Erneute Diskussion um die organisierte „Sterbehilfe“ in der Schweiz

Imago Hominis (2009); 16(3): 189-191
Gabriele Eisenring

In der Schweiz hat die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft erstmals mit der Sterbehilfeorganisation „Exit“ eine Vereinbarung über die organisierte Suizidhilfe getroffen, was die „Sterbehilfe-Diskussion“ erneut in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit gerückt und zu sehr verschiedenen Reaktionen geführt hat. Ziel der Vereinbarung ist, „die Absicht des Regierungsrates des Kantons Zürich umzusetzen, auf kantonaler Ebene die Schaffung von ‚Standesregeln‘ für Suizidshilfeorganisationen anzustreben, die mit den Organisationen einvernehmlich abgesprochen sind und von diesen freiwillig übernommen werden, um missbräuchliche Praktiken möglichst zu verhindern“.1 Diese Vereinbarung wurde in Kenntnis und mit Zustimmung der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich und mit der Stellungnahme der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich, dass aus gesundheitspolizeilicher Sicht dem Abschluss nichts im Wege stehe, am 30. Juni 2009 unterschrieben.

Es wird grundsätzlich festgelegt, dass die obengenannte Vereinbarung auf der in der Schweiz vorherrschenden liberalen Grundhaltung zur Suizidhilfe basiere. Die organisierte Suizidhilfe wird im Folgenden als „das Anbieten der im Rahmen von Art. 111 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) zulässigen Hilfeleistungen an suizidwilligen Personen durch Organisationen oder Einzelpersonen, welche die Hilfe regelmäßig anbieten“, definiert.2

Weiter wird in diesem Dokument ausgesagt, dass die Suizidhilfe nur dann zu gewähren sei, „wenn der Suizidwunsch aus einem schweren, krankheitsbedingten Leiden heraus entstanden ist“; dabei sei der Begriff der Erkrankung „weit auszulegen und umfasst auch Leiden infolge eines Unfalls oder einer schweren Behinderung“.3 Auch dürfe kein Zweifel an der Urteilsfähigkeit der suizidwilligen Person bestehen mit Bezug auf ihren Entscheid, sich mit Hilfe Dritter das Leben zu nehmen. Ist die Suizidalität Ausdruck oder Symptom einer psychischen Krankheit, darf grundsätzlich keine Suizidhilfe geleistet werden, aber unter konkreten Umständen, falls sie bezüglich ihres Sterbewunsches jedoch durchaus urteilsfähig seien, darf auch diesen Personen Sterbehilfe geleistet werden. Bei Personen mit fortschreitender Demenz dürfen keine Zweifel bezüglich ihrer Urteilsfähigkeit bestehen.4

Weiter regelt die Vereinbarung den konkreten Ablauf der Suizidhilfe, der eigentlich schon seit Jahren übliche Praxis ist. Die von „Exit“ organisierte Suizidbegleitung wird ausschließlich unter Verwendung von Natrium-Pentobarbital (NaP) durchgeführt. Hingegen wird nun festgelegt, dass „zur Vermeidung von Routineabläufen“ ein Sterbebegleiter pro Jahr höchstens zwölf Suizide betreuen darf. Pro Fall soll er maximal 500 Franken (ca. 330 Euro) Spesen verrechnen dürfen.5 Sobald der Tod eingetreten ist, müsse der „Exit“-Mitarbeiter die Polizei informieren und ihr eine „Dokumentenmappe“ übergeben. Sie müsse unter anderem eine Erklärung enthalten, in der die sterbewillige Person bestätigt, dass sie Suizid begehen will. Auch das Verhalten der „Helfer“ ist reglementiert: Künftig sollen nur noch zwei Polizisten sowie ein Amtsarzt am Sterbeort einrücken,6 um zu großes öffentliches Aufsehen zu vermeiden. Die Kosten des Verfahrens betreffend der Untersuchung des Suizids als außerordentlicher Todesfall wird von der Staatskasse getragen (§ 42 Abs. 1 StPO ZH; Art. 423 Abs. 1 in Kraft ab 1. Jänner 2011).7

Am Ende des Dokuments wird festgelegt, dass die Vereinbarung von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer Frist von einem Jahr jederzeit gekündigt werden kann. Aus wichtigen Gründen kann mit sofortiger Wirkung gekündigt werden.8

Diese Vereinbarung hat erneut die „Sterbehilfe-Diskussion“ angefacht. In der Schweiz ist Tötung auf Verlangen zwar strafbar (Art. 114 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB), die Beihilfe zum Suizid hingegen nur, soweit die Drittperson aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt (Art. 115 StGB). Aufgrund dieser liberalen Strafgesetzgebung droht somit einzig im Fall von „selbstsüchtigen Beweggründen“ eine Strafe. Das in der Schweiz rechtliche Schlupfloch haben die Sterbehilfeorganisationen benützt, um Freitodhilfe anzubieten, verbunden mit konkreten Anleitungen zum Suizid. Es stimmt zwar, dass in der Schweiz rechtlich gesehen jeder Suizidhilfe leisten kann und grundsätzlich dafür nicht bestraft wird. Hingegen ist fraglich, ob ein Kanton eine private Vereinbarung mit einer Organisation abschließen darf, die „gewerbliche“ Suizidhilfe betreibt, was doch „beträchtliche ethische Zweifel“ aufwirft. Außerdem muss auch rechtlich geprüft werden, ob eine solche Vereinbarung überhaupt von einer Staatsanwaltschaft abgeschlossen werden kann und es nicht mindestens ein Gesetz als Rechtsgrundlage bräuchte.

Die Human Life International Schweiz und die Vereinigung Katholischer Ärzte lehnen diese Vereinbarung klar ab. Sie sei „ein Druckmittel“, um eine nationale gesetzliche Anerkennung von Sterbehilfeorganisationen durchzusetzen. Die vereinbarte Regelung gebe mehr oder weniger den Status quo wieder. Was die Festlegung von „Standesregeln“ für Sterbehilfeorganisationen, die in der Vereinbarung festgehalten sind, betrifft, verwahrt sich der HLI gegen die Verwendung dieses Begriffs im Zusammenhang mit der Beihilfe zum Suizid, weil die Sterbehilfeorganisationen durch ihre Tätigkeit selber „auf ethisch äußerst bedenkliche Weise“ handeln. Berufsgruppen, wie z. B. die Ärzte geben sich normalerweise ihre Standesregeln selbst und sicher nicht als Vereinbarung mit einer Staatsanwaltschaft.

Auch andere Stimmen werden laut, die die Vereinbarung mit der seit 27 Jahren in der ganzen Schweiz tätigen „Exit“ für unnötig halten. Diese schreibe lediglich deren ohnehin geltende Praxis fest. Außerdem werde dem „Sterbetourismus“ aus dem Ausland mit dieser Vereinbarung kein Riegel vorgeschoben, da gerade „Dignitas“, die vor allem durch ihre sehr zweifelhaften Praktiken den Stein des Anstoßes gab, nicht bereit war, diese Vereinbarung zu unterschreiben. Für sie war schlicht die Begrenzung der Suizide nicht akzeptabel, was den Untergang ihrer Organisation bedeuten würde.

Was den „Sterbetourismus“ betrifft, wird in der Vereinbarung lediglich verlangt, dass diese Personen an zwei verschiedenen Zeitpunkten vom rezeptierenden Arzt untersucht werden und die Befunde mit den angebrachten ärztlichen Berichten von Personen und Institutionen glaubwürdig übereinstimmen. „Exit“ gibt sich darüber hinaus ein Reglement, das die Auswahl, die Einführung, Schulung und den Einsatz sog. „Freitodbegleiter“ beschreibt. Der Inhalt dieses Reglements ist nicht Bestandteil der Vereinbarung und bisher unbekannt.

Dieses Ereignis spaltet die Schweizer Gemüter. Als Reaktion sind im Kanton Zürich zwei Initiativen entstanden: Die Initiative „Nein zum Sterbetourismus im Kanton Zürich“ verlangt, dass Suizidhilfe an Personen ohne mindestens einjährigem Wohnsitz im Kanton Zürich verboten wird. Die zweite Initiative „Stopp der Suizidhilfe“ beauftragt den Kanton Zürich, mit einer Standesinitiative zu verlangen, dass im Strafgesetzbuch jede Art von Verleitung und Beihilfe zum Selbstmord verboten wird.

Erstmals erwägt auch der Schweizer Bundesrat, ob man gesetzgeberisch auf die Aktivitäten von Sterbehilfeorganisationen reagieren müsse. Bis jetzt galt eine Bundesregelung für nicht notwendig. Doch im Jahr 2008 beauftragte der Bundesrat das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) abzuklären, ob man gesetzgeberisch auf die Aktivitäten der Sterbehilfeorganisationen reagieren müsse. Die Regierung hatte jüngst zwei Gesetzgebungsvorschläge in die Anhörung gegeben: Ein Entwurf spricht sich für Schranken der Arbeit der Sterbehilfeorganisationen aus, der andere will die Tätigkeiten von „Exit“ und „Dignitas“ komplett verbieten.

Es stellt sich immer mehr die Frage, ob es eine Bundesregelung braucht, um den Missbräuchen entgegenwirken zu können. Gesetze haben sehr wohl einen Einfluss auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung, was man in der Abtreibungsfrage ganz klar gesehen hat. Hingegen ist diese konkrete Vereinbarung mit „Exit“ sehr fraglich, da somit die Kultur des Lebens immer mehr von der Kultur des Todes in einer Gesellschaft ersetzt wird und das Leben immer mehr als ein subjektives Bestimmungsrecht angesehen wird. Man vergisst, dass das Leben eines Menschen unantastbar ist und einen Wert als solches hat. Es ist sehr zweifelhaft, wenn der Staat entscheiden will, wer lebenswürdig ist und wann er die Grenzen des Lebens setzt. Eine Vereinbarung dieser Art – obschon ihre Motivation ist, Missstände zu vermeiden – ist nichts anderes als die amtliche Genehmigung für die organisierte Sterbehilfe, was auf Kosten von behinderten, pflegebedürftigen älteren Personen und auch nicht einwilligungsfähigen Personen geht.

Suizidbeihilfe ist nicht nur eine persönliche Entscheidung. Sie hängt auch von der Entscheidung unserer Gesellschaft ab, wie sie dem Leben als Wert für die Gesellschaft gegenübersteht. Eine Demokratie, die sich nicht mehr für den Wert des Lebens einsetzt, kann leicht ihre Identität verlieren, indem sie ein System schafft, das nicht mehr der Würde der Person und ihrem Wesen entspricht. Die Verantwortung für den leidenden Menschen gebietet Lebenshilfe, Schmerzlinderung, palliative Pflege, aber keineswegs Hilfe zum Suizid. Auch in der Bevölkerung macht sich ein steigendes Bewusstsein bemerkbar, dass die ständig ansteigende Zahl von Suizide ein Übel für den Menschen und die Gesellschaft ist und dass die Sterbehilfe nicht die Lösung dieses Problems sein kann.

Referenzen

  1. Vereinbarung über die organisierte Suizidhilfe zwischen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Exit, Deutsche Schweiz, 30. Juni 2009, Einleitung
  2. Ebenda, Nr. 2.1.1.
  3. Ebenda, Nr. 4.2.
  4. Ebenda, Nrn. 4.4.2 und 3.
  5. Ebenda, Nrn. 7.1 und 3.2.2.
  6. Ebenda, Nr. 5.2.2.
  7. Ebenda, Nr. 8.
  8. Ebenda, Nr. 11.

Anschrift der Autorin:

Univ.-Doz. Dr. Gabriela Eisenring
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