Primäre Präventionskampagnen: Evaluierungsmodelle auf dem Prüfstand

Imago Hominis (2011); 18(3): 215-229
Wolf Kirschner

Zusammenfassung

Die Frage nach der Wirksamkeit von Kampagnen erfordert zunächst Abgrenzungen. Im Beitrag werde ich mich auf primäre Präventionskampagnen beschränken. Hierbei stehen sozialwissenschaftliche Interventionen im Mittelpunkt. Medizinische Maßnahmen wie z.B. Impfungen werden nicht untersucht. Der Grund dafür ist, dass nur bei den primären Interventionen  Kampagnen zum konstitutiven Merkmal  gehören, während andere Präventionsmaßnahmen i.d.R. in die medizinische Versorgung integriert sind und hier nur selten Kampagnen eingesetzt werden. Die  Kampagnen müssen sich auch dadurch auszeichnen, dass auch andere Maßnahmen im Sinne einer Kontextbeeinflussung durchgeführt werden. Präventionskampagnen, die diese Kriterien erfüllen, sind recht selten, was auf wissenschaftliche und politische Limitierungen zurückzuführen ist. Die Analyse zeigt, dass Kampagnen wirksam sein können, wobei viele Fragen offen bleiben und ein abschließendes Urteil derzeit nicht gefällt werden kann.

Schlüsselwörter: Primärprävention, Kampagnen, Wirksamkeit

Abstract

To answer the question if campaigns are effective requires containments. In the article not all possible health related campaigns are considered, instead only primary prevention campaigns will be discussed. Even here only nonmedical, social scientific interventions will be under examination. The reason is that only for primary prevention activities campaigns are one constitutive element, while other prevention programs are regularly integrated in medical care, where campaigns are rarely used. The campaigns must additionally be characterised by using additional multi-instrumental interventions aiming at influencing the context of behaviour change. Campaigns meeting these criteria are rare, which is due to scientific and political limitations, which will be explained. An exemplary presentation of five evaluated primary interventions shows, that such interventions and campaigns may be effective, though many questions remain unsettled and a final judgement cannot be derived.

Keywords: Primary Prevention, Campaigns, Effectiveness


1. Begriffliche Klärungen zur primären Prävention und Gesundheitsförderung

Zunächst sind Maßnahmen der gesundheitlichen Aufklärung und der Gesundheitsinformation von Maßnahmen der primären Prävention abzugrenzen. Erstere verfolgen keine direkten gesundheitlichen Ergebnisziele, vielmehr kommunikative Ziele der Wissensvermittlung (vgl. Abb. 1).

In Bezug auf Maßnahmen der primären Prävention sind medizinische Maßnahmen, wie beispielsweise Impfen oder die medikamentöse Senkung des Blutdrucks, von sozialwissenschaftlichen Präventionsmaßnahmen zu unterscheiden. Bei den sozialwissenschaftlichen Präventionsmaßnahmen sind weiterhin Maßnahmen der primären Prävention von solchen der Gesundheitsförderung abzugrenzen. Beide arbeiten häufig mit ähnlichen Instrumenten und Methoden, weisen allerdings eine unterschiedliche epidemiologische Begründung auf.

Die rein medizinischen Maßnahmen bleiben im Folgenden außer Betracht, weil sie in der Regel in die ärztliche Versorgung integriert sind und auch recht selten von Kampagnen begleitet werden. Außer Betracht bleiben ebenfalls sekundärpräventive oder tertiärpräventive Programme.

Ein Präventionsprogramm ist der gezielte und effektive Einsatz von wirksamen Maßnahmen unter Verwendung definierter Ressourcen zur Erreichung definierter und möglichst quantifizierter gesundheitlicher Ziele, die ein bestehendes und klar beschriebenes Problem vermindern oder beseitigen sollen. Diese gesundheitlichen Ziele können sein:

  • Senkung der Prävalenz von Risikofaktoren in einer Population (Primäre Prävention)
  • Erhöhung der Prävalenz von Ressourcen in einer Population (Gesundheitsförderung)
  • Senkung der Krankheitsinzidenzen

Nach Rosenbrock lassen sich sechs Strategie-typen der Primärprävention unterscheiden, die Maßnahmen der Information und Beratung mit Maßnahmen der Kontextbeeinflussung kombinieren (vgl. Tab. 1). Letzteres meint dabei, dass es den Zielgruppen der Prävention ermöglicht oder erleichtert wird, die Informationen in ihre Lebenswirklichkeit zu integrieren und umzusetzen.2

EbenenMaßnahmen
Information, Aufklärung, BeratungKontextbeeinflussung
IndividuumÄrztliche GesundheitsberatungPräventive Hausbesuche
SettingSchule, Krankenhaus, BetriebBetriebliche Gesundheitsförderung (BGF)/ Kantinenessen
Bevölkerungz. B. Esst mehr Obst, Rauchen gefährdet die GesundheitHIV/Aids-Kampagne, Trimm Dich
Tab. 1: Strategien der Primärprävention

Primäre Präventionsprogramme lassen sich auch dahingehend unterscheiden, welche Instrumente sie zur Änderung von Verhalten oder Verhältnissen verwenden:

  • Verbote, gesetzliche Normen, Sanktionen
  • Zwangsmaßnahmen
  • Kriminalisierung
  • Stigmatisierung
  • Preispolitik (Steuern)
  • Anreize, Incentives, Bonus-Malus-Regelungen
  • Lebensmittel- bzw. Produktanreicherung (z. B. Jod, Folsäure)
  • Information, Aufklärung
  • Beratung
  • Kontextmaßnahmen

Primäre Präventionsstrategien können prinzipiell alle genannten Instrumente verwenden oder auch kombinieren, in demokratisch verfassten Gesellschaften werden i. d. R. aber eher die Instrumente der Freiwilligkeit verwendet. Allerdings gibt es bei genauerer Betrachtung ein erhebliches Maß auch gesundheitlich begründeter präventiver Normierungen z. B. im Arbeits-, Umwelt- und Verbraucherschutz und auch im Straßenverkehr. In Bezug auf die spätere Analyse der Evaluation von Maßnahmen ist allerdings jenen Präventionsstrategien besondere Aufmerksamkeit zu schenken, die freiwillige Maßnahmen mit einer Preispolitik (z. B. Tabakpreiserhöhung) oder Bonus-Malus-Regelungen kombinieren, da hier von deutlich höheren Effekten ausgegangen werden kann.

Präventionskampagnen können in Anlehnung an Bonfadelli wie folgt definiert werden:

Konzeption, Durchführung und Kontrolle von systematischen, langfristig angelegten und zielgerichteten Kommunikationsaktivitäten zur Förderung von Problembewusstsein und Beeinflussung von Einstellungen und Verhaltensweisen gewisser Zielgruppen in Bezug auf gesundheitliche Risiken mit dem Ziel der Risikosenkung und Senkung der Eintrittswahrscheinlichkeit von Krankheit.3

2. Voraussetzungen von primärpräventiven Programmen und Kampagnen

2.1 Epidemiologische Datenlage und Evidenz

Aus der obigen Definition der Primärprävention ergibt sich, dass Präventionsmaßnahmen nicht aus beliebigen oder zufälligen Instrumenten bestehen, diese vielmehr wirksam sein müssen, um die angestrebten gesundheitlichen Ziele zu erreichen. Dieser Wirksamkeitsnachweis ergibt sich aus der epidemiologischen Forschung. Folgende Bedingungen müssen hierbei erfüllt sein:

  1. Risikofaktoren bzw. protektive Faktoren von Krankheit(en) müssen epidemiologisch bekannt sein.
  2. Die Assoziationsmaße (ODDS-Ratios, relative Risiken) müssen hoch sein, oder die Faktoren müssen eine hohe Prävalenz in der Bevölkerung aufweisen.
  3. Die Faktoren müssen prinzipiell intervenierbar sein.
  4. Die Interventionen müssen von der Bevölkerung (aller Schichten!) akzeptiert und mehrheitlich umgesetzt werden.
  5. Die Interventionen müssen dauerhaft und langfristig im Sinne der Senkung von Risikofaktoren oder der Erhöhung protektiver Faktoren wirksam sein.
  6. Die Kosteneinsparungen müssen größer sein als die nicht selten gewaltigen Investitionen in die Intervention.
Kranheiten/OutcomesRisikofaktoren (Beispiele)
Kardiovaskuläre ErkrankungenRauchen - Alkohol - Kein Sport - Übergewicht - Falsche Ernährung - Hoher Blutdruck - Stress
Diabetes Typ 2Kein Sport - Übergewicht - Falsche Ernährung
FrühgeburtenRauchen - Alkohol - Kein Sport - Übergewicht - Falsche Ernährung - Hoher Blutdruck - Vaginalinfektion - Stress
InfertilitätCT (Chlamydia trachomatis)-Infektionen
FehlbildungenErnährung/ Folsäure
ÜbergewichtKein Sport - Falsche Ernährung
GebärmutterhalskrebsHumane Papillomviren (HPV)
DiverseRauchen - Alkohol - Kein Sport - Übergewicht - Falsche Ernährung
Tab. 2: Gesicherte Risikofaktoren und protektive Faktoren aus der epidemiologischen Forschung (Beispiele)

Das Spektrum möglicher epidemiologisch basierter primärpräventiver Interventionen ist somit durch unseren aktuellen epidemiologischen Wissensstand limitiert. Und dieser ist zwar nicht gering, aber auch nicht überwältigend, wie Tab. 2 zeigt.

Zusammenfassend ist zu konstatieren, dass bei vielen Krankheiten eine unzureichende epidemiologische Evidenz zu den häufig multifaktoriellen Entstehungsbedingungen der Krankheiten oder Gesundheitsstörungen besteht. Der Anteil an genetisch/hereditären Komponenten der Krankheitsgenese ist oft noch unklar, mit der Folge bisher fehlender, unzureichender oder unwirksamer Interventionsmöglichkeiten. Die Assoziationsmaße fehlen oder sind unsicher, und es liegen Schwachstellen in der theoretischen Fundierung der Gesundheitsförderung in der Salutogenese vor. Nach Antonovsky entwickelt sich der sense of coherence (SOC) in den ersten beiden Lebensdekaden und bleibt ab dem frühen Erwachsenenalter konstant.4 Gesundheitsförderung über die Intervention des SOC wäre damit nur im Kindes- und Jugendalter machbar. Weiters ist festzuhalten, dass Maßnahmen in Bezug auf sportliche Aktivierung und gesunde Ernährung in ihren Wirkungen eher unspezifisch und bei der Ernährung oft auch nicht belastbar untersucht sind.

2.1 Gesundheitspolitische Reaktion

Prävention hat in der Gesellschaft und auch in der Medizin eine lange Geschichte mit auch unterschiedlichen Konjunkturen:

Die Zeit der Industrialisierung kann als Hochzeit von Bevölkerungsmedizin und Hygiene bezeichnet werden, was sich auch an einer engen Zusammenarbeit zwischen Medizin und Politik zeigt. Als das Gesundheitssystem nach der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland neu geordnet wurde, war dies mit einer nahezu vollständigen Ausrichtung der Medizin auf die kurative Individualmedizin verbunden und einem entsprechenden Bedeutungsverlust der Bevölkerungsmedizin sowie einem Funktionsverlust des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. In den 1950er und 1960er Jahren beschränkte sich Prävention nur noch auf wenige Maßnahmen: Tuberkulose, Impfen, Überwachung des Gesundheitszustandes von Kindern und Jugendlichen sowie Schwangeren. Von Gesundheitsförderung im heutigen Sinne war in dieser Zeit noch nicht die Rede, allenfalls von gesundheitlicher Aufklärung. In den späten 1970er Jahren lässt sich eine stärkere Hinwendung zu Maßnahmen der Primärprävention beobachten, die v. a. von der Suchtprävention ihren Ausgang nimmt und Mitte der 1980er Jahre in der AIDS-Prävention fortgesetzt wird.

Bei der zweifellos zu konstatierenden Bedeutungszunahme der Prävention im Gesundheitswesen industrialisierter Staaten in den letzten drei Jahrzehnten muss aber von einer erheblichen Diskrepanz zwischen allgemeiner Präventionsrhetorik und tatsächlicher Präventions- und Gesundheitsförderungspolitik gesprochen werden. Nach einer Untersuchung der OECD in den 30 Mitgliedstaaten aus dem Jahr 2005 beträgt der Anteil der Ausgaben für Prävention und Gesundheitsförderung im Durchschnitt 3,1%. Dabei ist zu berücksichtigen, dass hiervon ca. 80% bis 90% auf die sekundäre Prävention entfallen.5

Ist die Konzeption, Durchführung und Evaluation von primären Präventionsprogrammen eine wissenschaftliche und organisatorische Aufgabe, so ist Etablierung eines primärpräventiven Programms ein politischer Akt bzw. Prozess, der:

  • gesundheitliche Risiken, gesundheitliche Outcomes oder Krankheiten als erhebliches gesellschaftliches Problem begreift
  • einen breiten parteipolitischen und gesellschaftlichen Konsens zum Handeln erfordert
  • zu dem es keine wesentlichen instrumentellen Alternativen gibt.

Neben dieser Grundvoraussetzung der Etablierung primärpräventiver Programme bestehen gerade in Deutschland weitere Restriktionen, die hier kurz angesprochen werden sollen. Bis Mitte der 1980er Jahre herrscht eine völlig defizitäre epidemiologische Datenlage, es gibt keine inhaltlich und final auf Gesundheitsziele orientierte Gesundheitspolitik. Ein wesentliches Charakteristikum deutscher Gesundheitspolitik liegt in der Delegation von Zuständigkeiten an Dritte, z. B. §20 SGB V6 (Krankenkassen), doch das Interesse der Krankenkassen an Präventionsprogrammen ist nur verhalten: Sie haben auch nur einen eng begrenzten rechtlichen Handlungsspielraum, und es gibt nur ein geringes Budget der Krankenkassen für primäre Prävention.

Darüber hinaus fehlt es an einer breiten Rechtsgrundlage für Maßnahmen (fehlendes Präventionsgesetz), die Investitionen für community approaches sind gewaltig, die öffentlichen Haushalte müssen sparen. Das Dilemma der Prävention: Die Kosten fallen heute an, die möglichen Erträge liegen in der fernen Zukunft.

Es gibt keine breite Verankerung der Prävention und Gesundheitsförderung in der Ärzteschaft (Ausnahme: Kinderärzte und Gynäkologen), und die Etablierung primärpräventiver Programme leidet unter den Interessenkonflikten der Stake-Holders und Akteure.

Vor dem Hintergrund der abgeleiteten Probleme in Bezug auf die epidemiologische Evidenz von Präventionsprogrammen und der politischen Umsetzungsprobleme muss man annehmen, dass breit angelegte Präventionsprogramme und Präventionskampagnen mit Kontextbezug in Deutschland eher die Ausnahme als die Regel darstellen. Rosenbrock sieht in Deutschland nur drei Programme, die diese Kriterien erfüllen:

  • die Kampagne zum Sicherheitsgurt aus den 60er Jahren
  • die Trimmaktionen beginnend in den 70er Jahren
  • die HIV/AIDS-Kampagne beginnend Mitte/Ende der 80er Jahre7

 Auch wenn ich diese Einschätzung – wie zu zeigen sein wird – nicht ganz teile, ist ihr allerdings in folgender Einschätzung zuzustimmen. „Kampagnen ohne relevanten Kontextbezug (Esst mehr Obst, Sport tut gut, Rauchen gefährdet die Gesundheit) richten sich in der Regel an die gesamte Bevölkerung, indem sie gesundheitsrelevante Botschaften transportieren, ohne jedoch auf die fördernden und hemmenden Bedingungen ihrer Annahme bzw. Umsetzung einzugehen oder diese gar zu verändern. Solche Kampagnen sind unaufwändig zu organisieren, haben aber einen, wenn überhaupt nur sehr geringen impact und gehören regelmäßig in die Kategorie „symbolische Politik“. Typischerweise werden sie auch nicht im Hinblick auf gesundheitliche Wirkungen evaluiert.“8

3. Evaluation von primärpräventiven Programmen und Kampagnen

Die Evaluation entsprechender Programme ist eine Aufgabe der Programmevaluation. Wir definieren diese als: Anwendung sozial- und gesundheitswissenschaftlicher Methoden zur Analyse von Organisations- und Versorgungsproblemen im Gesundheitswesen und der zu ihrer Lösung vorgeschlagenen und / oder eingesetzten Programme mit dem Ziel, die Effektivität und Effizienz der durchgeführten Intervention wissenschaftlich zu bewerten.

Programmevaluation verläuft dabei in einer Evaluationsschlaufe (vgl. Abb. 2).

Die Evaluation von Interventionsmaßnahmen gehört zu den schwierigsten Tätigkeitsfeldern in der empirischen Forschung. Aufgrund der Komplexität der Aufgabenstellung erfolgt die Evaluation in der Regel in 4 Phasen:

  1. Ex-ante Evaluation (Interventionsplanung)
  2. Strukturevaluation
  3. Produkt- und Prozessevaluation
  4. Ergebnisevaluation

Zentrales Ziel der Interventionsplanung ist es, z. B. in einem Fall-Kontrollansatz zufällige, möglichst nicht selektierte Interventionsgruppen zu generieren, wobei Selektionen nach soziodemographischen, sozialen, gesundheitlichen und auch motivationalen Faktoren möglichst weitestgehend auszuschließen sind. Mit der Struktur-, Produkt- und Prozessevaluation wird überprüft, ob das Programm entsprechend seiner Vorgaben läuft und die intendierten Ergebnisse überhaupt erwartet werden können. Die Ergebnisevaluation untersucht die gesundheitlichen Wirkungen zu einem Zeitpunkt, zu dem diese überhaupt sichtbar werden können.

Evaluationsforschung beinhaltet in allen Phasen eine Fülle von Fehlermöglichkeiten, die dazu führen können, dass die Schlussfolgerungen der Ergebnisevaluation selbst fehlerhaft sind.

Wenn von der Evaluation einer Intervention erwartet wird, dass sie in Grenzen des Konfidenz-intervalls (üblicherweise 95%) auf der Grundlage eines Hypothesentests statistisch gesicherte Bewertungen der Wirksamkeit liefert, so muss hier zunächst darauf hingewiesen werden, dass auch die Evaluation analog der 4-Felder-Tafel folgende Outcomes und die damit verbundenen zwei Fehlermöglichkeiten beinhaltet:

  1. Der Intervention wird Wirksamkeit attestiert und sie ist in Wirklichkeit auch wirksam (richtig positive Entscheidung).
  2. Der Intervention wird Wirksamkeit attestiert, sie ist in Wirklichkeit aber nicht wirksam (falsch positive Entscheidung).
  3. Der Intervention wird keine Wirksamkeit attestiert, sie ist in Wirklichkeit auch nicht wirksam (richtig negative Entscheidung).
  4. Der Intervention wird keine Wirksamkeit attestiert, sie ist in Wirklichkeit aber wirksam (falsch negative Entscheidung).

Logischerweise sind die Evaluationsoutcomes 2 und 4 kritisch, da sie ggf. zum Angebot unwirksamer oder zur Vorenthaltung wirksamer Maßnahmen führen. Evaluationsforschung ist jedoch nicht nur methodisch komplex, sondern regelmäßig auch aufwändig und teuer. Letzteres führt oft zu fragwürdigen Designs und nicht selten auch zu bloß „symbolischen Evaluationen“. Gerade in der Vergangenheit wurden Präventionsprogramme überhaupt nicht belastbar evaluiert. Dies gilt z. B. auch für die genannten Trimmaktionen in Deutschland.9 Weit verbreitet ist in der Evaluationsforschung auch nach wie vor die „Selbstevaluation“, die prinzipiell Zweifel an Objektivität und Unabhängigkeit der Analysen aufwirft. Belastbare Evaluationen sind für die Akteure der Prävention aber auch nicht ungefährlich, denn bei einem negativen Befund führen sie nicht selten zum Abbruch der Programme.

4. Evaluationspraxis und -ergebnisse einer Auswahl von Interventionen und Kampagnen im deutschsprachigen Raum – Was bringen Kampagnen?

Der Beantwortung dieser zentralen Frage kann man sich methodisch auf zweierlei Art nähern. Einmal könnte man versuchen, die Evaluationen durchgeführter Interventionen und Kampagnen metaanalytisch zu untersuchen. Dies ist z.B. in den USA auch gemacht worden.10 Dieser Ansatz stellt allerdings ein eigenständiges und aufwändiges Forschungsprojekt dar, dessen Ergebnisse vermutlich widersprüchlich sein werden und sich dabei neben vielen anderen Fragen v. a. auch die Frage nach dem impact des publication bias stellt. Bonfadelli und Friemel fassen die Ergebnisse derartiger Metananalysen wie folgt zusammen: „Die potentielle Wirksamkeit von Kommunikationskampagnen im Gesundheitsbereich kann somit als gesichert betrachtet werden.“11

Die Alternative besteht darin, eine Auswahl von Kampagnen mit Kontextbezug unter dem Gesichtspunkt der Ergebnisse der Evaluation zu untersuchen. Wir wollen uns im Folgenden exemplarisch auf Kampagnen mit sichtbarem Kontextbezug beschränken, an denen wir in der Durchführung oder Evaluation oder in anderer Weise selbst beteiligt waren. Folgende Interventionen und Kampagnen sollen näher betrachtet werden:

  1. Die Deutsche Herzkreislaufpräventionsstudie
  2. Die HIV/AIDS-Kampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
  3. Die Hautkrebskampagne
  4. Die Kampagne Obst mal 5 / Tirol
  5. Die rauchfrei-Jugendkampagne der BZgA

Die Deutsche Herz-Kreislaufpräventionsstudie (DHP)12 (1982-1994)

Problem: Zunahme von Herz-Kreislauferkrankungen in den 70er Jahren

Ziele: Verhaltensänderung, Senkung von Risikofaktoren, Senkung des  Mortalitätsrisikos für Koronare Herzerkrankungen in der Bevölkerung im Alter von 40-64 Jahren

Träger: Bundesministerium für Forschung und Technologie

Die Deutsche Herz-Kreislaufstudie (DHP) (1984 bis 1994) zählt zu den weltweit größten primärpräventiven Interventionen zur Verhütung kardiovaskulärer Erkrankungen. Sie wurde in Weiterentwicklung einer Vielzahl US-amerikanischer „Coronary Heart Disease“-Interventionsstudien durchgeführt und basierte auf einer medialen Basiskampagne, die durch eine Vielzahl personaler Interventionen und weiterer Angebote und Maßnahmen ergänzt wurde. In den sechs Studienregionen der DHP mit einer halben Million Einwohnern gelang es innerhalb von knapp sieben Jahren, im Sinne der primären Prävention, Bluthochdruck und zu hohe Cholesterin-Blutspiegel, aber auch den Anteil an Rauchern deutlich zu senken: Im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland war der Anteil der Hochdruck-Kranken bei den Studienteilnehmern um 20 Prozent niedriger. Der Anteil der Probanden mit Blutcholesterinwerten über 250 mg/dl sank um 11%, der der Raucher um 7%. Statistisch gesicherte Präventionseffekte dieser Größenordnung wurden bisher in einer so großen Bevölkerungsgruppe noch nicht erreicht (vgl. Tab. 3).

InterventionReferenzNettoeffekt
Systolischer Blutdruck (x) T0
Systolischer Blutdruck (x) T2
132,2
131,0
131,7
133,2

-2,0%
Diastolischer Blutdruck (x) T0
Diastolischer Blutdruck (x) T2
81,9
80,3
81,8
81,8

-2,0%
Unkontrollierte Hypertonie (%) T0
Unkontrollierte Hypertonie (%) T2
17,9
14,3
17,5
17,7

-21,3%
Cholesterin (x) T0
Cholesterin (x) T2
232,7
231,8
233,5
236,9

-1,8%
Cholesterin (>250mg/dl) % T0
Cholesterin (>250mg/dl) % T2
33,0
31,3
34,2
36,2

-11,0%
BMI (x) T0
BMI (x) T2
25,8
26,2
26,1
26,5

0,0%
BMI (>25) % To
BMI (>25) % T2
53,9
56,6
57,6
59,4

1,9%
Rauchen % T0
Rauchen % T2
35,4
32,5
34,0
33,5

-6,7%
Tab. 3: Ergebnisse der DHP. T0 ... Juni 1984 - April 1986, T2 ... April 1990 - Mai 1991

Die Evaluation wurde auf der Basis des dafür geschaffenen Bundesgesundheitssurveys durchgeführt, der zu drei Zeitpunkten durchgeführt wurde (1984, 1987, 1990), indem die Daten in den Studienregionen mit den Daten des Bundesgesundheitssurveys in einem Fall-Kontrollansatz verglichen wurden.

Vergleichbare Ergebnisse zeigen andere Interventionsstudien, z. B. das Nordkarelienprojekt. Viele US-amerikanische Untersuchungen zeigten jedoch nur moderate oder keine Effekte, was jedoch teilweise auch auf Mängel bzw. Fehler in der Evaluation zurückzuführen war. Eine abschließende Schlussfolgerung auf Wirksamkeit lässt sich so nicht ableiten. 

Die HIV/AIDS-Kampagne (ab 1987)

Problem: Neue Infektionskrankheit zunächst ohne Behandlungsmöglichkeiten

Ziele: Wissenserhöhung, Verhaltensänderungen, Senkung von Risikofaktoren, Kontrolle und Verhinderung von Neuinfektionen

Träger: Bundesministerium für Gesundheit/ BZgA

Seit 1987 wird in Deutschland die HIV/AIDS- Kampagne durch die BZgA in Kooperation mit einer Vielzahl weiterer Institutionen (z. B. Deutsche AIDS-Hilfe) durchgeführt. Es handelt sich um eine multizentrische, multimediale Intervention in der Gesamtbevölkerung, einzelnen Zielgruppen mit auch personalen Beratungs- und HIV-Testangeboten. Auch wenn einzelne Elemente der Kampagnen immer wieder aktualisiert werden, bleibt die Kampagne im Grundsatz unverändert.

Eine Evaluation der Kampagnen und der Maßnahmen erfolgt durch:

  • jährliche Repräsentativerhebungen in der Bevölkerung (AIDS im öffentlichen Bewusstsein) im Auftrag der BZgA 
  • Analyse der epidemiologischen Daten zu AIDS und HIV in Deutschland durch das Robert Koch Institut, i. w.
    • AIDS-Fallregister
    • Labormeldungen über HIV-positive Tests.

In Deutschland leben nach Schätzungen des RKI im Jahr 2010 ca. 70.000 HIV-Infizierte. Die Leiterin der BZgA Pott bezeichnet die AIDS Präventionsstrategie als „ein Erfolgsmodell im westeuropäischen Vergleich“.13 Die im folgenden wiedergegebenen Daten soll dies untermauern.

Nun mag es stimmen, dass Deutschland im europäischen Vergleich eine sehr geringe Neuinfektionsrate aufweist (vgl. Abb. 3), über die Wirksamkeit der Kampagne kann damit aber nichts belastbares ausgesagt werden.

Zur Abschätzung der Wirksamkeit werden Ergebnisse der Repräsentativbefragungen und andere Datenquellen verwendet. So soll die steigende Kondombenutzung von Singles das steigende Risikobewusstein und zunehmende Schutzverhalten indizieren, die auch durch den zunehmenden Kondomabsatz plausibilisiert werden (vgl. Abb. 4-6).

Dass nach Auffassung der Bevölkerung die Krankheit Aids an Gefährlichkeit seit 2001 einbüßt, passt nicht so ganz ins erfolgreiche Bild und bleibt uninterpretiert.

Während die Leiterin der BZgA vom Erfolg der AIDS-Prävention spricht, zeigen die Daten des Robert-Koch-Instituts (RKI) ein ganz anderes Bild. Während die neudiagnostizierten Infektionen bis zum Jahr 2001 abnehmen, steigen sie von 2002 bis 2009 auf das Doppelte an, wobei diese Zunahme nahezu ausschließlich auf die Gruppe der homo- und bisexuellen Männer zurückzuführen ist (vgl. Abb. 7).

Seit 2001 kann von einem Erfolg der AIDS-Kampagne in der Hauptbetroffenengruppe keinesfalls mehr gesprochen werden. Diese Schlussfolgerung gilt auch dann, wenn man die Mängel und Defizite der HIV-Surveillance in Deutschland berücksichtigt. 

Doch es gibt auch Zweifel, ob der bis 2001 zu beobachtende Rückgang der Neuinfektionen überhaupt in relevantem Maße auf die Kampagne zurückzuführen ist. Durch die kombinierte antiretrovirale Therapie wird die Viruslast und damit die Kontagiosität deutlich verringert. Das RKI selbst kommt in einer Stellungnahme zu folgendem Fazit:

„Es ist sehr wahrscheinlich, dass durch eine effektive ART (=Viruslast unter der Nachweisgrenze) die HIV-Übertragungswahrscheinlichkeit (auf Bevölkerungsebene!!) deutlich gesenkt wird. Der Einsatz der HIV-Therapie trägt wahrscheinlich erheblich zu einer Senkung der HIV-Inzidenz in einer Population bei.“19

Auch wenn ich diese Einschätzung letztlich teile, ist natürlich einschränkend darauf hinzuweisen, dass epidemiologisch betrachtet durch die Verlängerung der Lebenserwartung unter ART auch die Expositionswahrscheinlichkeiten zunehmen. Geht man davon aus, dass in Deutschland mindestens 50% der HIV-Infizierten eine ART erhalten,20 ist die Wirkung der Kampagnen umso zweifelhafter und der Anstieg der Neuinfektionen seit 2001 geradezu als dramatisch zu bezeichnen.

Die Hautkrebskampagne (1990-1994)21

Problem: Stark steigende Hautkrebsinzidenz

Ziele: Wissenserhöhung, Verhaltensänderungen, Senkung von Risikofaktoren (Sonnenexposition), Nutzung von Sonnenschutzmitteln

Träger: Universität Hamburg

Die Intervention wurde 1990 bis 1994 bundesweit durchgeführt. Basis waren regelmäßige, ganzseitige, hervorragend gestaltete Anzeigen in Zeitschriften des Gruner + Jahr Konzerns sowie Plakatierungen. Ein Kontextbezug wurde durch Angebote zur Hautkrebsdiagnostik in mobilen Untersuchungseinheiten hergestellt. Die Evaluation wurde in den Regionen München, Hamburg und Würzburg vom Institut EFB durchgeführt. Es handelte sich um eine T0/T1/T2 Untersuchung ohne Fall-Kontrollansatz. Befragt wurde die Bevölkerung ab 18 Jahren.

Gegenstand der Befragung war u. a.:

  • Bräunungsverhalten:
    • gezielte Sonnenexposition, um braun zu werden
    • Verwendung von Sonnenschutzmitteln
    • Solariumnutzung
  • Image der braunen Haut als gesunde Haut
  • Einschätzung der Therapiemöglichkeiten des Hautkrebses
  • Kenntnis von Warn- und Hinweiszeichen auf Hautkrebserkrankungen
  • Kenntnis des Programms.

Die Evaluation zeigt signifikante Veränderungen im Wissen und im berichteten Verhalten (vgl. Tab. 4). Am deutlichsten veränderte sich die Verwendung von Sonnenschutzmitteln mit einem hohen Lichtschutzfaktor. Auch wird braune Haut wesentlich seltener mit gesunder Haut assoziiert.


Jahr
n
T0
1989
1773
T1
1992
1805
T2
1994
1800
T-Test

Gezielte Sonnenexposition
Nie
Länger als 6 Wochen pro Jahr

49,8%
8,6%

56,4%
5,1%

56,4%
5,6%

3,96
3,49
Verwendung von Sonnenschutzmitteln
Immer
Lichtschutzfaktor (LSF) 10+
(Fast) nie

36,9%
5,9%
27,1%

37,7%
5,9%
26,9%

49,9%
16,9%
20,6%

7,91
10,52
4,57
Assoziation Braune Haut = Gesunde Haut 35,5% 19,8% 21,7% 9,23
Therapiemöglichkeiten
Sehr gut, gut

52,1%

55,0%

60,1%

4,83
Hinweiszeichen auf mögl. Hautkrebserkrankung bekannt?
Ja, Veränderungen an Warzen und Muttermalen


19,2%


25,2%


28,3%


6,43
Kenntnis des Programms (T1/T2) 17,6% 28,7% 7,7
Tab. 4: Hautkrebskampagne / Evaluationsergebnisse

Obst mal 5 (2000 bis 2005)

Problem: Fehlernährung der Bevölkerung/ Übergewicht / steigende Inzidenz z. B. von Diabetes Typ 2

Ziele: Verbesserung des Informationsstandes und des Ernährungsverhaltens der Bevölkerung im Land Tirol (Bezirke Imst und Landeck) hinsichtlich der täglichen Verzehrmengen von Obst und Gemüse

Träger: avomed - Arbeitskreis für Vorsorgemedizin und Gesundheitsförderung in Tirol und Weitere (teilfinanziert durch den Fonds Gesundes Österreich).

Es handelt sich um ein multizentrisches und multimediales Maßnahmenprogramm, das von Flyern, Broschüren, Plakaten, Internetauftritten22 bis zu Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen und Informationsveranstaltungen reicht. Nicht uninteressant ist die niedrigschwellig ausgerichtete und kontextbezogene Informationsübermittlung durch die Beteiligung eines regionalen Discounters und die entsprechende Schulung des Verkaufspersonals.

Das Projekt basiert auf dem aktuellen ernährungswissenschaftlichen Kenntnisstand zur gesunden Ernährung. Es wird durch eine begleitende Telefonumfrage evaluiert, in deren Mittelpunkt die Veränderung des Wissens und erfragten Ernährungsverhaltens steht. Das Projekt wurde durch das Institut für klinische Epidemiologie der Tiroler Landeskrankenanstalten u. a. im Rahmen von fünf Telefoninterviews zwischen 1999 und 2004 evaluiert.23

Auch bei dieser Intervention zeigen sich deutliche Verbesserungen im Wissen und berichteten Verhalten (vgl. Tab. 5).


Jahr
n
T0
1999
300
T3
2004
296
Signifikant

Tägliche Obst/Gemüseportionen x3,44,4*
Konsum von mehr als 5 Portionen täglich14,0%33,8%*
Konsum von 5 Portionen ist machbar ja69,5%82,4%*
Informationen zu Obst mal 5 erhalten9,8%56,8%*
Programm Obst mal 5 bekannt17,0%46,6%*
Tab. 5: Obst mal 5 (Tirol) / Evaluationsergebnisse

Rauchfrei-Jugendkampagne der BZgA (seit 2003)

Problem: Steigende Raucherprävalenzen unter Jugendlichen

Ziele: Reduktion des Rauchens

Träger: BZgA

Die Kampagne wird seit April 2003 von der BZgA durchgeführt. Es handelt sich um eine multimediale und multizentrische Kampagne.

Die verschiedenen Maßnahmen und Kampagnen der BZgA zum Nichtrauchen werden seit den 70er Jahren u. a. auf der Grundlage repräsentativer Befragungen der Bevölkerung evaluiert. Die aktuellste Untersuchung stammt aus dem Jahr 2010.25

Der Bericht enthält folgendes Fazit:

„Die Bemühungen, die in Deutschland im Laufe der letzten Dekade zur Verhinderung des Einstiegs in das Rauchen und zur Förderung des Ausstiegs aus dem Rauchen unternommen wurden, zeigen Erfolge. Der Anteil rauchender 12- bis 17-jähriger Jugendlicher ist in der neuesten Untersuchung aus dem Jahre 2010 so niedrig wie noch nie seit 1979. Gegenüber dem letzten Höchstwert im Jahr 2001 hat sich der Anteil rauchender Jugendlicher innerhalb von neun Jahren mehr als halbiert.“26

Ob die insgesamt deutliche Abnahme der Raucherprävalenzen unter Jugendlichen (vgl. Abb. 9) tatsächlich auch eine Wirkung der Kampagnen darstellt oder nicht eher und stärker ein Ergebnis der Zunahme der Preise, die von 2003 bis 2010 um 56% gestiegen sind, muss letztlich offen bleiben (vgl. Tab. 6). Mag dies im Rahmen einer Politik der Tabakkontrolle letztlich auch zweitrangig sein, so kann die Entwicklung jedenfalls nicht allein und primär als Erfolg der Kampagnen bewertet werden.

Preis/ Zigarette in CentWR %Kosten/ Packung (Euro)
200316,673,33
Mrz 0419,053,81
Dez 0421,054,21
200522,224,44
200723,524,70
201026,3158%5,26
Tab. 6: Entwicklung der Zigarettenpreise (2003 - 2010)27

5. Fazit

Spätestens seit der Ottawa-Charta 1986 wird in den entwickelten Ländern eine viel stärker gesundheitsfördernde und präventive Gesundheitspolitik gefordert, und dies wird nicht nur ethisch, vielmehr oft auch ökonomisch begründet. Eine präventiv-gesundheitsfördernde, mit Gesundheitszielen unterlegte und auch finanziell und strukturell gut ausgestattete Gesundheitspolitik lässt sich bisher nirgendwo finden. Dies erklärt die relativ geringe Zahl primärpräventiver Programme (auch) in Deutschland. Ob Kampagnen mit Kontextbezug wirksam sind, kann bisher abschließend nicht beantwortet werden. Ob dies jemals der Fall sein wird, ist m. E. fraglich, denn primärpräventive Gesundheitsprogramme und -kampagnen sind keine hoch standardisierbaren klinischen Studien, sie sind vielmehr soziale Experimente mit zeitlich, örtlich, strukturell und instrumentell-methodisch äußerst heterogenen Voraussetzungen und Bedingungen.

Mit Ausnahme der DHP, die als finanziell sehr gut ausgestattetes Forschungsprojekt, theoretisch gut fundiert, interventiv professionell umgesetzt und nach dem state of the art auch evaluiert wurde und auch Wirksamkeit zeigte, weisen die anderen untersuchten „Interventionen“ folgende Probleme auf:

  • Sie sind interventionstheoretisch weit weniger gut abgesichert.
  • Sie verwenden einfache, oft einfachste Evaluationsdesigns in Form von Befragungen ohne Einsatz komplexerer Methoden (bei Obst mal 5 z. B. Ernährungsprotokolle).
  • Die Befragungen weisen zahlreiche methodische Limitierungen und Probleme auf (z. B. Selektionen, sozial erwünschtes Antwortverhalten (Obst mal 5, Kondombenutzung).
  • Die Befragungen weisen oft zeitliche Limitierungen auf und erlauben keine Abschätzung der Dauerhaftigkeit und Nachhaltigkeit von Änderungen im berichteten Verhalten.
  • Die Stichproben sind für die oft erforderlichen Kleingruppenanalysen oft viel zu klein.
  • Bei multiinstrumentellen Interventionen können die erzielten Effekte häufig nicht den einzelnen Maßnahmen zugeordnet werden.
  • Bei der HIV/AIDS-Prävention sind erhebliche Defizite und Mängel in der epidemiologischen Surveillance festzustellen.28 Die zwischen 1989 und 1996 etablierten ergänzenden Systeme wurden zwischenzeitlich eingestellt,29,30,31 was u. a. auch ein geringer werdendes politisches Interesse an der Regulierung des AIDS-Problems deutlich macht.
  • Bei HIV/AIDS und der Tabakrauchkampagne zeigt sich die Problematik von stark politisch-administrativ gesteuerten Evaluationen und Selbstevaluationen.
  • Die erkennbaren Änderungen im Wissen und berichteten Verhalten werden häufig allein unter dem Gesichtspunkt ihrer statistischen Signifikanz und nicht auch nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz bewertet.

Damit lässt sich abschließend tautologisch formulieren:

Präventionskampagnen können wirken. Der Nachweis dafür kann nur durch deutlich bessere Interventionen und Evaluationen geführt werden.

Referenzen

  1. Kirschner R. et al., Evaluation der Tätigkeit des Fonds Gesundes Österreich 1998-2001, Wien (2003), S. 14, www.fgoe.org/hidden/downloads/Evaluationsberichtdeutsch.pdf
  2. Rosenbrock R., Primärprävention - Was ist das und was soll das?, WZB discussion papers, Berlin (2008), S. 16
  3. vgl. Bonfadelli H., Medienwirkungsforschung II: Anwendungen in Politik, Wirtschaft und Kultur (2. überarb. Auflage), UVK, Konstanz (2004)
  4. vgl. Bengel. J. et al., Was erhält Menschen gesund? - Antonovskys Modell der Salutogenese - Diskussionsstand und Stellenwert, BZgA Forschung und Praxis der Gesundheitsförderung, Band 6, Köln (2001)
  5. vgl. OECD 2005: Health at a glance, OECD Indicators 2005, www.oecd.org/datao24825.pdf [Stand: 02.05.2011]
  6. www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/1.html [Stand: 02.05.2011]
  7.  a.a.0., S. 26
  8. a.a.0., S. 24
  9. vgl. Mörath V., Die Trimm-Aktionen des Deutschen Sportbundes zur Bewegungs- und Sportförderung in der BRD 1970 bis 1994, Veröffentlichungsreihe der Forschungsgruppe Public Health Forschungsschwerpunkt Arbeit, Sozialstruktur und Sozialstaat Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB), Berlin (2005)
  10. Hornik R. (Hrsg.), Public Health Communication. Evidence for Behavior Change, Mahaw, New Jersey (2002)
  11. Bonfadelli H. et al., Konzeption und Einsatz von Kommunikationskampagnen im Gesundheitsbereich, Management Summary, Universität Zürich (2006), S. 8
  12. Forschungsverbund DHP (Hrsg.), Die Deutsche Herz-Kreislauf-Präventionsstudie. Design und Ergebnisse, Verlag Hans Huber, Bern/ Göttingen/ Toronto/ Seattle (1998)
  13. Pott E., AIDS-Präventionsstrategien in Deutschland – Ein Erfolgsmodell im internationalen Vergleich, Hamburg (2009), www.hamburg.de/.../data/AIDS-praeventions-strategien-in-deutschland.pdf [Stand: 29.04.2011]
  14. Europe Center for Disease Prevention and Control 2007, www.ecdc.europa.eu/.../0812_SUR_HIV_AIDS_surveillance_in_Europe.pdf [Stand: 29.04.2011]
  15. Pott E., siehe Ref. 13
  16. Pott E., siehe Ref. 13
  17. Pott E., siehe Ref. 13
  18. vgl. Robert Koch-Institut: HIV/AIDS Folien 2009/2010, www.rki.de/.../HIVAIDS/.../HIV-AIDS-Folien.../HIV-AIDS-Folien.pdf [Stand: 17.05.2011]
  19. Robert Koch-Institut: Zum HIV-Übertragungsrisiko unter antiretroviraler Therapie, www.hiv-fortbildung.net/.../hivuebertragungsrisikohaart/index.html [Stand: 02.05.2011]
  20. Rosenbrock R., Entwicklungskonzept für die Prävention von HIV/AIDS, sexuell übertragbare Infektionen und Hepatitiden in Berlin, Oktober 2010, S. 8, www.berlin.de/imperia/.../rosenbrock_entwicklungskonzept_komlett.pdf [02.05.2010]
  21. Breitbart E. W. et al., Ziele und Ergebnisse der Hautkrebskampagne, DÄ (1992); 89: A2 1199-A2 2000
  22. www.fgoe.org/projektfoerderung/.../FgoeProject_228668 [Stand: 17.05.2011]
  23. Lau M. et al., Obst mal 5 – Evaluationsbericht (2004)
  24. www.bzga.de/botpresse_159.html [Stand: 02.05.2011]
  25. BZgA: Der Tabakkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland 2010, Februar 2011, www.berlin-suchtpraevention.de/.../Tabakkonsum_Jugendlicher_2010.pdf [Stand: 02.05.2011]
  26. siehe Ref. 25, S. 29
  27. www.rauchfrei.de/tabaksteuer.htm [Stand: 17.05.2011]
  28. Kirschner W., HIV-Surveillance. Inhaltliche und methodische Probleme der Bestimmung der Ausbreitung von HIV-Infektionen, edition sigma, Berlin (1993)
  29. Kirschner W. et al., Sentinel-Surveillance von HIV und anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. Ergebnisse der ANOMO-Studie 1988 bis 1994, Schriftenreihe des Bundesministeriums für Gesundheit, Band 63, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden (1996)
  30. Kirschner W. et al., Umfang und Struktur von i. v. Drogenabhängigen in Deutschland (1995). Anonymes Monitoring in den Praxen niedergelassener Ärzte, Reihe „Empirie der Gesundheitswissenschaften“, Band 1. Profil Verlag, München, Wien (1997)
  31. Kirschner W., Kunert M., Nagel M., Huber T., Episentinel – sozialstatistische Kreistypologien in Deutschland als statistische Grundlage epidemiologischer Surveillancemethoden, Reihe „Empirie der Gesundheitswissenschaften,“ Band 2, Profil Verlag, München/ Wien (1997)

Anschrift des Autors:

Dr. Wolf Kirschner
Forschung Beratung + Evaluation (FB+E GmbH)
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