Qualitätssicherung und Tugenden im Gesundheitswesen: Begründung des Zusammenhangs

Imago Hominis (2000); 7(3): 199-211
Enrique H. Prat

Zusammenfassung

Qualitätssicherung ist in der modernen High-Tech-Medizin absolut notwendig geworden. Allerdings können die in der Industrie erfolgreichen Qualitätssicherungskonzepte vom Gesundheitswesen nicht einfach übernommen werden. Die Leistungen in der medizinischen Versorgung enthalten eine Vielzahl von schwer erfassbaren immateriellen und persönlichen Komponenten. Diese können am ehesten erfasst werden, wenn man in der Qualitätssicherung ethische Dimensionen einbezieht. Letztlich ist Qualität ein zentraler Begriff der Ethik, als Lehre des guten Handelns. Ethische Kompetenz, die sowohl aus ethischem Wissen wie aus Tugenden besteht, ist ein Humankapital, das für die Qualitätssicherung unverzichtbar ist. Festlegung von Standards, Kontrollen und auf andere Instrumente Qualitätsförderung sind ebenso unverzichtbar. Auch diese werden von der ethischen Kompetenz gefordert. Aber ohne diese Kompetenz kann die Qualität nicht wirklich gesichert werden. Die Verbesserung der Qualität setzt immer eine Steigerung der ethischen Kompetenz voraus. D.h. auch ins „ethische Kapital" muss investiert werden.

Schlüsselworte: Qualitätssicherung, Ethische Kompetenz, sittliche Tugenden, Qualitätsmanagement, High-Tech-Medizin

Abstract

Quality Assurance in modern High Tech Medicine has become absolutely necessary. However, those used by the industry cannot successfully taken over as quality assurance concepts by health organisations. The services that medical care are given contain a number of immaterial and personal components which are difficult to comprehend. They can only be understood correctly when ethical dimensions are included in the quality assurance. In reality, quality is one of the main concepts of ethics, the science of good acting. Ethical competence, which is made up of ethical knowledge and virtues, is a humane principal absolutely necessary when dealing with this type of quality assurance. The setting up of standards, controls and other instruments of furthering quality cannot be done without. These are also furthered by ethical competence. Without competence, quality can never be assured. The improvement of quality is always preceeded by an increase in ethical competence. In other words, investing in „ethical capital" is a very good investment.

Keywords: quality assurence, ethical competence, moral virtues, quality management, high-tech medicine


1. Qualität und Komplexität im Gesundheitswesen

Mit dem Fortschritt der medizinischen Diagnostik und Therapeutik ist in den letzten Jahrzehnten auch die Komplexität des Gesundheitswesen rasant gewachsen. Die Technik- und Kostenintensität der neuen Diagnose- und Behandlungsmethoden sind sicherlich maßgebliche Ursachen der immer stärker werdenden Verlagerung des Schwerpunkts der medizinischen Versorgung von den kleinen Einheiten (Ordinationen) in die Versorgungsbetriebe (Kliniken und Krankenhäuser) und der Entstehung von neuen medizinischen Fächern und Spezialabteilungen. Krankenanstalten haben sich zu High-Tech-Einrichtungen mit großer Komplexität entwickelt, die gewaltige Anforderungen an das Management stellen. Nur durch geeignete Strukturierung, dynamische Organisation und hochsensible Prozesssteuerung können die Behandlungs- und Pflegeprozesse effizient gestaltet werden. Unter diesen Rahmenbedingungen weicht die Arzt-Patient-Beziehung immer mehr einer Institution-Patient-Beziehung, in der die individuell-persönliche Komponente ihre Bedeutung einbüßt. Der Behandlungsvertrag wird dabei nicht zwischen Arzt und Patient geschlossen, sondern zwischen Patient und Institution, die jetzt letztlich gegenüber dem Patienten für die Behandlung haftet.

Aber in diesem Vertrag sind meistens andere Institutionen auch involviert: Zunächst der Versicherungsgeber, der die Kosten der konkreten Behandlung des Versicherten finanziert und natürlich auf Effizienz und Wirtschaftlichkeit, d.h. auf Sparsamkeit besonders achtet. Außerdem beeinflusst in vielen Ländern, in denen sich der Staat auch an der Finanzierung des Gesundheitswesen mit Mitteln aus dem ordentlichen Budget beteiligt, auch die öffentliche Hand den Behandlungsvertrag. Dieser Vertrag wird somit ein zwischen Patient, Krankenanstalt, Arzt und Versicherungsgeber staatlich weitgehend geregeltes multilaterales Abkommen. Leistung und Gegenleistung im Behandlungsvertrag sind keine private Angelegenheit mehr, die sich der Patient mit dem eigenen Arzt ausmachen kann, sondern werden immer mehr zum Gegenstand einer komplexen multilateralen Transaktion, die gesetzlich reguliert wird. Allgemein geltende Regelungen setzen Maßstäbe für die Bewertung von Leistungen voraus, die auf Standardisierung der letzteren hinauslaufen. Die Leistungen der medizinischen Versorgung müssen also im Hinblick auf ihre Qualität messbar gemacht werden, um in der Folge Qualitätsstandards festlegen zu können. Die Gesetze der medizinischen Versorgung enthalten heute schon üblicherweise Bestimmungen zur Qualitätssicherung.

2. Das Konzept der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen

Der Qualitätssicherungsgedanke kommt aus dem industriellen Bereich, wo er bereits eine lange Tradition hat. Das Ziel ist, die Produktqualität zu gewährleisten, d.h., dass alle Erzeugnisse einen bestimmten vordefinierten Qualitätsstandard erreichen sollen. Die Qualität eines Produktes liegt im Bereich des Messbaren, ist daher objektivierbar und kann bei jedem präzis gemessen bzw. kontrolliert werden (Qualitätskontrolle). Die erwünschte Beschaffenheit und Zweckdienlichkeit des Produktes wird im voraus definiert (Standardfestlegung). Produkte, die den Qualitätsstandard nicht erreichen, werden aussortiert (Ergebnisqualität). Müssen relativ viele Erzeugnisse aussortiert werden, so sind qualitätssteigernde Maßnahmen im Produktionsprozess bzw. in der Produktionsstruktur notwendig (Prozess- und Strukturqualität).

Das Konzept der Qualitätssicherung in der Industrie ist so klar und seine Umsetzung marktwirtschaftlich so nützlich, dass es heute weltweit erfolgreich Anwendung findet. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass nach und nach versucht wurde, dasselbe Konzept auch auf den Dienstleistungssektor auszuweiten. Hier liegen aber die Dinge etwas anders: Leistungen lassen sich nicht in gleicher Weise wie Erzeugnisse standardisieren. Dienstleistungen enthalten materielle und immaterielle Komponenten. Manchmal dominieren die ersten, wie im Transportwesen, ein andermal liegt aber das Schwergewicht auf immateriellen Elementen wie im Beratungswesen (z.B. Steuer- und Rechtsberatung). Während die ersten sich auch relativ gut standardisieren lassen, entziehen sich die immateriellen Komponenten einer objektiven Messbarkeit. Ein bedeutendes immaterielles Element einer jeden Dienstleistung ist die Beziehung zwischen dem Dienstgeber und dem Dienstnehmer. Sie spielt für die Qualität der Dienstleistungen eine maßgebliche Rolle. Dagegen ist die persönliche menschliche Beziehung zwischen Konsument und Produzent bei der modernen Versorgung mit Gütern meistens unerheblich. Wenn das Produkt und der Preis stimmen, wird auch die Transaktion generell zur Zufriedenheit der Konsumenten und Produzenten abgewickelt. Dennoch: je persönlicher und gleichzeitig weniger materialisierbar der Dienst ist, umso weniger standardisierbar ist er. Die menschliche Komponente der zwischenmenschlichen Beziehungen kann verschiedene Intensitäten aufweisen, je nachdem welche Bereiche der Persönlichkeit involviert sind. So sind z.B. die „Menschlichkeitsanforderungen“ bei einer geschäftlichen Beziehung, in der vorwiegend materielle Interessen auf dem Spiel stehen, ganz anders als bei freundschaftlichen oder gar familiären Bindungen, die weit tiefer in die Lebensgestaltung hineinreichen. Jedenfalls haben zwischenmenschliche Beziehungen immer einen singulären Charakter und können nicht ganz standardisiert werden, ohne ihre genuin menschlichen Komponenten, die ihre Einmaligkeit ausmachen, zu opfern. Das bewirkt, dass jeder menschliche Dienst eigentlich immer von einem anderen verschieden ist. Mit einem Wort, es ist durchaus möglich, viele Einzelschritte bei der Erbringung einer Dienstleistung zu standardisieren, aber es wird immer ein mehr oder weniger großer Rest übrig bleiben, der sich einer Normierung entzieht.

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat in den siebziger Jahren begonnen, der Qualitätssicherung erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken und bald danach Richtlinien und Strategien für die Mitgliederstaaten und Institutionen des Gesundheitswesen zu entwickeln.1 Die Literatur zur Qualitätssicherung im Gesundheitswesen ist mittlerweile sehr stark gewachsen und dem Anschein nach wird sie noch stärker zunehmen.2 Ein wichtiger Strang der Literatur versucht die Komplexität des Gesundheitswesens und seiner Institutionen, besonders der Krankenanstalt, auf Grund von theoretischen, meistens soziologischen und organisationstheoretischen Ansätzen in den Griff zu bekommen, um theoretische Prinzipien für die Programme und Strategien zur Qualitätssicherung zu gewinnen. Ein zweiter Strang besteht in unendlich vielen Qualitätsstudien über spezifische, ziemlich partikuläre Themen der verschiedenen, vor allem operativen Fächer. Eine dritte Strömung versucht durch Zusammenführung der anderen zwei Stränge zu einer brauchbaren wirklichkeitsbezogenen Theorie der Qualitätssicherung in der Pflege und in der Medizin zu kommen, die sich im operativen Qualitätsmanagement auf alle Ebenen der nationalen, regionalen und lokalen Aspekte des Gesundheitswesens umsetzen lässt, vom Krankenhaus bis ins Patientenzimmer.

Die Leistungen im medizinischen Bereich sind nicht nur für den Menschen, sondern auch als unmittelbare Leistungen am Menschen gedacht. Bei ihnen kommt dem erwähnten, singulären Rest, der nicht standardisierbar ist, große Bedeutung zu. Neben der spezifisch medizinischen Leistung sind in diesem Bereich auch pflegerische, psychologische, organisatorische, kaufmännische und seelsorgerische Leistungen zu erbringen. Das ganze Leistungsarsenal steht im Dienste des grundlegendsten Bedürfnisses des Menschen, das Voraussetzung für alle anderen ist, nämlich seiner Selbsterhaltung. Die Arzt-Patient-Beziehung ist eine asymmetrische Beziehung, in der der Patient um seiner Selbsterhaltung willen sich einem anderen Menschen freiwillig ausliefern muss. Kaum eine andere menschliche Beziehung fordert vom Menschen eine derartige Selbstaufgabe. Der Mensch als Ganzes wird zum Gegenstand der medizinischen Handlung. Damit er aber immer noch als Mensch behandelt wird, darf er nicht nur ein „Gegenstand", ein „Etwas“ sein, sondern immer auch ein Zweck an sich, ein Träger unvergleichbarer und unabwägbarer Würde, eine Person. Dies stellt den Arzt vor große Anforderungen, die über seine rein fachliche Kompetenz hinausgehen. Es sind Anforderungen ethischer Natur. Außerdem spielt das Vertrauen in dieser Beziehung eine sehr große Rolle. Seit der Antike hat die Ärzteschaft erkannt, dass sich dieses Vertrauen nicht nur auf fachliche sondern auch auf moralische Qualitäten stützen muss. Der hippokratische Eid, welchen die Ärzte bis vor kurzem geleistet haben, oder die in vielen Ländern geltenden Verhaltenskodices für die Ärzteschaft sind nicht nur eine Strategie zu einer immer schwieriger gewordenen Erlangung des Vertrauens des Patienten, sondern normative Prinzipien, die einen menschengerechten Umgang ausmachen und deren Nichteinhaltung einen Verstoß gegen die Würde des Patienten darstellen. Diese Prinzipien stellen hohe ethische Anforderungen an die Leistungen im medizinischen Bereich. In dieser Hinsicht hebt sich das medizinische Handeln von allen anderen menschlichen Handlungen ab, die nicht so unmittelbar die Würde des Menschen anrühren. Damit ist auch klar, dass das Konzept der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen dieser ethischen Dimension Rechnung tragen muss.

3. Von der Qualitätssicherungstheorie zum Qualitätsmanagement

Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, den Stand der Qualitätssicherungslehre im Gesundheitswesen zusammenfassend wiederzugeben. Diese Aufgabe wurde von kompetenterer Seite bereits erledigt.3 Wie gut eine Qualitätssicherungstheorie ist, wird man vor allem daran messen müssen, wie gut sie sich umsetzen lässt, d.h. ob sie konkrete operative Kriterien und ein brauchbares Instrumentarium für das Qualitätsmanagement liefert. Der von Philosophen gerne wiederholte Ausspruch, dass es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie, ist weniger widersprüchlich als Praktiker manchmal annehmen. Für den Zweck dieser Arbeit genügt die Darstellung einiger Aspekte der Qualitätssicherungslehre, die sich an der Schnittstelle mit dem Qualitätsmanagement im Gesundheitswesen befinden.

In der Fachliteratur hat sich die von Donabedian4 vorgeschlagene dreifache Kategorisierung der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen durchgesetzt, die auf Grund seiner Einfachheit und analytischen Nützlichkeit her- vorsticht: Er schlägt einen dreidimensionalen Begriff von Qualität vor, nämlich Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Die Strukturqualität bezieht sich auf die statische Organisationsstruktur (Kompetenzzuteilung) und die Personalqualifikationsstruktur und umfasst auch die Aus- und Weiterbildung, die Arbeitsplatzgestaltung und die Investitionen. Unter Prozessqualität werden die dynamischen Abläufe in den Gesundheitssystemen im direkten Zusammenhang mit der Leistungserbringung der Diagnose, Therapie und Verwaltung erfasst. Unter Ergebnisqualität versteht man die Maßnahmen, die nach der Leistungserbringung zur Evaluierung und Verbesserung der Ergebnisse durchzuführen sind.

Auf Grund dieser dreifachen Kategorisierung wurden die entsprechenden monokausalen Qualitätsmodelle für die Organisationen des Gesundheitswesen entworfen, die zur Festlegung von Struktur-, Prozess- und Ergebnisstandards behilflich sein müssten. Sie sind insofern monokausal als jeweils immer nur eine Variable in Beziehung zur Qualität gestellt wird. So wird z.B. leicht festgestellt, dass die Pünktlichkeit ein Qualitätsfaktor ist; wird der Zeitplan eingehalten, läuft alles besser, die Qualität ist höher. Man wird sagen können, dass die Prozessqualität von der Einhaltung des vorgesehenen Zeitplans abhängt und Verzögerungen (Unpünktlichkeit) qualitätsmindernd sind. Wie aber die Pünktlichkeit mit anderen Qualitätsfaktoren (z.B. Sauberkeit) zusammenhängt, wird aus der monokausalen Relation nicht ersichtlich.

Dieser dreidimensionale Qualitätsbegriff hat sich sicherlich als sehr nützlich erwiesen, weil er erlaubt hat, viele maßgebliche Faktoren der Qualität zu berücksichtigen, die einer oder mehreren dieser drei Kategorien zugeordnet werden können. Damit hat man sicherlich viele Aspekte der Qualität der medizinischen und pflegerischen Leistungen abdecken können. Aber die Tatsache, dass immer nur jeweils eine Variable in dem Zusammenhang mit Qualität gestellt wird, lässt die Frage offen, ob alle wesentlichen Aspekte berücksichtigt werden können und ob sich eine alle einzelnen Aspekte integrierende Qualität überhaupt ermitteln lässt. Diese Frage leitet uns zu den zwei grundlegenden Schwierigkeiten der Qualitätssicherungstheorie im Gesundheitswesen über.

Die erste Schwierigkeit ist eine definitorische: es konnte bis jetzt kein zufriedenstellender Begriff von Qualität, welcher die ganze Komplexität der medizinischen Leistung abdeckt, gefunden werden. Die Definition von Qualität bereitet schon im industriellen Bereich gewisse Schwierigkeiten. Im Bereich der medizinischen Versorgung wird die Aufgabe, die Qualität zu definieren, nicht gerade leichter, wenn man bedenkt, dass im Gesundheitsbegriff zusätzliche subjektive Dimensionen enthalten sind, die für die Struktur der Handlungen wesentlich sind, und dass die schwer generalisierbaren und definierbaren, oben erwähnten Beziehungsaspekte eine ganz wichtige Rolle bei der Patientenversorgung darstellen.

Die zweite Schwierigkeit ist eine methodische und betrifft die Messbarkeit der immateriellen Merkmale der Qualität. Zur Bewertung von immateriellen Dimensionen greift man gewöhnlich auf materielle messbare Dimensionen zurück, die mit der ersten in einem gewissen Zusammenhang stehen. Sie werden Indikatoren genannt, die indirekt und approximativ etwas über die eigentlichen immateriellen Dimensionen aussagen. Das Konzept der Reduktion von immateriellen unmessbaren Dimensionen auf materielle quantifizierbare wird oft verwendet, führt aber letztlich nur zu schwer interpretierbaren Ergebnissen. Die Literatur zur Messung der Lebensqualität in der Medizin ist dafür das beste Beispiel.

Die Bedeutung dieser zwei Schwierigkeiten und der ethischen Komponenten im Gesundheitswesen erklären, dass unter den Experten der Qualitätssicherung die Auffassung vorherrscht, dass Qualitätsmanagementsysteme der Industrie und der Wirtschaft (ISO 9000 und ISO 9004) sich nicht auf das Gesundheitswesen übertragen lassen, obwohl bereits auf deren Grundlagen teure Seminare angeboten werden. „In Wirklichkeit bedeutet eine Zertifizierung nach ISO 9000 und 9004 nach Aussage der GQMB (Fachgesellschaft für Qualitätsmanagement in der Gesundheitsversorgung) nicht mehr und nicht weniger, als dass damit ein System zertifiziert wird, aber niemals die Qualität der Versorgung selbst.“5 Normiert wird nach ISO-Norm alles, was sich im Ablauf bürokratisch in Schritte zergliedern lässt. Immer mehr wird klar, dass Qualität auch von dynamischen und immateriellen Faktoren wesentlich mitbestimmt wird, welche durch die starre Normierung von Abläufen und die Festlegung von unelastischen hierarchischen Strukturen außer Acht gelassen werden. Die jüngsten Entwicklungen des Qualitätsmanagements versuchen diese Faktoren stärker in das Konzept zu integrieren.

4. Dynamische und immaterielle Dimensionen des Qualitätsmanagements

In den neueren Strömungen der Managementtheorie werden die Organisationen nicht mehr in der herkömmlichen Sicht als ein statisches objektives Faktum, das sich nicht ändert (d.h. sich nicht merklich ändert, weil seine Änderungen kaum wahrgenommen werden können) angesehen, sondern als situativ-komplex-dynamischer Prozess6, geprägt durch Autonomie, Selbstorganisation, Partizipation, Dezentralisation und Subjektbezug.7 Aufgabe der Qualitätssicherung ist nicht nur den Prozess zu steuern, sondern auch abzusichern, dass es durch die Eigendynamik nicht das eigentliche Ziel der Organisation verfehlt. Dadurch entsteht ein neuer Qualitätsbegriff, der nicht mehr durch die Trilogie Donabedians (Struktur-, Prozess- und Erfolgsqualität) abgedeckt werden kann. Für die neue Denkweise, z.B. für das „Total Quality Management“, „Qualität ist nicht vorrangig eine unternehmensinterne Bewertungsgröße für Fehlleistungen (negative Sichtweise), sondern vielmehr ein Erfolgsparameter für ‚begeisterte Kunden’ und deren Loyalität zu einem Unternehmen und seinen Produkten (positive Sichtweise)“.8 So wird Qualität vom Kontrollbegriff zum Wachstums- und Entwicklungsbegriff. Mit der Qualität wird ein Wertschöpfungspotential verbunden, an dessen Generierung sämtliche Bereiche und Mitarbeiter eines Unternehmens beteiligt sind, und das sich funktionsübergreifend auf alle Bereiche und alle Abläufe des Unternehmens beziehen soll. Investitionen in Qualität gelten in diesem Zusammenhang als die effizientesten und rentabelsten. Die heutigen Anforderungen an Dienstleistungsunternehmen sind durch einen Übergang vom quantitativen zum qualitativen Wachstum geprägt. Die immateriellen Faktoren rücken dabei immer stärker in den Vordergrund der Leistung.

Soziopsychologisch lassen sich im Leben eines menschlichen Kollektivs (Organisation, Unternehmen oder auch Krankenanstalt) zwei immaterielle Bereiche unterscheiden, auf welche die Qualitätsdimensionen bezogen werden können: nämlich den innermenschlichen und den zwischenmenschlichen Bereich. Zum innermenschlichen Bereich gehören die fachlichen Fertigkeiten und auch stabilen Eigenschaften und Einstellungen (z.B. Arbeitsamkeit, Beharrlichkeit, Pflichtbewusstsein usw.), die wir zunächst auch Tugenden nennen wollen. Sie sind sowohl für die Lebensqualität der Beteiligten wie für die Qualität der Leistung maßgeblich. Auf der einen Seite geht es also um die beruflichen Qualifikationen, die durch Erfahrung, Aus- und Fortbildung erworben werden, und auf der anderen Seite auch um charakter-9 und einstellungsmässige Eigenschaften, deren Aneignung und Pflege den Rahmen von üblichen berufsausbildenden und weiterbildenden Programmen, bei denen es meistens nur um den Erwerb von Fertigkeiten geht, sprengen würde.

Im zwischenmenschlichen Bereich geht es um das Zusammenleben und die -arbeit der Beteiligten. Innerhalb dieses Bereiches kann man auch zwischen zwei Unterbereichen unterscheiden. Auf der einen Seite spielt die Struktur und Organisation der Zusammenarbeit eine ganz wichtige Rolle. Sie stellen die Rahmenbedingungen für die Abwicklung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Management und Organisation, heute sehr angesehene Wissenschaften, haben verschiedene Techniken und Methoden zur Rationalisierung von hochkomplizierten Leistungen entwickelt. Aber im zwischenmenschlichen Bereich spielen auch die kommunikativen und kooperativen Fähigkeiten der Beteiligten eine große Rolle. Diese sind sowohl Tugenden wie Fertigkeiten, die auch dem innermenschlichen Bereich zugerechnet werden, so dass für die Qualitätssicherung eigentlich drei Faktoren verbleiben:

  1. Management und Organisation
  2. Fertigkeiten
  3. Tugenden

Für den gesamten Dienstleistungssektor, umso mehr aber für das Gesundheitswesen, wird immer stärker anerkannt, dass der zentrale Gegenstand der Qualitätssicherung das Personal ist. Die Qualitätssicherungsprogramme setzen immer mehr auf Management, Organisation und Fortbildung. Doch damit werden die zwei ersten Faktoren abgedeckt, aber noch nicht der dritte.

5. Qualität als ethische Dimension

Qualitätssicherung zielt also darauf ab, zu gewährleisten, dass die Qualität dessen, was man tut (das erzeugte Produkt oder die erbrachte Leistung), ausreichend und befriedigend ist, d.h. einem vorher definierten Standard entspricht. Man wird also sagen, dass dann, wenn die Qualität über dem Standard liegt, das Produkt (die Leistung) gut ist; was darunter liegt, ist schlecht. Qualität ist also gleich Produkt- bzw. Leistungsgüte. Und mit der Einführung der Vokabeln „gut“ und „Güte“ kommen wir schon in die Nähe der Ethik, der Lehre des guten Handelns. Als erstes muss aber darauf hingewiesen werden, dass man von gut und Güte in verschiedener Art und Weise sprechen kann.

Diese Mehrdeutigkeit des Terminus „gut“ hat der klassischen Handlungstheorie Rechnung getragen, mit der Unterscheidung zwischen der praxis und poiesis (agere und facere, handeln und hervorbringen), die viel Licht auf die Struktur der menschlichen Handlung wirft und die Grundlage zur Bestimmung ihrer Qualität bietet. Bei der poiesis (Produktion oder Erbringung einer Leistung) werden die objektiven Ergebnisse, also Erzeugnisse wie ein Medikament oder auch Leistungen wie eine Massage fokussiert, die losgelöst von dem Entstehungsvorgang eine eigene Entität bekommen. Von einem Medikament wird gesagt, dass es gut ist, wenn es dazu tauglich ist, jene heilende Wirkung zu erzielen, die auch der Zweck seiner Herstellung ist. Bei der praxis geht es um die Handlungstätigkeit selbst als Ziel der Handlung, sie fokussiert das Handeln selbst als etwas, das vom Handelnden nicht getrennt werden kann, das letztlich für den Handelnden selbst gut ist oder ihm schadet. Jede Handlung kann als poiesis und als praxis betrachtet werden. Als poiesis werden die autonom objektivierbaren Ergebnisse der Tätigkeit beurteilt: z.B. ob bei einer Massage eine Muskelentspannung beim Patienten eingetreten ist: dann war sie eine gute Massage. Als praxis wird die Tätigkeit selbst, eine von einem Subjekt frei durchgeführte Tätigkeit, betrachtet und es wird beurteilt, ob das Subjekt sich vervollkommnet. Das Massieren wird nicht von den Folgen für den Patienten her beurteilt (praktisches Gelingen), sondern ob dadurch der Handelnde selbst besser wird nämlich, im Sinn des sittlichen Gelingens seines Handelns.

Im Rahmen der poiesis ist das „gut“, was tauglich ist, ein bestimmtes angestrebtes Ziel zu erreichen. So sagt man z.B., dass der Hammer gut sei, um den Nagel in die Wand zu schlagen. Und die Handlung mit dem Hammer zu schlagen, ist das richtige (gute) Mittel, um das Ziel „einen Nagel in die Wand zu bekommen“ zu erreichen und in weiterer Folge „ein Bild aufzuhängen“. Damit ist gesagt, dass um das Ziel zu erreichen, das ich mir vorgenommen habe, die richtige Mittelwahl erforderlich ist, denn der Hammer ist gut, um Nägel in die Wand zu schlagen. Dabei ist noch nichts über die Sittlichkeit der Handlung gesagt, d.h. ob die Handlung überhaupt gut ist oder nicht. Denn die Handlung ist noch unzureichend beschrieben, es fehlt die eigentliche Absicht oder Triebfeder der Handlung. Es macht sittlich gesehen einen Unterschied aus, ob jemand den Nagel im eigenen Haus einschlägt, um ein schönes Bild von sich selbst aufzuhängen, damit er und seine Familie sich in diesem Haus wohl fühlen, oder ob er den Nagel zwar auch im eigenen Haus einschlägt, aber ohne die Zustimmung der im gemeinsamen Heim wohnenden Schwiegermutter, um sie dadurch maßlos zu ärgern. In beiden Fällen kann das Bild gut (perfekt) aufgehängt worden sein (poiesis). Im ersten Fall ist die Handlung gut, im zweiten aber schlecht (praxis).

Bei der poiesis wird das Vokabel „gut“ in einem sektoriellen Sinn verwendet, und besagt, dass im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel ein bestimmtes Mittel tauglich ist.10 Vom Koch, der seine Kochkunst voll beherrscht, würden wir sagen, dass er ein guter oder sogar ein ausgezeichneter Koch ist. Wir würden es in diesem sektoriellen Sinn auch sagen, wenn wir wüssten, dass er da und dort seine hervorragende Kunst einsetzt, um jemanden aus eigenem Antrieb oder in fremdem Auftrag zu vergiften. Dies würde sogar eine Bestätigung der Fertigkeiten des Kochs sein. Ähnlich werden wir auch dem Arzt eine medizinische Kompetenz zusprechen, wenn er sich in den biologischen Zusammenhängen des menschlichen Organismus gut auskennt und bei jedem Patienten das bewirken kann, was nach dem letzten Stand der medizinischen Wissenschaft möglich ist. Er kann also alles Heilbare heilen. Er könnte aber auch seine Heilkunst raffiniert zu Mordzwecken oder zu Folterzwecken verwenden. Deswegen wird man ihm die sektorielle Kompetenz in der Humanmedizin aber nicht absprechen. Natürlich reden wir auch vom guten Koch und vom guten Arzt in einem anderen Sinn, wenn man zu der rein fachlichen Kompetenz auch eine ethische Kompetenz, die von der Gesellschaft als Voraussetzung für jede Berufsausübung verlangt wird, in die Beurteilung einbezieht. Aber das ist dann bereits ein ethisches Urteil. Es ist ein Urteil auf der Ebene der praxis und sagt aus, ob das, was dieser Mensch tut, (überhaupt) das Gute ist, und ob dieses Gute auch (sektoriell) gut getan wird.

6. Ethische Kompetenz und ethische Qualitätssicherung

Dass bei der Qualitätssicherung im Gesundheitswesen die sittliche Qualität und Kompetenz nicht unerheblich, sondern ganz im Gegenteil wesentlich ist, wurde schon im 2. Abschnitt erwähnt. Dieses Faktum wird allerdings in der Literatur kaum erwähnt. Jetzt soll versucht werden, den Inhalt der ethischen Kompetenz darzustellen und den Zusammenhang zwischen Qualitätssicherung im Gesundheitswesen und ethischer Kompetenz näher zu erläutern.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen der poietischen (sektoriellen) und der praktischen (sittlichen) Betrachtung einer Handlung liegt darin, dass die Absicht und die Motivation des Handelnden in der ersten irrelevant sind, nicht jedoch in der zweiten. Ein Produkt ist gut oder schlecht unabhängig von dem Motiv und der Absicht, die der Produzent bei der Erzeugung gehabt hat. Ist das Produkt zwecktauglich, dann wird es selbst oder die Dienstleistung als gut bezeichnet und niemand wird danach fragen, was die Motivation des Herstellers war. Sektoriell wird man die Handlung also ausschließlich nach der Qualität des Produktes oder der Dienstleistung beurteilen. Eine medizinische Behandlung wird sektoriell als gut beurteilt werden, wenn sie ihr Ziel erreicht und lege artis (mit medizinischer Kompetenz) ausgeführt wird. Ob es dabei dem Arzt, der eine für seine Karriere ganz wichtige Studie ausarbeitet, eigentlich mehr um die Erhebung der Daten des Krankheitsverlaufs als um das Heil des Patienten ging, ist für die sektorielle Beurteilung zunächst irrelevant. Aber für die sittliche Beurteilung der Handlung sind Absicht und Motivation ausschlaggebend.

Bleiben wir bei diesem Beispiel. Sollte bei der Absichtsstruktur des Arztes der Forschungstrieb bzw. die Karriereplanung über die eigentliche Zielsetzung der medizinischen Heilbehandlung, (das Patientenwohl) die Überhand gewinnen, so dass der Arzt unverhältnismäßige Risiken in Kauf nimmt, dann ist seine Haltung vom sittlichen Standpunkt aus nicht korrekt, auch wenn bei der konkreten Behandlung zufällig kein Schaden am Patienten nachgewiesen werden kann und der erwartete Erfolg eintritt.

Absicht und Motivation sind bei der Beurteilung der sittlichen Qualität einer Handlung ganz wesentlich. Aber das ethische Urteil berücksichtigt nicht nur diese, sondern integriert in sich auch die sektoriellen Urteile. Die gute Absicht des Arztes allein macht die Handlung nicht schon sittlich gut. Die Handlung selbst, die Wahl der Mittel und die Ausführung müssen auch im Prinzip sektoriell gut ausgeführt, d.h. medizinisch „lege artis“ sein. Die ethische Betrachtungsweise ist nämlich nicht eine andere Sicht neben der medizinischen, psychologischen, juristischen, organisatorischen usw., mit ihnen in etwa gleichwertig. Das Ethische ist auch kein Spezialwissen wie das medizinische, chemische, soziologische, ökonomische usw., sondern ein universal umfassendes, praktisches Wissen, das alle anderen integriert.11 Ein sittlich gut handelnder Mensch darf keine sektoriellen Fehler zulassen, d.h. die Handlung muss auch in Teilbereichen gut sein, zumindest dürfen bei ihr keine gewollten (oder geduldeten) sektoriellen Fehler vorkommen. So ist die ethische Kompetenz des Arztes nicht eine neben der fachmedizinischen, ökonomischen, kommunikativen und organisatorischen usw., sondern eine alle anderen integrierende Kompetenz (vgl. Graphik).

Der fachmedizinisch kompetente Arzt ist noch kein guter Arzt, wenn er kommunikative Fehler begeht und/oder in seiner Arbeitsweise chaotisch und/oder ökonomisch verschwenderisch ist usw. Die sittliche Kompetenz des Arztes integriert alle diese Kompetenzen in der für jede Handlung angemessenen Weise. Und noch mehr: die sittliche Kompetenz des Arztes fordert alle anderen Kompetenzen, die in der Handlung involviert sind, optimal heraus. Ethische Qualitätssicherung hat alle anderen Dimensionen der Qualitätssicherung zur Voraussetzung. Das führt zu der These, dass das Streben nach ethischer Qualität auch alle sektoriellen Qualitäten im Hinblick auf das Ziel inkludiert. Mit ethischer Kompetenz lässt sich die Qualität in jeder Hinsicht am besten sichern, zumindest rein theoretisch. Später soll die Frage besprochen werden, wie realistisch auch diese These wirklich ist und inwieweit sie sich umsetzen lässt.

7. Qualitätssicherung und Tugenden

Zwei Irrtümer bezüglich der ethischen Kompetenz sind weitverbreitet. Der Erste setzt ethische Kompetenz mit dem Gewissen, das jeder hat und vor dem er sich verantworten kann, gleich. Manchmal wird behauptet, man müsse sich nicht um die Ethik gesondert kümmern, da das persönliche Gewissen die Sittlichkeit der Entscheidungen garantiert. Der Arzt, der nach seinem Gewissen entscheide, handle schon richtig, wozu dann die Ethik? Diese Behauptung enthält natürlich ein Körnchen Wahrheit, aber nur ein sehr kleines. Richtig ist, dass der Arzt wirklich seinem Gewissen folgen soll. Man darf aber weder annehmen, dass jede Entscheidung schon eine des Gewissens ist, noch dass jedes Gewissen schon die Stimme der Wahrheit ist. Würde man das annehmen, könnte kein Mensch fehlen. Ein zweiter Irrtum lässt die ethische Kompetenz aus ethischem Wissen bestehen. Eine der ersten unumstrittenen ethischen Grundwahrheiten ist gerade die, dass ethisches Wissens allein nicht ausreicht, um das Gute zu tun. Ethik ist eine praktische Wissenschaft. Sie will gelebt sein. Die ethische Kompetenz besteht deshalb nicht nur aus persönlichem ethischen Wissen (praktische Prinzipien, Handlungstheorie und Handlungstypologie), sondern vor allem im persönlichen Umsetzungsvermögen dieses Wissens, und das ist die Tugend.12

Nach der klassischen Tugendethik sind es die Tugenden, die das operative Vermögen des Menschen vervollkommnen. Sie sind Fertigkeiten und Geschicklichkeiten im Handeln und außerdem konstituieren sie eine zweite Natur, die den Menschen dazu geneigt machen, das Gute auch gut zu tun.13 Aber Tugenden sind nicht nur diese Neigung zur Qualität und die Befähigung dazu, sondern auch immer Qualitätsliebe im Sinne einer Prädisposition, das Gute mit Freude zu tun. Mit einem Wort: sie sichern die Handlungsqualität des Menschen. Obwohl es sehr unterschiedliche Tugenden gibt, bilden sie eine Einheit, sodass die Handlung nur dann sittlich gut (tugendhaft) ist, wenn sie gemäß aller in der Handlung geforderten Tugenden durchgeführt wird. Die gute medizinische Behandlung muss nicht nur fachgerecht, sondern auch respekt- und liebevoll, rechtzeitig und pünktlich, sauber, feinfühlig usw. verrichtet werden. Eine Liste aller im Gesundheitsbetrieb geforderten Fähigkeiten und Tugenden wäre vermutlich unendlich lang.14 So gesehen wäre es praktisch unmöglich auf alle Tugenden zu achten, auf die es bei der Qualität also ankommt. Eine Qualitätssicherung auf Grund der Tugenden wäre somit Utopie und die ethische Qualitätssicherung ein schöner, aber nicht praktikabler Gedanke. Es ist aber nicht so. Auf der einen Seite gibt es eine hierarchische Ordnung der Tugenden, die es erlaubt, sie zu gruppieren. Vier Haupttugenden – die Kardinaltugenden – richten praktisch alles operative Vermögen des Menschen auf das Gute hin und befähigen ihn dazu: nämlich Klugheit, Gerechtigkeit, Maß und Tapferkeit. Die anderen sind sozusagen Unterkapitel dieser vier Tugenden. Auf der anderen Seite steht die bereits erwähnte Einheit der Tugenden (connexio virtutum), die in einem von der Klugheit hergestellten Zusammenhang zwischen den verschiedenen Tugenden besteht. Es ist eine Art innere Koordination im tugendhaften Handeln, durch welche alle jene Tugenden, die in der konkreten Handlung gefordert werden, sozusagen auch zum Einsatz kommen, und zwar angeleitet von der Tugend der Klugheit, die immer vorhanden sein muss, damit eine Handlung überhaupt tugendhaft ist.15

8. Ethische Kompetenz ist Selbstnormierung und effiziente Selbstkontrolle

Will man die Qualität dadurch sichern, dass man die Qualitätsstandards festlegt und dazu die wichtigen Abläufe, Prozesse und Verhaltensweisen der Einzelnen im Krankenhaus normiert, dann wird die Gesamtqualität des Ergebnisses naturgemäß davon abhängen, ob diese Normierungen in der richtigen Weise eingehalten werden oder nicht. Man wird dabei sicher nicht ohne Kontrollinstrumente auskommen können. Tatsächlich bedient sich die herkömmliche Qualitätssicherung im industriellen Bereich ebenso wie im Dienstleistungssektor eines ziemlich aufwendigen und kostenintensiven Kontrollinstrumentariums. Wenn man das Konzept der Qualitätssicherung konsequent durchführt, müsste man auch die Kontrollinstanzen auf Qualität kontrollieren. Die Kontrolle der Kontrolle könnte so auf eine unendliche Kontrollsequenz hinauslaufen. De facto wird diese Sequenz aber auf höchstens zwei Kontrollstufen reduziert, weil man annimmt, dass die Qualitätsmängel, die zwei Prüfinstanzen durchlaufen, so gering sind, dass sie kaum spürbar werden. Aber wir könnten uns theoretisch auch eine Gesellschaft vorstellen, in der jeder faul ist. Dort würden zwei Kontrollinstanzen, die ausschließlich aus faulen Menschen bestehen nicht genügen. Eine unendliche Sequenz von Kontrollinstanzen würde auch nicht viel helfen. Und im Umkehrschluss würde man auch sagen können, dass in der Gesellschaft der Tüchtigen die Kontrolleure überflüssig werden. Damit ist aber auch ausgesagt, dass, je größer der Grad der Tugend des Personals, d.h. je stärker die sittliche Kompetenz ist, umso weniger sind Kontrollen notwendig.

Außerdem bedeutet ethische Kompetenz, dass fremdbestimmte Normen und aufwendige äußere Kontrollen zur Wahrung der Qualität weitgehend durch vernünftige selbstbestimmte Regeln und effiziente Selbstkontrollen (Selbstdisziplin) ersetzt werden. Denn die Tugend in der aristotelischen Tradition ist eine Selbstbestimmung und Selbstkontrolle der rechten Vernunft, jener Vernunft also, die nicht von Affekten und Emotionen behindert wird. Außerdem werden die Prinzipien, Gebote und Normen, die der Einzelne sich zu Eigen gemacht hat, viel besser und leichter umgesetzt, als jene, die stets als auferlegt und belastend betrachtet werden. Eine beträchtliche Erhöhung der Prozessdynamik und eine Stärkung der Flexibilität und Reaktionsfähigkeit geht mit der Auflockerung der Rigidität der Strukturen, die die Verlagerung des Schwerpunkts auf Selbstbestimmung und Selbstkontrolle bewirkt, einher. Denn Tugend ist nicht nur Neigung zur Qualität und Befähigung dazu, sondern, wie gesagt auch Qualitätsliebe in dem Sinn, dass das Gute mit Freude getan wird. Auch die heute gängigen Motivationstheorien beteuern, wie wichtig es für die Effizienz, für die Leistungsqualität und für die Lebensqualität am Arbeitsplatz ist, eine Fremdbestimmung soweit wie möglich durch Selbstbestimmung zu ersetzen. Und gerade das ist es, was die Tugenden leisten.

9. Ethische Kompetenz: ein immaterielles Kapital

Abschließend kann man auf die oben erwähnte Frage zurückkommen, ob ein tugendorientiertes Qualitätssicherungskonzept nicht zu sehr theoretisch bleibt. Tugenden können von den Menschen nicht auf die gleiche Weise vorgeschrieben werden wie fachliche Fähigkeiten. Solche kann man durch Einschulung erlernen. Tugenden dagegen können sich nur durch Erziehung und Charakterbildung in radikalster Ausübung der persönlichen Freiheit entfalten. Ihr Standort liegt in der Nähe des persönlichen Gewissens, das nicht jedem Zugriff von außen offen steht. Dies bedeutet tatsächlich eine Einschränkung der Umsetzbarkeit eines tugendor-ientierten Qualitätssicherungskonzeptes. Die ethische Dimension ist jedoch, wie hier aufgezeigt wurde, so wesentlich, dass man Wege für die optimale Umsetzung des Konzeptes suchen muss. In allerjüngsten Entwicklungen der Managementwissenschaft, ganz besonders, was die Personalführung angeht, dominieren immer mehr Begriffe wie „Integrity“16, „Excellency“17 (wortwörtliche Übersetzung von „areté“, dem griechischen Terminus für Tugend), „Mission“18, die durchaus im ethischen Sinn verwendet werden und dem Tugendbegriff sehr nahe kommen. Die Bedeutung der ethischen Kompetenz ist in den USA nicht nur auf akademischer Ebene anerkannt19, sondern ganz besonders in der Praxis: Ethik-Codex, Ethik-Verträge und Ethik-Abteilungen werden immer üblicher, vor allem in Großfirmen.20 Dieser starke Trend dürfte auch in Europa im Kommen sein, derzeit ist er aber noch nicht sehr ausgeprägt.

Es gibt viele Wege, um die ethische Kompetenz im Krankenhaus zu fördern und zu verbessern, und viele davon sind bereits eingeführt. Die ethische Aus- und Fortbildung müsste mindestens gleich wie die fachliche eingestuft werden. Institutionalisierte Besprechungen und Diskussionen von auftretenden ethischen Problemen durch das Behandlungsteam, die ethische Beratung, die Ausarbeitung eines tugendorientierten Konfliktmanagementkonzeptes und ethischer Leitlinien sind wichtige Maßnahmen, die zur Stärkung der sittlichen Kompetenz beitragen werden. Leit- und Vorbilder sind wirksamer als Kontrollen. Alles dies wird in den Bereichen des Gesundheitswesen schon erkannt, es muss aber noch viel stärker umgesetzt werden. Dabei muss bedacht werden, dass es nicht genügt, über Ethik viel zu reden oder an Seminaren und Kursen teilzunehmen, wenn neben dem ethischen Wissen nicht auch bestimmte Tugenden angeeignet werden.

Zusammenfassend: Ethische Kompetenz ist ein Humankapital, das für die Qualitätssicherung unverzichtbar ist! Allerdings sind Kontrollen und andere Instrumente der sektoriellen Qualitätsförderung ebenso unverzichtbar. Auch sie werden von der ethischen Kompetenz gefordert. Aber ohne diese Kompetenz, die sowohl aus ethischem Wissen wie aus Tugenden besteht, kann die Qualität nicht wirklich gesichert werden. Die Verbesserung der Qualität setzt immer eine Steigerung der ethischen Kompetenz voraus. Daher muss auch ins „ethische Kapital“ investiert werden. Und diese Investitionen werden dadurch rentabel, dass die Leistungseffizienz und Zufriedenheit des Personals gesteigert und die sektorielle Qualitätssicherung einfacher wird.

Referenzen

  1. WHO-Regionalbüro für Europa: The principles of quality assurance. Report on a WHO meeting, M‚Barcelona, 17.-19.5.1983. EURO Reports and Studies Nr 94, Kopenhagen (1985) und Training in quality assurance. Report on a WHO working Group, ICP/HSR 003/m03, WHO Regionalbüro Europa, Kopenhagen (1995); danach hat die Organisation zahlreiche andere Berichte und Programme herausgebracht.
  2. Eine ausführliche Bestandaufnahme der bisherigen Erfahrungen von Qualitätssicherung nach Fachbereichen und Ländern ist nachzulesen in Görres S. Qualitätssicherung in Pflege und Medizin, Verlag Hans Huber, Bern (1999), S. 77-176
  3. vgl. z.B. Görres S. Qualitätssicherung in Pflege und Medizin, Verlag Hans Huber, Bern (1999)
  4. Donabedian, A Evaluating the quality of medical care. Milbank Memorial Fund Quaterly, 2 (1966) S. 166-206
  5. Görres S. Qualitätssicherung in Pflege und Medizin, Verlag Hans Huber, Bern (1999), S. 221
  6. Berger P.L., Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Fischer-Verlag, Frankfurt a.Main, (1980)
  7. Osterloh, M. Unternehmensethik und Unternehmenskultur. In Steinman H. und Löhr A. (Hrsg.) Unternehmensethik, Pöschel-Verlag, Stuttgart (1991), S. 162
  8. Görres S. Qualitätssicherung in Pflege und Medizin, Verlag Hans Huber, Bern (1999), S. 526
  9. Hier bleibt der Begriff vom menschlichen Charakter ziemlich undefiniert, für das Ziel dieser Arbeit genügt aber der gewöhnliche Gebrauch dieses Begriffes.
  10. Zum Unterschied zwischen der sektoriellen und sittlichen Bedeutung des Wortes „gut“ vgl. Rhonheimer M. Ethik – Handeln – Sittlichkeit, in Bonelli J. (Hrsg.) Der Mensch als Mitte und Maßstab der Medizin, Springer, Wien (1992), S. 137-174.
  11. Pöltner G. Die Ethik im Rahmen der Ethikkommission, Imago Hominis, II/1 (1995), S. 37
  12. Gonzalez A.M.: Prinzipien und Tugenden der Bioethik, Imago Hominis VII/1 (2000), S. 17-33; Schweidler W.: Zur Aktualität des Begriffs der Tugend, Imago Hominis VII/1 (2000), S. 35-48; Prat E.H.: Bioethik: Konsens und Tugendethik?, Imago Hominis VII/2 (2000), S. 125-138; Rhonheimer M.: Die sittlichen Tugenden. Anthropologische und praktisch-kognitive Dimension, Imago Hominis VII/2 (2000), S.103-113 und La prospettiva della Morale. Fondamenti dell’etica filosofica, Armando Editore, Roma (1994)
  13. Zur Definition und Natur der Tugenden sind in den letzten zwei Heften mehrere Aufsätze veröffentlicht worden, es wird hier auf sie verwiesen.
  14. Vgl. dazu Bonelli J., Mader H., Qualitätssicherung im Krankenhaus und Tugenden. Ein Fragenkatalog, Imago Hominis VII/3 (2000), S. 189-197
  15. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I-II, q. 65, a. 1; q. 58, a. 4 und II-II, q. 47 a. 6 und 7
  16. Pain L.S., Managing for Organizational Integrity, in: HarvardBusinnes Review, March-April (1994), S. 106-117
  17. Peters T.J., Waterman R.H., In Search of Excellence, New York (1984) und Covey, Seven habits of highly effective people
  18. Kotter P. What Leaders Really Do, in Harvard Businnes Review March-April (1990), S. 103-111 und Bartlett C.A., Goshal S. Die wahre Aufgabe des Topmanagers heute, in Harvard Businnes Magazin 1/1995, S. 56-65.
  19. Siehe dazu eine Übersicht in Weber B. Wille und Unternehmensführung. Ein aristotelisch-teleologischer Beitrag zur anthropologischen Fundierung der Managementtheorie, (1996), Dissertation an der Wirtschaftsuniversität in Wien.
  20. Vgl. Schulz K.R. Führen durch Vorbild und Werte. Die Unternehmensethik, vorgelebt in den Vereinigten Staaten, FAZ, Montag, 17.April 2000, Nr. 91, S. 31.

Anschrift des Autors:

Prof. Dr. Enrique H. Prat, Geschäftsführer des IMABE-Instituts
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Anthropologie und Bioethik
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