herstellerfirma Pfizer die Behandlung der erektilen Dysfunktion an. Die Substanz kommt aus der NO(Stickstoffmonoxid)-Forschung. Der schon längere Zeit bekannte „endothelium derived relaxing factor“ wurde bereits 1987 als NO identifiziert. Stickstoffmonoxid wirkt als freies Radikal auf das Immunsystem und als Transmitter im Nervensystem – Details sind noch unerforscht. Erwünscht ist jedenfalls seine entspannende Wirkung an den Blutgefäßen. In diesem Zusammenhang experimentierte man auch mit Viagra, das ja zunächst als Koronartherapeutikum getestet wurde. Dabei erkannte man seine Wirkung auf die Erektion. Während der sexuellen Stimulation wird zunächst NO freigesetzt,wodurch das Enzym Guanylzyklase aktiviert wird, was wiederum erhöhte Spiegel von zyklischem Guanosinmonophosphat (cGMP) bewirkt. Dieser erhöhte cGMP-Spiegel bewirkt schließlich eine Relaxation der Gefäßmuskulatur und vor allem eine Relaxation der glatten Schwellkörpermuskulatur. Dadurch kommt es zu dem vermehrten Bluteinstrom in den Penis. Viagra hat keinen direkten Einfluß auf das isolierte menschliche corpus cavernosum, sondern verstärkt den Effekt von NO durch Hemmung jenes Enzyms, das cGMP abbaut: Phosphodiesterase Typ 5 (PDE5). Der dadurch erhöhte cGMP Spiegel bewirkt eine (verlängerte) Erektion. Viagra hat daher ohne sexuelle Stimulation keine Wirkung, da dies die Freisetzung der erwähnten Faktoren voraussetzt. Die Firma Pfizer erwähnt das ausdrücklich in ihrer über Internet verfügbaren, nur für die USA gedachten, sehr ausführlichen pharmakologischen Produktinformation (http://www.viagra.com/hcp/prod_info_temp.htm). Ihr sind auch alle anderen in diesem Aufsatz erwähnten klinisch-pharmakologischen Daten entnommen.

Viagra wurde an über 3000 Personen im Alter zwischen 19 und 87 Jahren getestet. Es wurden randomisierte Doppelblindstudien mit Dosierungen von 25mg, 50mg und 100mg bei Patienten mit organischer und psychogener erektiler Dysfunktion (bzw. Mischformen) gemacht. Je nach Dosierung gaben zwischen 63% und 82% der Patienten eine Verbesserung an gegenüber 24% bei Placebogabe. Bei radikaler Prostatektomie lag die Verbesserung der Erektion bei 43% gegenüber 15% bei Placebo.

Als Kontraindikation wird Überempfindlichkeit gegen eine der Komponenten des Präparates angegeben. Aufgrund der Verstärkung der blutdrucksenkenden Wirkung der Nitrate über den NO/cGMP-Weg ist die gleichzeitige Verabreichung von Viagra mit jeglichen Nitraten oder mit NO-donatoren ebenfalls absolut kontraindiziert.

Zur Vorsicht wird geraten bei Patienten mit kardiovaskulären Erkrankungen, Blutgerinnungsstörungen, peptischen Ulcera und Retinitis pigmentosa.

Ein kardiales Risiko wird nicht direkt durch das Präparat angenommen, sondern lediglich indirekt aufgrund eines generell erhöhten kardialen Risikos bei sexueller Aktivität. Generelle Vorsicht ist auch bei Patienten mit anatomischer Deformierung des Penis angebracht, sowie bei Zuständen, die zum Priapismus prädisponieren (Sichelzellanämie, Multiples Myelom, Leukämie). Studien über den Effekt einer Kombination von Viagra mit anderen Therapien der erektilen Dysfunktion liegen nicht vor.

Die Patienteninformation gibt – das ist offenbar in den USA nötig – ausdrücklich an, daß Viagra nicht vor sexuell übertragbaren Erkrankungen schützt und nicht für den Gebrauch bei Neugeborenen, Kindern oder Frauen indiziert ist.

Der Abbau von Viagra ist vermittelt durch die Isoenzyme 3A4 und 2C9 von Cytochrom P450, deren Hemmstoffe daher die Wirkung verlängern können. In vivo Studien ergaben nach Gabe von 800mg Cimetidine unter 50mg Sildenafil einen Anstieg von 56% des Plasmasildenafilspiegels. Unter 100mg Sildenafil bewirkte 500mg Erythromycin täglich während 5 Tagen einen Anstieg von 182% der systemischen Sildenafilbelastung. Von Ketokonazol, Itraconazol und Mibefradil nimmt man noch stärkere Wirkungen in dieser Richtung an. Die Hemmstoffe anderer Zytochrom P-Isoenzyme (SSRI´s, ACE-Hemmer, Ca-Kanalblocker, trizyklische Antidepressiva, Thiaziddiuretika) hatten klinisch keine Auswirkung auf den Sildenafilabbau.

Der hypotensive Effekt von Alkohol bei 0,8 Promille wurde nicht verstärkt. Es ergaben sich auch keine wesentlichen Unterschiede bei Patienten mit oder ohne antihypertensiver Therapie.

Die generell als mild und kurzdauernd angegebenen Nebenwirkungen sind in erster Linie Kopfschmerzen, Flush, Übelkeit, Schwellung der Nasenschleimhaut, Sehstörungen.

Als Standarddosierung wird 50mg Viagra etwa 1 Stunde vor der sexuellen Aktivität gegeben. Steigerung bis 100mg oder Senkung auf 25mg je nach individueller Notwendigkeit ist möglich. Erhöhte Spiegel können bei Leberzirrhose, schwerer Niereninsuffizienz und der Gabe der oben erwähnten Zytochrom-Inhibitoren auftreten und erfordern eine Dosisreduktion auf 25mg.

Soweit die medizinischen Fakten in etwas geraffter Form.

Ethische Aspekte

Wie ist es nun zu erklären, daß ein solches Medikament einen derartigen Boom auslösen konnte? Es gab ja auch bisher Möglichkeiten der Behandlung der erektilen Dysfunktion (ED). Ist es nur die einfachere Möglichkeit, eine Tablette zu schlucken, statt wie bisher eine lokale Injektion durchführen zu müssen? Welche Dimension der Erwartung und des Bedürfnisses wurde angesprochen? Glaubt man den Zahlen der Illustrierten News vom 18. 6. 98, so rechnet man mit einem Umsatz von 4 Mrd. US$/Jahr. Bisher hätten 1,7 Millionen Männer ein Rezept in den USA eingelöst und weiterhin werden 250.000 Rezepte/Woche in den USA ausgestellt. Es wird bereits von einem Kursanstieg der Pfizer Aktie gesprochen, aber es werden auch bisher etwa 40 Todesfälle mit Viagra in Zusammenhang gebracht. Im August las man in Österreich, Viagra werde bereits auf dem Schwarzmarkt um 300 Schilling pro Tablette verkauft.

Im September wurde Viagra in Europa und auch in Österreich zugelassen. Das wissenschaftliche Komitee der Europäischen Agentur für die Bewertung von Arzneimitteln in der EU hat bereits eine Empfehlung zur Zulassung abgegeben. Viagra wird nur auf ärztliche Verschreibung erhältlich sein. Halten wir aber fest: Viagra ist ein Medikament und kein Aphrodisiakum. Es ist keine „Lustpille“ und darf auch nicht zur „life-style Droge“ werden. In diese Richtung dürfte jedoch trotz Rezeptpflicht die Erwartung der meisten Leute gehen, die durch die Art der Medienberichterstattung vielfach noch verstärkt wurde.

Die Ursache für diese Erwartung muß man in einem Gesamtklima suchen, das, begünstigt durch Übermüdung, Frustration am Arbeitsplatz, Streß sowie übermäßiges und freudloses Essen aus Massenprodukten und–abspeisungen, weithin eine Abstumpfung und Manipulierbarkeit der Menschen bewirkt hat. Klares Denken, Willenskraft und Selbstdisziplin sind dabei zusehends verkommen. Die westliche Dekadenz verlangt nach (Ersatz)befriedigung. Eingebettet in einen infantilen Konsumismus und Hedonismus sehen wir eine Übererotisierung der Gesellschaft. Obwohl sich die enthusiastischen Erwartungen und Vorhersagen der 68er, daß der von sexuellen Tabus befreite Mensch glücklich, frei und friedfertig sein würde („make love, not war“), als völlig irrig herausgestellt haben, bestimmt dieses Denken weiterhin die öffentliche Meinung. Anstatt zu erkennen, daß die ungezügelte Sexualität Suchtcharakter hat und daher der zeitlich parallele Anstieg des Drogenkonsums kein Zufall ist, propagiert man weiter diese in Wirklichkeit längst überholten Ideologien. So kann man teilweise gar nicht mehr von Sexualität sprechen, höchstens von unreifer oder perverser Genitalität. Von der Zerstörung der Familie bis hin zum verabscheungswürdigen Kindesmißbrauch spannt sich ein Bogen verheerender Entwicklungen. Gleichzeitig wird die Lehre der Kirche in Humanae Vitae nach wie vor als nicht lebbar abqualifiziert, ja verspottet. Man will hier manche Zusammenhänge einfach nicht sehen, denn der Sex ist ein zu gutes Geschäft geworden. Die Ordnung und Zügelung der Geschlechtlichkeit bedeutet sicherlich einen lebenslangen Kampf, bei dem jeder auch seine Schwäche und das Angewiesensein auf die Gnade Gottes erkennen wird. Gerade dadurch wird man aber auch die richtigen Relationen behalten, die sonst verloren gehen. Die Integration der Sexualität in die gesamte Persönlichkeit ist eben nicht nur eine Voraussetzung für Weisheit, Reifung, Wertempfinden und echte Erfüllung, sondern auch für eine Gottesbegegnung. Um all dies geht es auch der Kirche, und man kann nicht oft genug betonen, daß das nichts mit Leibfeindlichkeit zu tun hat– ganz im Gegenteil. Beziehungsstörungen, Egoismus, mangelnde personale Begegnungs- und Liebesfähigkeit gehen heute einher mit Überreizung, aber auch mit Depressionen, mit Hypersexualisierung und überfrachteten sexuellen Höchstansprüchen.

Daß psychogene erektile Dysfunktionen in diesen weiteren Zusammenhängen gesehen werden müssen, ist – wenigstens teilweise – gerade in den letzten Jahren zunehmend ins Bewußtsein gerückt. Insofern könnte Viagra auch kontraproduktiv wirken. Denn eben dieser Prozeß zunehmender Einsicht wird nun wieder zurückgedrängt. Lieber greift man zur Tablette, als sich einem längeren, vielleicht mühsamen Lernprozeß zu unterwerfen. Insofern ist die Indikation von Viagra bei der sogenannten psychogenen ED problematisch, zumal die Trennung zur somatischen ED oft gar nicht so scharf möglich ist. In vielen Fällen wird man zur Psychotherapie raten müssen. Aber auch das seelsorgliche Gespräch wird bei entsprechend ungeordneten Verhältnissen wieder mehr in seiner Bedeutung erkannt werden müssen. Schließlich müßte überhaupt ein tiefer gehendes Umdenken erfolgen, das die längst überholten 68er-Dogmen endlich über Bord wirft. Doch davon scheinen wir weit entfernt zu sein.

Bei organisch bedingter ED wird Viagra nach entsprechender ärztlicher Diagnosestellung und Verordnung seinen Platz haben.

Da nach katholischer Lehre die Sexualität auf die Ausübung im Rahmen einer intakten Ehe beschränkt ist, ergibt sich eine entsprechende ethisch-moralische Restriktion bei der Anwendung und Verschreibung. Dies bleibt jedoch rein rechtlich gesehen ohne Konsequenz.

Verfolgt man die gegenwärtige Diskussion, so dürfte der Boom um Viagra auch einen Boom lustfördernder „Medikamente“ nach sich ziehen. Angeblich wird nicht nur die Wirkung von Viagra bei der Frau auch unter diesem Blickwinkel getestet, sondern es wird auch auf dem Gebiet der Apomorphine und anderer Substanzen in dieser Hinsicht geforscht. Damit wäre der Weg in Richtung Droge und entsprechender, zumindest psychischer Abhängigkeit eingeschlagen, was sicherlich abzulehnen ist.

Abschließend muß man feststellen, daß Viagra seinen Platz hauptsächlich bei der Behandlung der somatisch bedingten erektilen Dysfunktion hat. Aber auch hier ist anzumerken, daß die Abnahme der sexuellen Aktivität mit zunehmendem Alter etwas Physiologisches ist, und daß das Ausmaß der Möglichkeiten im jugendlichen Alter nicht zur allgemeinen Norm erhoben werden darf. Das käme einer Vergötzung der Jugend gleich und würde eine streßreiche Prolongierung einer künstlichen Jugendlichkeit bedeuten und ein Altern in Würde verhindern.

Man darf gespannt sein, was die Zulassung von Viagra in Europa bewirkt, und man wird für einen Einsatz innerhalb der entsprechenden Grenzen Sorge tragen müssen!

Anschrift des Autors:

Dr. Rupert Klötzl
Praktischer Arzt
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Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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