Placebogabe und ärztliches Ethos

Imago Hominis (2006); 13(3): 229-235
Notburga Auner

Zusammenfassung

Aus dem zunehmenden Wissen um die Wirksamkeit von Placeboeffekten stellt sich die Frage, ob unter bestimmten Voraussetzungen auch Placebo direkt zum Einsatz gebracht werden kann, ohne das Vertrauen des Patienten zu hintergehen. Placebo wirkt, auch wenn die kausalmechanische Ursache noch ungeklärt ist. Seine Wirksamkeit dürfte mit der Überzeugtheit des Arztes von der Therapie und mit dem Patientenvertrauen in den Arzt und seine Fähigkeiten in Zusammenhang stehen. Dem immerwährend gültigen Grundsatz ärztlichen Ethos „primum utilis esse“ folgend, spricht unter bestimmten Voraussetzungen, die im folgenden Beitrag erarbeitet werden, nichts gegen eine direkte Verschreibung von Placebo.

Schlüsselwörter: Placebo, Arzt-Patient-Beziehung, EBM, ärztliches Ethos

Abstract

Due to the increasing knowledge of the efficiency of placebo effects the question arises if under certain conditions placebo itself can be prescribed without abusing the patient‘s confidence in the doctor. Placebo is efficient even if the scientific basis has not yet been established. Its efficiency might depend on the physician‘s conviction of the applied therapy and on the patient‘s trust in the physician and his abilities. Following the fundamental principle of medical ethics “Primum utilis esse” there is no objection to the direct prescription of placebo.

Keywords: Placebo, doctor-patient relation, EBM, ethos of medicine


Placeboeffekte spielen in der Medizin zunehmend eine bedeutende Rolle. Aus dem Wissen um ihre Wirksamkeit stellt sich die Frage, ob unter bestimmten Voraussetzungen auch Placebo direkt zum Einsatz gebracht werden kann, und ob es möglich ist, dass der Arzt Placebo anwendet, ohne den Patienten direkt zu täuschen und sein Vertrauen zu hintergehen. Ist also Placebo mit dem ärztlichen Ethos vereinbar?

1 Begriffsdefinition: Placebo

Der aufmerksame Arzt beobachtet in seinem therapeutischen Handeln zuweilen das Auftreten von Effekten, deren Ursachen nicht unmittelbar erklärlich sind. Diese Wirkungen sind nicht selten von positiver Art und können für den Patienten von Vorteil sein. So (a) wenn ein Patient behauptet, bestimmte Tabletten würden seine Beschwerden sofort lindern, obwohl dieser Effekt weder unter den Indikationen angeführt, noch durch klinische Untersuchungen bestätigt ist, oder (b) wenn der Arzt zum Verschreiben eines Präparates geradezu genötigt wird, obwohl wissenschaftliche Untersuchungen dessen Wirksamkeit stark in Zweifel ziehen, oder (c) wenn der Arzt aus Ratlosigkeit zu einem Medikament greift, um irgendetwas zu probieren, und überraschend ein durchschlagender Erfolg für die Befindlichkeit des Patienten erzielt werden kann. Dieses bekannte Phänomen wird, wie es das Medizinlexikon Pschyrembel1 darlegt, dem Placebo im weiteren Sinn2 zugeordnet. Es handelt sich dabei um eine Maßnahme ohne naturwissenschaftlichen Wirknachweis, die ein besseres Befinden des Patienten zur Folge hat. Placebo kommt zum Einsatz, um dem subjektiven Patientenwunsch nach einer medizinischen Handlung nachzukommen. Placebo hat aber auch eine andere Bedeutung: Placebo im engeren Sinn ist ein unwirksames so genanntes Scheinmedikament, eine pharmakologisch indifferente, in Medikamentenform verabreichte Substanz. Gerade die (postulierte) pharmakologische Nicht-Wirksamkeit von Placebo stellt den wichtigen Referenzpunkt dar. Unter diesem Aspekt hat Placebo bei der Erprobung neuer Medikamente eine wichtige Funktion für Doppelblindstudien. Aus dem Gesagten wird klar, dass Placebo nicht einfach zu definieren ist, weil eine komplexe, schwer fassbare medizinische Wirklichkeit dahinter steht. Während Wissenschaftler zur Erprobung therapeutischer Verfahren das neutrale Scheinpräparat ohne Wirkstoff zum Vergleich heranziehen, erkennen einige Therapeuten im Placebo eine effiziente Behandlungsmöglichkeit. Sogar die Diskussion um die Rechtfertigung von Placebo-Operationen hat in Chirurgenkreisen des deutschsprachigen Raumes Eingang gefunden. Es hatte sich bei randomisierten, placebokontrollierten Studien gezeigt, dass etwa bei Gelenksspiegelungen oder bei Operationen zur Adhäsiolyse wegen chronischer Bauchschmerzen, auch jene Eingriffe dieselbe klinische Wirksamkeit zeigten, bei denen nach Eröffnung des Operationsareales keine spezifische chirurgische Intervention erfolgte.3 Denn Placebo ist, wie die Definition auch sagt, keineswegs unwirksam, es wirkt einfach auf eine andere Art und Weise.4 Die komplexe Natur des Menschen lässt sich nicht in enge physikalisch-naturwissenschaftliche Konzepte zwängen.

Während Placebo günstig wirkt – und zwar ohne wissenschaftliches Erklärungsmodell – so kann es aber auch ohne fassbare Erklärung zum Auftreten negativer Wirkungen kommen. Neben subjektiven Beschwerden (Mundtrockenheit, Übelkeit, Benommenheit, Schweißausbrüche, Schlaflosigkeit, Schwindel usw.) können auch messbare negative Wirkungen (Blutbildveränderungen, Urticaria, Kreislaufkollaps usw.) auftreten. Eine beeindruckende Schilderung dieses sogenannten Nocebo-Effektes stammt aus der Feder des bekannten Kardiologen B. Lown5. In den Anfangszeiten seiner beruflichen Tätigkeit beobachtete er das völlig unerwartete plötzliche Versterben einer Patientin, die aufgrund eines einfachen sprachlichen Missverständnisses eine akute Verschlechterung ihres Herzleidens erlitt, welches von diesem Zeitpunkt an nicht mehr in den Griff zu bekommen war. Obwohl die schädliche Variante des Placebo, das Nocebo, im Regelfall keine lebensbedrohlichen Situationen auslöst, zeigt das geschilderte Beispiel, wie gravierend Noceboeffekte im Ernstfall aber doch sein können.

Wie Placebo/Nocebo wirkt, entzieht sich der genauen Kenntnis. Es gibt verschiedene, zum Teil nur vage Erklärungsmodelle. Speziell die Placebo-Analgesie dürfte über die Freisetzung Schmerz hemmender Neurotransmitter erklärbar sein6. Dass die Suggestion als übertragener Affekt auf die Placebowirkung einen Einfluss ausübt, ist nahe liegend. Placebo wirkt aber nicht immer und bei jedem. Es könnte auch sein, dass die Reagibilität auf eine Placebogabe im Menschen eine Potenz ist, die unter bestimmten Bedingungen entsteht.

2 Arzt-Patient-Beziehung und Placebo

Die Arzt-Patient-Beziehung ist durch eine asymmetrische Struktur gekennzeichnet. Bei der unterschiedlichen Wissensverteilung ist der Arzt Fachmann der Theorie und der Patient Experte für seine konkreten Beschwerden und Einschränkungen. Der Wissensvorsprung des Arztes bedingt eine Art Definitionsmacht: Diagnosestellung, Verordnungen, Krankschreibung usw. führen den Patienten in ein Abhängigkeitsverhältnis, das weit in seine Intimsphäre reicht, da ja der Gegenstand der Beziehung seine Gesundheit oder sein Mangel an Gesundheit und Wohlbefinden ist. Die erwähnte Asymmetrie ist konstitutiv. Durch den bereits vollzogenen Wandel vom ärztlichen Paternalismus zur Patienten-Autonomie gewinnt das Vertrauen als Wesenselement in der funktionierenden Arzt-Patienten-Beziehung eine neue Bedeutung. Der Patient vertraut dem Arzt, dass dieser sein überlegenes Wissen „gewissenhaft“ einsetzt, ohne es zu missbrauchen, was beispielsweise der Falls wäre, wenn er dem Patienten eine teure Therapie empfehlen würde, die aber gar nicht nötig wäre. Der erste, immerwährend gültige Grundsatz ärztlichen Ethos lautet „primum utilis esse“. Der Arzt wird also bedacht darauf sein, mit seinem Wissen dem Patienten dienlich zu sein. Dazu gehört auch die Pflicht zur Weiterbildung in Theorie und Praxis, die ebenfalls weit in die hippokratische Tradition zurück reicht. Es gibt eine Form des „Nicht-Wissens“, die nicht auf mangelnde Fortbildung zurückgeführt werden kann. Jede Handlung ist von einer gewissen Unsicherheit und einem Risiko begleitet. Wird dieser konkrete Patient von der Therapie profitieren oder nicht, weil gerade er in die Gruppe der Non-Responder fällt? Oder liegen unbekannte Umstände vor, die die gesetzten Maßnahmen unwirksam machen? Es könnte ja sogar vorkommen, dass die Behandlung wegen des Nicht-in-Betracht-Ziehens weiterer Umstände zum Schaden gereicht. Im ärztlichen Alltag mag dieser Aspekt bei der Entscheidungsfindung oftmals nicht ins Gewicht fallen. Angesichts maligner oder seltener Diagnosen steigt die Sorgfaltspflicht an, und es kann aus den oben genannten Gründen sehr schwierig sein, die rechten Maßnahmen zu finden. In diesen Graubereich des Unbekannten, des notwendigen „Nicht-Wissens“, fällt auch der Placeboeffekt. Der Arzt müsste in seine Überlegungen zur Therapieplanung das Placebophänomen miteinbeziehen und damit die Möglichkeit, einen nicht berechenbaren positiven Effekt zu erzielen. Die Schwierigkeit liegt in der Unvorhersehbarkeit. Andererseits gibt es auch bei pharmakologisch geprüften Therapien keine hundertprozentige Wirksamkeit, was in der Routinepraxis kaum beachtet wird.

In den Erklärungsansätzen des Placeboeffekts wird häufig die Wirksamkeit gerade mit der Qualität der Arzt-Patienten-Beziehung in Zusammenhang gebracht. Dabei spielen die Persönlichkeit des Arztes und des Patienten sowie die therapeutische Situation eine Rolle. Die Wirksamkeit von Placebo dürfte mit der Überzeugtheit des Arztes von der Therapie und mit dem Vertrauen des Patienten in den Arzt und seine Fähigkeiten in Zusammenhang stehen. Zusätzlich ist die Art und Weise, wie die Konsultation und die Verschreibung der Medikamente von Patientenseite her erlebt werden, von Bedeutung. So kam die Sprache von der „Droge Arzt“ auf. Diese „Droge“ ist bei einem freundlichen und kompetenten Arzt wirksamer, als bei einem abweisenden, unsicher wirkenden, unfreundlichen oder launenhaften Kollegen. Diese Zusammenhänge sind mehrfach experimentell belegt.7 Andererseits gilt auch der Umkehrschluss: Die Möglichkeit des Noceboeffektes, ausgelöst durch eine missglückte Arzt-Patienten-Beziehung darf nicht vernachlässigt werden. Die kommunikativen Fähigkeiten des Arztes sind in der Regel besonders gefordert. Die Aussprache einer Diagnose kann, wenn danach der Patient allein gelassen wird, einen beträchtlichen negativen Effekt auslösen, der nur schwer wieder gut zu machen ist. Es gibt Diagnosen, die „abstempeln“ oder quasi schon als Todesurteil aufgefasst werden. Auch die erwähnte Episode aus der Erfahrung von B. Lown mag als Beispiel in Erinnerung gerufen werden. Eine Diagnose kann andrerseits auch als Krankheitsbestätigung dienen und bei bestimmten Persönlichkeitskonstellationen die Chronifizierung des Leidens zur Folge haben. Sogar der unüberlegte, zuweilen unnötige Einsatz diagnostischer Verfahren kann sich negativ auswirken, wenn der unvorbereitete Patient dadurch ein sehr unangenehmes Erlebnis hat. Die Anordnung einer Untersuchung kann aber auch bei hypochondrisch verfassten Patienten den „Verdacht“ der schweren Krankheit erhärten und chronische Zustände provozieren bzw. krankheitsfixierend wirken. Das gegenseitige Vertrauen spielt gerade in diesen Zusammenhängen eine entscheidende Rolle. Wie stark die „Droge Arzt“ beeinflussen kann, wird durch Studien immer wieder deutlich. So stellte sich beispielsweise bei einer Studie zur Behandlung von Patienten mit Magenulcus bei Placebogabe in 25% eine Erleichterung im Sinne der Schmerzlinderung nach Verabreichung durch Krankenschwestern ein, gegenüber einer Besserung in 70% bei Verabreichung durch den Arzt.8 Eine andere randomisierte Untersuchung von Anästhesisten bringt den Vergleich zweier Patientengruppen, die a) routinemäßig knapp oder b) ausführlich durch einen Narkosearzt über die Operation, den Schmerzcharakter und die Notwendigkeit relaxierender Verfahren aufgeklärt wurden.9 Die ausführenden Chirurgen waren über das jeweilige Ausmaß der Aufklärungsgespräche nicht informiert. Die detailliert aufgeklärten Patienten brauchten in der Folge durchschnittlich nur die Hälfte der Analgetika, und konnten auch im Schnitt zwei Tage früher aus dem stationären Aufenthalt entlassen werden.

3 Ethische Überlegungen zu Placebo

Obwohl die kausalmechanischen Ursachen nicht geklärt sind, wirkt sich Placebo für den Patienten positiv aus, Nocebo negativ sogar bis zu letalen Folgen. Daher sind Placebo- und Noceboeffekte von großer medizinischer Bedeutung und sollten in therapeutischen Planungen Beachtung finden. Bekanntlich wirken selbst klinisch geprüfte Substanzen bei überzeugter Gabe durch den Arzt besser, als bei kommentarloser oder von wenig optimistischen Äußerungen begleiteter Verschreibung. Zahlreiche Ergebnisse von Doppelblindstudien bestätigen diese Beobachtung. Allein schon die Worte und Gesten des Arztes können einen um Kompensation ringenden Patienten aufrichten oder eine Verschlechterung bewirken, wenn der Patient mit Skepsis oder Pessimismus konfrontiert wird. Man könnte sagen, dass bei jeder ärztlichen Handlung, auch dann, wenn klinisch erprobte Medikamente zum Einsatz kommen, der Placeboeffekt, der die therapeutische Wirkung des Medikamentes verstärken oder vielleicht ganz ersetzen kann, nicht auszuschließen ist. Die Wirklichkeit des Placeboeffekts wirft die konkrete ethische Frage auf, ob das Ethos der ärztlichen Kunst nicht eigentlich kategorisch die Verpflichtung einschließen sollte, den Placeboeffekt voll in das therapeutische Procedere einzubeziehen, zumal wenn dieser für den Patienten tatsächlich von Nutzen ist.

3.1 Erkenntnistheoretische Überlegungen zu Placebo

Nach Auffassung der evidence based medicine (EBM) sollten nur Therapien akzeptiert werden, deren Wirksamkeit durch Studien statistisch eindeutig belegt wurde. Dieses Konzept, das prinzipiell zu bejahen ist, wäre soweit zu relativieren, dass nicht alles, was nicht evidence-based ist, bereits angezweifelt werden muss. Für gewöhnlich ist allein das Wort Placebo vorurteilsvoll negativ belegt. Mancher moderne Arzt sollte sich von der allzu starken szientistischen Orientierung seines Handelns befreien, indem er durch eine erkenntnistheoretische Hinterfragung seines medizinischen Wissens zur demütigen Haltung geführt wird, dass das, was er zu wissen meint, auch nur partiell und brüchig ist. Wie oft schon sind in der Geschichte der Medizin therapeutische Dogmen in sich zusammengebrochen! EBM ist wichtig, aber sie ist nicht alles und vor allem nicht einziges oberstes Gebot. Viele Schulmediziner sind von einer möglichen Wirksamkeit des Placebos nicht überzeugt und sehen darin ein reines „Hokuspokus“. Man müsste sich fragen, ob diese Einstellung auf Vorurteilen bzw. auf Ignoranz beruht, die durchaus entschuldigt werden kann, weil in der Ausbildung dem Placebophänomen keine Beachtung geschenkt wird. Erkenntnistheoretisch jedenfalls darf man nicht ausschließen, dass ohne ausreichende Kenntnis der Ursachen eine Wirkung erzielt wird, und man wäre daher wohl beraten, anerkannte Placebos zu verschreiben, wenn, wie es nicht selten der Fall ist, klinisch erprobte Standardtherapien nicht gewirkt haben. Das Problem liegt darin, dass Placebo vor allem wirkt, wenn es Hoffnungsträger ist, d. h. wenn es dem Arzt gelingt, dem Patienten zu vermitteln, es handle sich in diesem Fall um das Mittel erster Wahl.

3.2 Tugenden im ärztlichen Handeln

In der Arzt-Patient-Beziehung ist das Objekt der Handlung die Person des Kranken, deren Würde stets zu achten ist. Daher spielt für das ärztliche Berufsethos neben dem Wissen und Können auch die Mitmenschlichkeit eine ganz besondere Rolle.10 Diese Dimension des ärztlichen Ethos verlangt eine stetige Kultivierung des Gewissens, die mit der Pflege der Kardinaltugenden eng zusammenhängt, denn die Voraussetzung dafür, dass das Gute und Richtige erkannt und erfasst wird, sind die Tugenden. Eigentlich kann die Kultivierung des Gewissens auf den Erwerb und die Pflege der Kardinaltugenden (Klugheit, Gerechtigkeit, Stärke, Maßhalten)11 reduziert werden. Daraus folgt, dass der gute und tugendhafte Arzt zuerst ein guter und tugendhafter Mensch sein muss. Die Tugenden sichern die Handlungsqualität des Menschen und im konkreten Fall des Arztes. Die gute medizinische Behandlung muss nicht nur fachgerecht, sondern auch mit Respekt und liebevoll, rechtzeitig und pünktlich, sauber und feinfühlig usw. verrichtet werden. Allein die Beachtung dieser Grundsätze dürfte eine positive Auswirkung auf den Placeboeffekt haben. Krankheit macht empfindlich und empfindsam. Die Umgangsformen, durch die eine Reihe menschlicher Tugenden der personalen Interaktion zum Einsatz kommen, lösen Vorgänge im menschlichen Organismus aus, die so weit gehen können, dass dem Körper innewohnende Selbstheilungskräfte aktiviert werden.12 Man kann davon ausgehen, dass die positive Wirkung der „Droge Arzt“ vornehmlich durch die Übung der Tugenden in der rechten Weise zum Einsatz gebracht wird.

3.3 Der Faktor „Vertrauen“ und die Täuschung des Patienten

Das beiderseitige Vertrauen stellt, wie bereits dargelegt, in der Arzt-Patient-Beziehung eine wichtige Grundhaltung dar. Der Arzt konzipiert für den individuellen Patienten die entsprechende Therapie nach bestem Wissen und Gewissen und spricht seine Empfehlung aus. Konsequenterweise wird der Arzt die medizinischen Maßnahmen, von denen er überzeugt ist, mit Optimismus einsetzen und dem Patienten Hoffnung und Zuversicht vermitteln. Das kann auch für Maßnahmen gelten, die in der Schulmedizin als „Pseudoplacebos“ (Vitaminpräparate, allgemeine roborierende Maßnahmen, Verumverabreichung in niedriger Dosierung etc.) gehandelt werden und deren Wirksamkeit in Frage gestellt und von der EBM nicht akzeptiert wird. Vorausgesetzt bleibt, dass bei dieser Vorgangsweise keine gesundheitsschädliche Wirkung die Folge sein darf. Gelegentlich muss ja der Arzt den Balanceakt vollbringen, dem Patienten die Hoffnung auf Besserung seiner subjektiven Beschwerden zu geben, während er nur Mittel anbieten kann, von deren Wirksamkeit er wenig überzeugt ist. Von schulmedizinischer Seite wird oft die Ansicht geäußert, reines Placebo zu verschreiben wäre eine Täuschung des Patienten und würde einen Vertrauensbruch bewirken. Das wäre tatsächlich dann der Fall, wenn die Verschreibung von klinisch erprobten (gegenüber Placebo wirksameren) Therapien unterbleiben würde und man erstrangig reine Placebos verordnen würde. Die Ansicht, dass eine Placeboverschreibung auch unter der Voraussetzung, dass EBM-geprüfte Therapien keinen Erfolg gebracht haben, eine Irreführung des Patienten sei und der Verrat des ärztlichen Ethos die Folge wäre, entspringt einer szientistischen Sichtweise. Demnach wäre Placebo und Wirkungslosigkeit gleichgesetzt. Man zieht es daher vor, klinische Therapien unendlich zu wiederholen in der Hoffnung, irgendwann die erwünschte Wirkung zu erreichen, anstatt Placebo auszuprobieren. Placebo wird als Niederlage der Naturwissenschaft gewertet, weil seine Wirkweise nicht erklärt werden kann. Wenn aber erprobte Mittel beim konkreten Patienten versagen, ist es sogar eine Frage des medizinischen „Hausverstandes“, Placebos zu verabreichen. Das geht zweifels-ohne mit dem ärztlichen Ethos konform. Das Problem liegt darin, dass Placebo vornehmlich dann wirkt, wenn der Patient der Überzeugung ist, ein für ihn sicher wirksames Medikament, ein Verum zu erhalten. Sehr wichtig ist aber in der Medizin die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Einschätzung. Das „Verum“ der Pharmakologie (objektive Einschätzung) und das „Verum“ für den Patienten (subjektive Einschätzung) folgen ganz anderen Diskursen, deren Ergebnisse, wie leicht ersichtlich, stark auseinander fallen können13. Placebo könnte auch als jenes Phänomen definiert werden, wonach ein unter pharmakologischen Gesichtspunkten „Nicht-Verum“ für den Patienten zum „Verum“ wird. Dieses Phänomen ist sicherlich kein physikalisches, kein naturwissenschaftlich fassbares, sondern eher ein psychologisch beschreibbares, aber doch zur ärztlichen Kunst gehörendes. Vor allem der Arzt kann dieses Phänomen durch seine kommunikativen Fähigkeiten und seine Überzeugungsgabe maßgeblich steuern. Es ist sicherlich keine Scharlatanerie, wenn er diese angesichts der Tatsache, dass Placebo wirkt, einsetzt. Dann ist die Verabreichung keine gezielte Irreführung des Patienten, und bedeutet im eigentlichen Sinn keinen Vertrauensbruch. Ganz im Gegenteil, die erste Verpflichtung des Arztes besteht im „nihil nocere“, und dieser wäre sicherlich genüge getan. Natürlich verlangt der Einstieg des Arztes in eine Placebo-Therapie kommunikative Fähigkeiten, die heute dem Schulmediziner immer fremder geworden sind.

3.4 Placebo in der Wissenschaft

Es ist richtig, Placebo zur Prüfung von Verum-Präparaten diesen gegenüberzustellen. Medikamente, die sich da bewähren und signifikant höhere Wirkungen erreichen, sind unzweifelhaft therapeutische Mittel erster Wahl. Fraglich ist jedoch, ob es richtig ist, Placebo mit dem therapeutischen „Nullpunkt“ gleichzusetzen. Die wachsende Überzeugung über die beachtliche Wirksamkeit von Placebo stammt großteils aus kontrollierten Doppelblind-Studien, deren überraschende Ergebnisse im Placeboarm zum Nachdenken anregen. Der Schluss liegt nahe, dass Placebo zwar ein wichtiger Referenzpunkt ist, auf der Skala der Wirksamkeit aber nicht den Nullpunkt markiert.

3.5 Fazit

Aus ethischer Sicht kann man also sagen: Sind folgende Voraussetzungen erfüllt, kann die bewusste Verschreibung von reinem Placebo unter bestimmten Bedingungen sogar indiziert sein: 1) die Diagnose muss nach den Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen; 2) es darf keine bessere und wirksamere Pharmakotherapie vorhanden sein; 3) der Patient erwartet aus den gegebenen Umständen heraus eine Arzneimittelbehandlung, und eine „Behandlungsabstinenz“ würde zum großen Schaden gereichen; 4) bei relativ geringen Beschwerden und dem dringenden Wunsch nach einer Behandlung, wenn die mögliche Pharmakotherapie mit dem Risiko schwerwiegender unerwünschter Folgen verbunden wäre.

Referenzen

  1. Pschyrembel W., Klinisches Wörterbuch (259. Auflage), de Gruyter Verlag, Berlin (2002)
  2. placebo, lat.: ich gefalle, eine dem Patienten zuträgliche, seine Befindlichkeit verbessernde medizinische Maßnahme
  3. Vgl. Schoeneich F., Plazebo- und Nozeboeffekte, in: Schmerling-Kludas C. et al., Psychosomatisches Kompendium der Inneren Medizin, Hans Marseille Verlag GmbH, München (2005)
  4. Vgl. Lechner K., Müller M., Placebo und Placeboeffekt, Imago Hominis (2006); 13: 189-199
  5. Vgl. Lown B., Die verlorene Kunst des Heilens, Schattauer Verlag, Stuttgart (2002)
  6. vgl. Ref. 3
  7. Schoeneich F., Plazebo- und Nozeboeffekte, in: Schmerling-Kludas C. et al., Psychosomatisches Kompendium der Inneren Medizin, Hans Marseille Verlag GmbH, München (2005)
  8. Vgl. Gauler T. C., Weihrauch T. R., Placebo. Ein unwirksames und ungefährliches Medikament?, Urban & Schwarzenberg, München (1997)
  9. ebd.
  10. Vgl. Prat E. H., Kardinaltugenden und Kultivierung des Gewissens, Imago Hominis (2002); 9: 265-272
  11. Aristoteles beschreibt die Tugend als jene feste Grundhaltung „durch welche ein Mensch gut wird und vermöge derer er seine ihm eigentümliche Leistung gut vollbringt.
  12. Vgl. Brody H., Brody D., Der Placebo-Effekt. Die Selbstheilungskräfte unseres Körpers, Deutscher Taschenbuch Verlag, München (2002)
  13. Vgl. Koslowski P., Ärztliches Engagement und rationale Entscheidungsregeln. Zum Primum utilis esse, in: Koslowski L. (Hrsg.), Maximen in der Medizin, Schattauer Verlag, Stuttgart (1992), S. 74-80
    Prat E. H., Die Verhältnismäßigkeit als Kriterium für die Entscheidung über einen Behandlungsabbruch, Imago Hominis (1999); 6: 11-31

Anschrift der Autorin:

Dr. Notburga Auner, IMABE-Institut
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