Anthropologische Grundlagen der Medizin

Imago Hominis (2013); 20(3): 173-184
Axel W. Bauer

Zusammenfassung

Gesundheit und Krankheit sind als konträre normative Tatsachen aufzufassen, wobei Krankheit drei Kriterien erfüllt: 1. Sie wird von dem betroffenen Menschen oder von dessen sozialem Umfeld als störend empfunden. 2. Als ihr Austragungsort wird der Körper des betroffenen Menschen angesehen. 3. Wenn eine Behandlung des erkrankten Menschen durch einen medizinischen Experten erwogen wird, so wird der Kranke zum Patienten. Gesundheit und Krankheit unterliegen dem historischen Wandel. Der Ausdruck „medizinische Anthropologie“ wurde erst im 16. Jahrhundert zum Titel einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin. Seither kommentiert die medizinische Anthropologie die Entwicklung der Medizin entweder affirmativ, kompensatorisch oder integrativ. Am Beginn des 21. Jahrhunderts favorisiert die Biomedizin sowohl die prädiktive Medizin als auch das biologische Enhancement. Der Patient der Gegenwart erscheint nur noch als Gegenstand ökonomischer Berechenbarkeit, als Homo oeconomicus, dessen Menschenwürde auf dem Spiel steht.

Schlüsselwörter: Medizinische Anthropologie, Gesundheit, Krankheit, prädiktive Medizin, Menschenwürde

Abstract

Health and illness should be described as contrary normative facts. Illness meets three criteria: 1. It is perceived as a nuisance by a person and/or their social environment. 2. It seems to be localized in the body of an affected person. 3. If a treatment of the affected person (which may be performed by a medical expert) is considered to be necessary, the person will take over the role of a patient. Health and Illness are subject to historical change. It was not until the 16th century AD when medical anthropology started as a discipline of its own. Since then, medical anthropology comments the development of medicine either in an affirmative, a compensatory or an integrative way. At the beginning of 21st century, biomedicine includes predictive medicine as well as physical enhancement. The patient within the medical system seems to be a subject of economic calculability, a Homo economicus whose human dignity is at stake.

Keywords: Medical Anthropology, Health, Illness, Predictive Medicine, Human Dignity


1. Gesundheit und Krankheit als normative Pole menschlichen Befindens

Noch nie wurde so viel Geld für das so genannte „höchste Gut“ Gesundheit eingesetzt wie heute. Im Jahre 2012 gab die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) in Deutschland 184,5 Milliarden Euro aus.1 Angesichts eines Bruttoinlandsprodukts von 2,645 Billionen Euro entsprach diese Summe wie schon in den Vorjahren annähernd 7 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung.2 Der Gesundheitsmarkt boomt, er ist eine „Wachstumsbranche“ geworden. Gesundheit ist in aller Munde. Auf Geburtstagskarten wird die Gesundheit fast schon stereotyp thematisiert, doch mit steigendem Lebensalter werden die entsprechenden Wünsche illusionär. So propagiert etwa der aus den Medien bekannte Arzt und Buchautor Dietrich Grönemeyer (*1952) seit Jahren immer wieder den Merksatz Turne bis zur Urne!, wenn es um das Thema „Fitness im Alter“ geht.3

Begriff, Definition und Verständnis von Gesundheit sind strittig. In erster Linie wird zwar die Medizin als diejenige Disziplin angesehen, die sich mit der Gesundheit auskennen sollte. In Wirklichkeit ist die Medizin aber vollauf mit der Erkennung und Behandlung von Krankheiten beschäftigt. Da Gesundheit und Krankheit als einander kontradiktorisch, wenn nicht sogar konträr gegenüber stehende Begriffe4 aufgefasst werden, kann ein Blick auf den Krankheitsbegriff Informationen über den Gesundheitsbegriff zu Tage fördern.5

Gängige Definitionen von Krankheit zeichnen sich durch intellektuelle Schlichtheit aus, die nicht selten auf logischen Zirkelschlüssen beruht. So wird Krankheit abstrakt als Störung der Lebensvorgänge in Organen oder im gesamten Organismus mit der Folge von subjektiv empfundenen bzw. objektiv feststellbaren körperlichen, geistigen beziehungsweise seelischen Veränderungen beschrieben, ohne dass die ebenfalls erklärungsbedürftigen Ausdrücke Störung und Veränderung ihrerseits definiert würden. Auch die in der Rechtsprechung des deutschen Bundessozialgerichts entwickelte Formel, wonach Krankheit ein „Zustand von Regelwidrigkeit im Ablauf der Lebensvorgänge“ ist, der Krankenpflege und Therapie erfordert und aus dem eine „berufsspezifische erhebliche Arbeits- beziehungsweise Erwerbsunfähigkeit“ resultiert, mag in der juristischen Praxis zwar von Nutzen sein. Sie erliegt aber ebenso der logischen Zirkularität, da sie den gleichermaßen unklaren normativen Begriff der Regelwidrigkeit zur Definition der Krankheit benutzt.6

Der allgemeine Krankheitsbegriff, der eine generelle Unterscheidung zwischen Krankheit und Gesundheit ermöglichen sollte, ist in der Wissenschaftstheorie der Medizin bis heute heftig umstritten. Eine besonders kontrovers diskutierte Frage kreist um folgendes Problem: Ist der allgemeine Krankheitsbegriff kulturrelativ und insoweit historisch bedingt, oder beruht er auf bestimmten physikalischen Prozessen, die unabhängig von einem geschichtlichen Perspektivenwechsel stets als krankhaft bezeichnet werden müssen?

Die Vermutung, dass bei der Beschreibung von Krankheit(en) nicht die bloße Feststellung zeit-unabhängiger physikalischer Tatsachen, sondern vielmehr die Erzeugung und Aushandlung historisch gewachsener sozialer Tatsachen vor sich geht, ist durch eine Fülle an medizinhistorischer Evidenz empirisch belegt. Diese sozialen Tatsachen repräsentieren zwar keine objektiven materiellen Realitäten der Außenwelt, sie sind aber auch nicht bloß subjektive Empfindungen einzelner Individuen. Soziale Tatsachen müssen vielmehr als von Menschen geschaffene Institutionen angesehen werden, die innerhalb einer Kultur- und Sprachgemeinschaft nach bestimmten Regeln intersubjektiv konstituiert, stabilisiert und modifiziert werden. Diese Regeln folgen der Struktur A gilt als B im Kontext der Sprachgemeinschaft C. Soziale Tatsachen sind also auf eine bestimmte Art und Weise interpretierte Tatsachen der physikalischen Welt. In ihnen gehen Lebenswelt und Sprachwelt eine konkrete, wertbezogene Verbindung ein, die indessen flexibel und historisch labil ist.

Eine bestimmte Konstellation von körperlichen beziehungsweise seelischen Anzeichen (Symptomen) gilt demnach als krankhaft im Kontext einer zeitlich und räumlich zu definierenden sozialen Gemeinschaft. Die negative Normativität („Etwas ist oder verhält sich nicht so, wie es sein oder sich verhalten sollte“) repräsentiert den gemeinsamen Nenner des allgemeinen Krankheitsbegriffs. Die Beobachtung, dass bestimmte körperliche, seelische oder soziale Phänomene über einen historisch gesehen sehr langen Zeitraum hinweg kontinuierlich als krankhaft gegolten haben oder noch immer als krankhaft gelten, ändert nichts daran, dass die Verknüpfung der entsprechenden Phänomene mit dem Etikett krankhaft eine prinzipiell labile beziehungsweise jederzeit revidierbare Verbindung zwischen Lebenswelt und Sprachwelt darstellt.

Was der Philosoph Richard M. Hare (1919 – 2002) schon 1952 über die Sprache der Moral geschrieben hat, gilt für die Sprache der Krankheit nicht minder: Krankheitsbegriffe können nicht bloß Tatsachenfeststellungen sein, denn wenn sie das wären, würden sie nicht die Funktionen erfüllen, die sie erfüllen, oder sie hätten nicht die logischen Merkmale, die sie haben. Entweder müssen wir das nicht reduzierbar vorschreibende Element im Krankheitsbegriff anerkennen, oder aber wir müssten gestatten, dass ein lediglich als beschreibend aufgefasster Krankheitsbegriff ärztliche Handlungen nicht mehr in der Weise anleiten würde, wie er es nach gewöhnlichem Verständnis offensichtlich tut.7

Die gemeinsame Basis zwischen einer das Leben bedrohenden Krankheit (zum Beispiel einem Magenkrebs) und einer lediglich schmerzhaften beziehungsweise einer die körperlichen Funktionen oder das seelische Erleben störenden Erkrankung (zum Beispiel einem wiederholten Migränekopfschmerz, einer Depression oder einem Oberarmbruch) besteht nicht in einer biologischen Gemeinsamkeit, sondern vielmehr darin, dass alle diese Zustände

  1. die betroffene Person und/oder deren soziales Umfeld stören,
  2. als im Körper der betroffenen Personen lokalisiert angesehen werden,
  3. als einer Behandlung bedürftig gelten.

Sucht der gemäß den Kriterien (1) und (2) Kranke tatsächlich einen Arzt oder eine andere von ihm als heilkundig betrachtete Person auf, so wird aus ihm gemäß Kriterium (3) ein Patient. Nur der Mensch, nicht die „Natur“ hat einen – anthropologisch zweifellos sinnvollen – Krankheitsbegriff entwickelt. In der „Natur“ laufen lediglich physikalische und biologische Prozesse ab; ob die betroffenen Menschen jene Abläufe angenehm finden oder sich vor ihnen fürchten, ist kein Aspekt der Physik und der Biologie. Der Ausdruck Krankheit bezeichnet insofern ein kulturelles Konstrukt, aber keine naturwissenschaftliche Konstante.

Die Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) definierte 1946 die Gesundheit in ihrer Präambel wie folgt: „Die Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“.8 Aus unseren bisherigen Überlegungen zum Krankheitsbegriff folgt, dass es sich auch bei der Gesundheit um ein wertbezogenes Konstrukt und damit um eine historisch variable soziale Tatsache handelt. Wie die WHO-Definition zudem nahelegt, verhält sich Gesundheit konträr zur Krankheit. Gesundheit und Krankheit werden als einander nicht berührende Extreme definiert, zwischen denen sich ein mehr oder minder breites „Niemandsland“ erstreckt. Es ist interessant zu beobachten, dass bereits die Medizin der Antike eben dieses „Niemandsland“ kannte und es als Neutralitas bezeichnet hat.

2. Gesundheit als Individualnorm in der Vier-Säfte-Lehre der Antike

Gemäß der traditionellen medizinischen Vier-Säfte-Lehre (Humoralpathologie) oblag es dem Arzt in der griechisch-römischen Antike, gerade den neutralen Zwischenraum (Neutralitas) zwischen Krankheit (Aegritudo) und Gesundheit (Sanitas) durch die diätetische Regelung der Lebensführung (Perfectio vitae) zu erhalten. Die Neutralitas repräsentierte dabei jenes „Niemandsland“ (ne-utrum), innerhalb dessen sich der normale Lebensalltag des Menschen in aller Regel abspielte.

Häufig lässt man medizinhistorische Darstellungen mit Hippokrates (460 – 377 v. Chr.) beginnen, dem berühmten, meist aber ungenau zitierten und fehlerhaft interpretierten „Ahnherrn“ der griechischen Heilkunde und der abendländischen Medizin.9 Der auf der Insel Kos in der östlichen Ägäis geborene Hippokrates lebte in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vor Christus, und er war ein sehr bekannter Arzt, der sogar in den Dialogen Platons (427 – 347 v. Chr.) als medizinische Autorität genannt wird. Doch vermutlich sind höchstens drei der rund siebzig Bücher der Schriftensammlung Corpus Hippocraticum von ihm selbst verfasst worden. Die übrigen Texte, darunter auch der Hippokratische Eid, stammen von Autoren aus dem Schülerkreis des Hippokrates. Es finden sich sogar Bücher darunter, die gar nicht von Ärzten, sondern von Philosophen oder Rednern geschrieben worden sind. Der größte Teil der hippokratischen Abhandlungen entstand zwischen etwa 430 und 350 vor Christus.10

Die Schriften spiegeln den Geist eines naturalistischen Denkens wider. Nach der Lehre des vorsokratischen Philosophen Empedokles von Agrigent (490 – 430 v. Chr.) bestand der gesamte Kosmos aus vier Elementen, nämlich Luft, Feuer, Erde und Wasser. Um die Wende vom 5. zum 4. Jahrhundert wurde diese physikalische Kosmologie in eine engere Korrespondenz zur Physiologie des Menschen gesetzt, als ein hippokratischer Autor in der Schrift über die Natur des Menschen erstmals behauptete, dass der menschliche Körper aus einer Mischung von vier den Elementen der Physik analogen Säften bestehe, und zwar aus Blut, gelber Galle, schwarzer Galle und Schleim.11 Das war die Geburtsstunde der Vier-Säfte-Lehre, die bis ins 17. Jahrhundert das wissenschaftliche Rückgrat der Medizin des Abendlandes bildete.

Die hippokratischen Ärzte machten die individuelle Konstellation der vier Körpersäfte für Gesundheit und Krankheit des Menschen verantwortlich. Dabei kam es ihnen nicht auf eine quantitativ homogene Mischung (temperamentum) an, vielmehr schwankte das jeweilige Temperament um einen individualtypischen Wert, der unter anderem geschlechts-, alters- und jahreszeitenabhängig war. Man könnte in diesem Sinne sagen: Jeder Mensch hat seine eigene Ausprägung der Gesundheit. Krank wird er dann, wenn er von dieser, ihm gewohnten Lage abweicht.

Hippokrates war vor allem ein exakter Beobachter der körperlichen Phänomene. Um das subjektive Krankheitserleben seiner Patienten kümmerte er sich nur dann, wenn ihr Verhalten Aufschluss über die Art der Erkrankung oder über deren Prognose liefern konnte. Sachlich und emotionslos schilderte er um 410 v. Chr. etwa den Fall eines Patienten, der vermutlich an Blutvergiftung litt (Epidemien I, Krankengeschichte I): „Kriton auf Thasos bekam, während er herumlief, starken Schmerz im Fuß, der von der großen Zehe ausging. Am gleichen Tag legte er sich nieder, bekam Kälteschauer und Übelkeit, dann wurde ihm wieder etwas wärmer, zur Nacht delirierte er. Am zweiten Tag bekam er eine rötliche Schwellung mit Spannung am ganzen Fuß und am Knöchel, schwarze Bläschen, heftiges Fieber, Raserei; etwas ungemischter, galliger Stuhl ging ab. Am zweiten Tag nach Ausbruch der Krankheit starb er“.12

Die professionelle Aufmerksamkeit des hippokratischen Arztes richtete sich auf die Wiederherstellung der physiologischen Funktion – oder aber auf die Erkenntnis einer schlechten Prognose. Die medizinische Theorie der Hippokratiker hatte eine Vorliebe für mechanische Wirkungszusammenhänge. Selbst die Epilepsie, ein Leiden mit psychischen Symptomen, wurde als Folge übermäßiger Schleimproduktion im Gehirn bei gleichzeitiger Verstopfung des Schleimabflusses interpretiert.13 Die Sicht der hippokratischen Ärzte auf den Menschen war ein sachlicher Blick von außen, wobei der Körper des Patienten als eine unerschöpfliche Quelle von Zeichen betrachtet wurde, deren Informationsgehalt es rasch und professionell zu entschlüsseln galt. Die subjektive Erlebniswelt ihrer Patienten hingegen blieb diesen Ärzten fremd, oder sagen wir es medizinhistorisch zurückhaltender: Man findet jedenfalls in den uns überlieferten Texten nichts über Motive, Gefühle oder Lebensziele der Kranken.

3. Das Menschenbild der Medizin um 1700 zwischen Physikalismus und Vitalismus

Die wissenschaftliche Krise der Vier-Säfte-Lehre, die auch während des Mittelalters im christlichen Abendland gültig geblieben war, begann im Zeitalter des Barock. Das 17. Jahrhundert war eine Periode des Umbruchs in der Medizin und den Naturwissenschaften. Die Heilkunde fing an, sich aus dem dogmatisch erstarrenden, traditionellen System wie aus einem nicht mehr passenden Korsett zu befreien. Dabei forderte eine neue, mechanistische Denkweise von Ärzten, die den menschlichen Körper als eine physikochemische Apparatur betrachteten, mehr und mehr Beachtung. Die von dem französischen Philosophen René Descartes (1596 – 1650) zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges formulierte Trennung des Leibes in Res extensa (Körper) und Res cogitans (Seele) wirkte auch auf die Medizin ein, die ihr Interesse jetzt auf die Erforschung der nach physikalischen Gesetzen arbeitenden Körper-Maschinerie konzentrierte. Ein wichtiger Schritt war die 1628 publizierte Beschreibung des Blutkreislaufs durch den englischen Arzt William Harvey (1578 – 1657). Bereits 1626 hatte der italienische Forscher Santorio Santorio (1561 – 1636) Fieber mit einem Thermometer gemessen, und in den 1660er Jahren stellte der in den Niederlanden wirkende, ursprünglich aus Hanau stammende Arzt Franz de le Boë (1614 – 1672), der sich auf Lateinisch Franciscus Sylvius nannte, eine chemische Theorie der Verdauung auf.14

Schon bald aber trat Ernüchterung ein, denn das Versagen des neuen Menschenbildes in der ärztlichen Therapie wurde nach kurzer Zeit deutlich. Am Ende des 17. Jahrhunderts entstand zudem in Deutschland eine von Pietisten initiierte, radikale Strömung gegen alles, was wie wissenschaftliche Autorität anmutete. Diese theologische Bewegung, die an der 1695 gegründeten Universität in Halle an der Saale ihr Zentrum fand, richtete ihre Angriffe zugleich gegen die herrschende Theologie und Medizin, wobei der aus Ansbach stammende Professor Georg Ernst Stahl (1659 – 1734) der führende Aktivist im Bereich der Heilkunde war. Seine Reform der Medizin leitete sich von einem auf subjektive Erfahrung gegründeten Wahrheitsanspruch ab; diese nicht extern evaluierbare Erfahrung war für Stahl die entscheidende Methode, um „wahre“ Erkenntnisse zu ermitteln.15

Es gibt nur wenige konsequent durchdachte Systeme, in denen die menschliche Seele zur maßgeblichen Ursache von Gesundheit und Krankheit erhoben wurde. Georg Ernst Stahl hat sich diesem Wagnis bereits in seiner Dissertation von 1684, vornehmlich aber in seinem 1708 in Halle publizierten Hauptwerk Theoria medica vera unterzogen. Der Körper war nach Stahls Auffassung kein bloßer Mechanismus, die Materie sei in ihrer Lebendigkeit vielmehr ein organisches Ganzes. Geist und Materie lebten in ihrer Vereinigung, und dies bedeute Wahrnehmung, Gefühl und Erkenntnis in der körperlichen und seelischen Einheit des Subjekts.16 Der Körper werde von der Seele (Anima) dirigiert und geleitet. Alle leiblichen Vorgänge würden von der Seele gesteuert, die den Körper bis ins letzte Detail kenne und beherrsche. Der Arzt brauche daher keine anatomischen oder physiologischen Details zu studieren, sondern könne sich mit der reinen Erfahrung begnügen.

Stahl ging von der Selbstheilungsfähigkeit des Körpers aus. Der Arzt solle mit der nötigen Vorsicht als Mitarbeiter der Natur die Heilwege von Hindernissen befreien. Dramatische Eingriffe in den natürlichen Heilungsprozess waren also nicht zu erwarten. Vielmehr vertrat Stahl eine schonende und abwartende Behandlungsweise. Eine wichtige Rolle spielten dabei hygienische Maßnahmen, aber auch Aderlass und Schröpfen wurden empfohlen, um Blutüberschuss oder Verunreinigungen der Körpersäfte beseitigen zu können. Diese Anknüpfung an die hippokratischen Schriften verband sich mit Stahls Pietismus zu einer eigentümlichen Mischung: In der pietistischen Vertiefung, in der Erlangung der besonderen Gnade Gottes erwerbe der Arzt den richtigen, sicheren, intuitiven Blick und könne nicht mehr irren. Deswegen bezeichne die Theoria medica vera die Vollendung der Heilkunst, denn es bleibe dem Arzt nur noch, die Theorie zu interpretieren und anzuwenden. Die Gesundheits- und Krankheitslehre des Arztes und Theologen aus Halle war kein Ergebnis naturalistischer Empirie, sondern das Resultat religiöser Überlegungen, in denen eine den Körper harmonisch ordnende, von göttlicher Inspiration geleitete Seele die zentrale Rolle spielte.17

4. Die „Lebenskraft“ und die Homöopathie im frühen 19. Jahrhundert

Noch im Jahre 1810 dachte der Schöpfer der Lehre von der Homöopathie, der Arzt Samuel Hahnemann (1755 – 1843), in den Kategorien Stahls, als er die auch für sein Heilverfahren zentrale Lebenskraft postulierte: In seinem Organon der Heilkunst schrieb er: „Im gesunden Zustand des Menschen waltet die geistartige, […] den materiellen Organismus belebende Lebenskraft unumschränkt. In bewundernswürdig harmonischem Lebensgang hält sie alle seine Teile, seine Gefühle und Tätigkeiten aufrecht, so dass der in uns wohnende vernünftige Geist sich dieses lebendigen und gesunden Werkzeugs frei zum höheren Zwecke unseres Daseins bedienen kann. […] Nur das immaterielle, den materiellen Organismus im gesunden und kranken Zustand belebende Lebensprinzip, die Lebenskraft, verleiht ihm alle seine Empfindung und bewirkt seine Lebensverrichtungen“.18

Was machte die Homöopathie schon nach kurzer Zeit trotz heftigster Kritik von Seiten der Hochschulmediziner für ein großes Publikum attraktiv? Samuel Hahnemann hatte 1796 einen Aufsatz mit dem Titel Versuch über ein neues Princip zur Auffindung der Heilkräfte der Arzneisubstanzen, nebst einigen Blicken auf die bisherigen publiziert. Aus seinem bis heute umstrittenen Selbstversuch19 mit Chinarinde, den er bereits 1790 unternommen hatte, zog Hahnemann in dieser Abhandlung sehr weit reichende spekulative Schlüsse: „Jedes wirksame Arzneimittel erregt im menschlichen Körper eine Art von eigner Krankheit. Man [...] wende in der zu heilenden (vorzüglich chronischen Krankheit) dasjenige Arzneimittel an, welches eine andere, möglichst ähnliche künstliche Krankheit zu erregen imstande ist und jene wird geheilet werden; Similia similibus“.20

In seinem 1810 erschienenen Organon der Heilkunst führte Hahnemann diesen Gedanken, den er jetzt bereits als „Naturheilgesetz“ bezeichnete, noch präziser aus, wobei er sich auf die angeblich „reine Erfahrung“ als Beweismittel berief: „Nun lehrt aber das einzige und untrügliche Orakel der Heilkunst, die reine Erfahrung, in allen sorgfältigen Versuchen, dass wirklich diejenige Arznei, welche in ihrer Einwirkung auf gesunde menschliche Körper die meisten Symptome in Aehnlichkeit erzeugen zu können bewiesen hat, welche an dem zu heilenden Krankheitsfalle zu finden sind, in gehörig potenzirten und verkleinerten Gaben auch die Gesammtheit der Symptome dieses Krankheitszustandes, das ist [...], die ganze gegenwärtige Krankheit schnell, gründlich und dauerhaft aufhebe und in Gesundheit verwandle, und dass alle Arzneien die ihnen an ähnlichen Symptomen möglichst nahe kommenden Krankheiten, ohne Ausnahme heilen und keine derselben ungeheilt lassen“.21

Die nach seiner Interpretation „vorurtheilslose“ Erfahrung war es, die Hahnemann in der Folge seines Selbstversuchs mit der Chinarinde im Jahre 1790 zur Aufstellung des Simile-Prinzips führte. Er glaubte eine Ähnlichkeit zwischen den durch die Malaria und den durch das Heilmittel ausgelösten Symptomen erfahren zu haben. Ob diese Ähnlichkeit in der Realität tatsächlich gegeben war oder ob sie nur in Hahnemanns Fantasie existierte, kann hier außer Betracht bleiben. Entscheidend ist, dass er die Übereinstimmung für ausreichend hielt, um spekulativ weitere Gedanken daran zu knüpfen. Seine wichtigste Idee betraf den Zusammenhang der Ähnlichkeit von Drogen- und Krankheitssymptomatik mit der Sicherheit des Heilerfolges. Hahnemann gelangte durch subjektive Erfahrung zu der Überzeugung, dass ein Arzneifieber generell ein Krankheitsfieber dann optimal heile, wenn eine Symptomähnlichkeit vorlag.

Hahnemanns Heilsystem hat bis in die Gegenwart trotz seiner mangelhaften wissenschaftlichen Plausibilität und seiner nicht bewiesenen Wirksamkeit die Herzen zahlloser Patientinnen und Patienten erobert und damit die Sehnsucht vieler Menschen nach einfachen Erklärungen für komplexe Zusammenhänge deutlich werden lassen. Dies bleibt ein beachtenswerter Punkt auch für alle modernen Theorien über das Menschenbild in der Medizin: Wesentlich für die Akzeptanz eines wissenschaftlichen Konzepts ist immer auch die Frage, ob es den Wünschen und den durch die Medien vermittelten Vorlieben des Publikums entgegen kommt, oder ob es dem Zeitgeist zuwider läuft und dann kaum Chancen auf Popularität hat.

5. Der Mensch als Objekt der angewandten Physik

Um 1850 kam es zu einem Umbruch in der medizinischen Wissenschaft: Spekulationen über die Existenz der Lebenskraft waren jetzt nicht mehr gefragt. Die neuen Leitwissenschaften der Medizin wurden Physiologie und Pathologische Anatomie, zwei Fächer, deren Protagonisten sich dem physikalischen Denken verpflichtet sahen. So schrieb 1848 der Berliner Physiologe Emil Du Bois-Reymond (1818 – 1896):

„[Es] erscheint die Lehre von der Lebenskraft […] als ein solches Gewebe der willkürlichsten Behauptungen, sie häuft auf ein Phantasiegebilde solche Summe unmöglicher Attribute und undenkbarer Tätigkeiten, dass es schwer hält, sie ernst zu nehmen, und in ihrer offenkundigen Abgeschmacktheit nicht einfach mit dem verdienten Spotte zu begegnen. […] Vor unserem Denken, das vor keiner Folgerung zurückscheut, löst sich das Weltganze daher auf in bewegte Materie, deren Wesen zu begreifen wir nicht für möglich halten. Nicht die Ursachen der Bewegungen, ihre Gesetze zu erkennen, erscheint uns als wahre Aufgabe unseres Strebens.“22

Damals begann die Ära des materialistischen Reduktionismus, durch den die Medizin zu einer angewandten Naturwissenschaft wurde. Das menschliche Leben ist nach dieser Theorie ausschließlich den Gesetzen der Physik unterworfen. Natürliche Prozesse verlaufen gemäß dieser Vorstellung nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung in einer regelhaften Weise, die mit Hilfe von Naturgesetzen mathematisch beschrieben wird. Alle Vorgänge müssen im Experiment überprüft werden können.23 Der 28-jährige Berliner Pathologe Rudolf Virchow (1821 – 1902) schrieb 1849: „Die naturwissenschaftliche Frage ist die logische Hypothese, welche von einem bekannten Gesetz durch Analogie und Induction weiterschreitet; die Antwort darauf giebt das Experiment, welches in der Frage […] vorgeschrieben liegt“.24

Die naturwissenschaftliche Methode war und ist dort besonders erfolgreich, wo es solche physiologischen oder pathologischen Prozesse aufzudecken gilt, denen physikalisch-chemische Gesetzmäßigkeiten zu Grunde liegen. Sobald jedoch prinzipiell nicht wiederholbare, singuläre Vorgänge ins Spiel kommen, tauchen erhebliche Schwierigkeiten bei der wissenschaftlichen Analyse auf, die sich mithilfe allgemeiner Naturgesetze praktisch nicht lösen lassen. Solche historischen, insbesondere biographischen Ereignisketten aber gibt es im menschlichen Leben in großer Zahl.

6. Psychoanalyse und Psychosomatik als Disziplinen medizinischer Anthropologie

Die Krise der naturwissenschaftlichen Medizin wurde um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mehr und mehr empfunden und kam in wissenschaftlichen Abhandlungen zum Ausdruck. So diskutierte man damals die Frage nach der korrekten Gewichtung von Kausalität und Konditionalität, also von Ursachen und Bedingungen.25 Überwiegend blieben diese Debatten jedoch innerhalb des von der mechanistischen Theorie vorgegebenen Rahmens. So kam noch 1898 der damalige Leiter der Medizinischen Poliklinik in Jena, Ludolf Krehl (1861 – 1937), zu dem Schluss, die Beurteilung des Krankheitszustandes habe sich an den Methoden und Grundsätzen der Biologie zu orientieren, „und diese sind ja […] keine anderen als die der exacten Naturwissenschaft; auf deren Boden müssen wir fest stehen“.26 Doch bereits 1906 gab Krehl, mittlerweile Direktor der Medizinischen Klinik in Straßburg, zu bedenken: „Die pathologischen Symptome äussern sich am kranken Menschen als Individuum und durch die Art seiner Persönlichkeit außerordentlich verschieden“.27

Was hier nur angedeutet wurde, beschrieb ein Wiener Arzt um dieselbe Zeit sehr viel präziser. Auch er hatte seine Laufbahn im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in der naturwissenschaftlichen Hochschulmedizin begonnen, nämlich in der Nervenheilkunde. Und auch als Sigmund Freud (1856 – 1939) schon längst durch die Ausarbeitung der Psychoanalyse bekannt geworden war, konnte er nicht verleugnen, dass er nach wie vor in den soliden Bahnen des mechanistischen Menschenbildes zu denken vermochte, das er als Student in sich aufgenommen hatte. In einer Vorlesung warnte Freud 1915 die Medizinstudenten gleichwohl vor einer Unterschätzung psychologischer Aspekte in der Arzt-Patient-Beziehung, wie sie die traditionelle Ausbildung mit sich brachte:

„Sie sind darin geschult worden, die Funktionen des Organismus und ihre Störungen anatomisch zu begründen, chemisch und physikalisch zu erklären und biologisch zu erfassen, aber kein Anteil Ihres Interesses ist auf das psychische Leben gelenkt worden, in dem doch die Leistung dieses wunderbar komplizierten Organismus gipfelt. Darum ist Ihnen eine psychologische Denkweise fremd geblieben, und Sie haben sich daran gewöhnt, eine solche misstrauisch zu betrachten, ihr den Charakter der Wissenschaftlichkeit abzusprechen und sie den Laien, Dichtern, Naturphilosophen und Mystikern zu überlassen. Diese Einschränkung ist gewiss ein Schaden für Ihre ärztliche Tätigkeit, denn der Kranke wird Ihnen, wie es bei allen menschlichen Beziehungen die Regel ist, zunächst seine seelische Fassade entgegenbringen, und ich fürchte, Sie werden zur Strafe genötigt sein, einen Anteil des therapeutischen Einflusses, den Sie anstreben, den von Ihnen so verachteten Laienärzten, Naturheilkünstlern und Mystikern zu überlassen“.28

Diese wissenschaftliche Leerstelle sollte nun die Psychoanalyse ausfüllen; sie hoffte den gemeinsamen Boden aufzudecken, von dem aus das Zusammentreffen körperlicher und seelischer Störung verständlich werde. Für Freud stand jedoch außer Zweifel, dass dieses ehrgeizige Ziel nur durch eine strikte methodologische Begrenzung zu erreichen war: Die Psychoanalyse müsse sich von jeder ihr fremden Voraussetzung anatomischer, chemischer oder physiologischer Natur frei halten und mit rein psychologischen Mitteln arbeiten.

Ein halbes Jahrhundert später, nämlich 1966, beschrieb der Psychosomatiker, Psychoanalytiker und Sozialpsychologe Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) das daraus resultierende Dilemma von biologischer und psychologischer Ursachenforschung so: „Geforscht wird unter [der] naturwissenschaftlichen Prämisse quantitativ, das heißt, es wird gemessen. Erlebt werden aber von uns Qualitäten. Es ist deutlich, dass hier zwei Phänomene vorliegen, die man gar nicht auseinander hervorgehen lassen kann; wir können nur die Voraussetzungen, die Konditionen zu ermitteln versuchen, unter denen das eine Moment dem anderen die fortschreitende Verwirklichung gestattet. [...] Im Alltag bleibt Seelisches von Leiblichem getrennt“.29

7. Der Mensch der Gegenwart im Griff neuronaler Netzwerke, prädiktiver Medizin und iatrogenen Enhancements

Seit diesen methodologischen Überlegungen von Alexander Mitscherlich sind wiederum rund fünf Jahrzehnte vergangen. In jüngerer Zeit wird eher aufgrund neurophysiologischer Experimente postuliert, dass das Gehirn mit seinen neuronalen Netzwerken die Gesundheit des übrigen Körpers beeinflusse, so die Immunabwehr, aber auch die Funktionen von Herz, Kreislauf, Atmung und Verdauung. Auslöser psychosomatischer Erkrankungen könnten demnach biographische Traumata sein, durch welche die Verbindungsstärken innerhalb der neuronalen Netzwerke längerfristig verändert würden. Damit läge ein Modell für die Speicherung von Erfahrungsinhalten und für die Bereitschaft des Menschen vor, entsprechend diesen Erfahrungen zu reagieren. Bewusstsein und Intentionalität gelten aus dieser Perspektive als verbindende Eigenschaften zwischen Biologie und Kultur.30

Durch Beobachten, durch Messen und Zählen, durch graphische Aufzeichnungen und durch visualisierbare Befunde sowie schließlich durch eine ganze Palette von statistisch ermittelten Normwerten sind Gesundheit und Krankheit heute zu quantifizierbaren Phänomenen geworden. Sie scheinen nicht mehr durch wertbezogene Hintergrundkonzepte definiert zu werden, sondern durch „objektive“ Fakten: Wer einen Blutdruck von 145/95 mm Hg hat, gilt im Jahre 2013 nicht mehr als gesund, wer einen Nüchternblutzucker von mehr als 126 mg/dl aufweist, erhält die Diagnose Diabetes mellitus, und wessen Serum-Cholesterinwert 290 mg/dl beträgt, dem prognostiziert der Arzt einen zukünftigen Schlaganfall. Gesundheit und Krankheit sind der Bestimmung durch den Betroffenen entzogen und geraten in die alleinige Verfügbarkeit medizinischer Experten, die je nach den erhobenen Befunden ein subjektunabhängiges Urteil darüber fällen, in welche der beiden disjunktiv gedachten Kategorien der betroffene Mensch einzuordnen sei.

Mithilfe der technischen Analyseverfahren der Labormedizin und neuerdings auch der Humangenetik ist es nicht mehr nur möglich, Gesundheit und Krankheit quantitativ gegen einander abzugrenzen, sondern man kann sogar Menschen, die subjektiv und physiologisch vollkommen unbeeinträchtigt leben, auf eine neuartige Weise als krankheitsgefährdet und damit als zumindest nicht mehr ganz gesund markieren. Was in den 1960er Jahren mit dem internistischen Konzept der „Risikofaktoren“ wie Blutdruck-, Blutzucker-, Cholesterin- oder Harnsäurewerten begann, heißt heute „genetische Krankheitsdisposition“. Der Versuch, Gesundheit und Krankheit an der linearen Abfolge der DNA fest zu machen, hat einen neuen Zweig der ärztlichen Prognostik hervor gebracht, der in den kommenden Jahren zu voller Wirksamkeit gelangen wird: die prädiktive Medizin, die unser zukünftiges Krankheitsschicksal in Form eines individuellen statistischen Risikoprofils angibt.31

Die Medizin der nahen Zukunft wird sich nicht mehr nur mit denjenigen Menschen beschäftigen, die als Patienten – also als Leidende – zum Arzt kommen, sondern auch mit jenen potenziell Kranken, deren Genom eine oder mehrere Krankheits-Anlagen enthält. Im Sinne der prädiktiven Medizin dürfte es bald keinen Bürger mehr geben, der noch als gesund wird gelten können. Dabei bemächtigt sich die prädiktive Medizin aber nicht nur der Erwachsenen und der Kinder, und sie liefert nicht nur Informationen über solche Menschen, die freiwillig zum Arzt gehen. Vielmehr können genetische Variationen oder Defekte auch schon bei Embryonen und Feten entdeckt werden, was nicht selten deren vorzeitigen Tod zur Folge hat: In Form der seit den 1970er Jahren praktizierten Pränataldiagnostik (PND) und neuerdings in Gestalt der ab dem 1. Februar 2014 auch in Deutschland zugelassenen Präimplantationsdiagnostik (PID) hat sich eine Art genetischer „Qualitätskontrolle“ etabliert, die zu einer eugenischen „Selektion von unten“ führen dürfte, das heißt zu einer Bekämpfung von Krankheit durch die medizinisch assistierte Tötung von ungeborenen Kranken, Behinderten, potenziell Kranken oder potenziell Behinderten.32

Das Menschenbild einer Medizin, in der Patienten zu anspruchsvollen Kunden, Ärzte zu eifrigen Dienstleistern und Krankenhäuser zu Profit-Zentern geworden sind, hat sich nachhaltig verändert. Nicht mehr die individuellen Normen der hippokratischen Ärzte und ihrer Patienten sind heute für die Vorstellung einer „perfekten“ Gesundheit maßgebend, sondern die Erreichung eines optimierten Zustandes, der „besser“ sein soll als der jeweils vorgefundene biologische Status. Enhancement heißt hier das aktuelle Schlagwort, das solche medizinischen Interventionen charakterisiert, die jenseits des klassischen Therapiespektrums angesiedelt sind. Dazu gehören chirurgische Eingriffe zur Verwirklichung kultureller oder individueller Schönheitsideale, neuropharmakologische Manipulationen zur Herstellung größerer Leistungsfähigkeit oder höherer Angepasstheit in Schule und Beruf, und vielleicht eben eines Tages gentechnische Interventionen zur Erzeugung bestimmter psychischer oder körperlicher Merkmale, die den Betroffenen näher an ein kulturell vermitteltes Idealbild heranführen.

Bei allem Unbehagen an derartigen Entwicklungen muss uns jedoch klar sein, dass der Gesundheitsbegriff der medizinischen Anthropologie „von Natur aus“ normativ ist, weshalb er im Lauf der Geschichte auf veränderte Wertvorstellungen immer flexibel reagiert und seine jeweiligen konkreten Bedeutungen häufig gewandelt hat. Gesundheit ist eine im historischen Kontext variable soziale Kategorie, die auf gesellschaftliche Einflüsse sehr empfindlich reagiert. Die Gesundheit und ihre aktuelle begriffliche Ausformung geht uns als Bürgerinnen und Bürger daher alle an, denn wir alle sind von dem in unserer Zeit und für unsere Gesellschaft gültigen Begriffsinhalt unmittelbar betroffen. Unsere Gesundheit sollte uns zu wichtig sein, um ihre herrschende Definition allein den Ärzten und dem biomedizinischen Diskurs zu überlassen. Deshalb ist auch die medizinische Anthropologie nicht nur eine Aufgabe für Wissenschaftsphilosophen und Bioethiker, sondern für alle Fachgebiete, die sich mit dem kranken Menschen befassen.

8. Aktuelle Aufgabenfelder der medizinischen Anthropologie

Die einander konträr gegenüber stehenden Begriffe gesund und krank bezeichnen keine natürlichen Eigenschaften des menschlichen Körpers, die von ähnlich schlichter Beschaffenheit und von ähnlich leichter Erkennbarkeit wären wie die Farbeigenschaften blau oder rot. Die Phänomene Gesundheit und Krankheit repräsentieren vielmehr soziale Tatsachen, die erst durch eine jeweils zeitgebundene Zuschreibung entstehen. Die Gesundheit wurde in der Regel als ein Idealzustand beschrieben, der in Gänze nur schwer erreicht werden konnte. Die Medizin der Antike und des Mittelalters eröffnete daher mit der Neutralitas einen weiten Raum zwischen Gesundheit und Krankheit, in dessen Rahmen sich der tatsächliche körperliche und seelische Zustand des Menschen im Alltag bewegte.33

Die naturwissenschaftlich geprägte Medizin agiert nicht gesundheitsorientiert, sondern krankheitsbezogen, wobei die zunehmenden Möglichkeiten der Erkennung genetischer Krankheitsdispositionen dazu führen, dass sich immer mehr Menschen ängstigen und ärztlichen Beistand suchen, obwohl sie (noch) gar nicht von Symptomen betroffen sind. Gleichzeitig wandelt sich die Medizin von einer karitativen sozialen Institution zu einer profitorientierten Wachstumsbranche, die Konsum fördernd und am Kunden orientiert arbeitet. Gesundheitliches Enhancement einschließlich chirurgischer Psychotherapie (etwa im Falle der operativen Behandlung von Transsexualität) soll die Berufs-, Liebes- und Lebenschancen der Menschen verbessern. Körperdesign ist ein Teil der Alltagskultur geworden.

Im Rahmen einer Wirtschaftsordnung, die den „freien Markt“ kritiklos favorisiert, ist es logisch konsequent, dass auch die normativen Konzepte von Gesundheit und Krankheit dem Kräftespiel von Angebot und Nachfrage angepasst werden. Hier stellt sich der medizinischen Anthropologie eigentlich ein reiches Aufgabenfeld für den intellektuellen Diskurs im Streit um ein tragfähiges Bild des Menschen in unserer Zeit. Sie müsste es nur ohne Scheu anpacken.34

Referenzen

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  2. Statistisches Bundesamt, Bruttoinlandsprodukt 2012 für Deutschland, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden (2013), S. 5, www.destatis.de/DE/PresseService/Presse/Pressekonferenzen/2013/BIP2012/Pressebroschuere_BIP2012.pdf (letzter Zugriff am 4.6.2013)
  3. Grönemeyer D., Die Menschen können viele Dinge selbst machen, stern.de (2005), www.stern.de/wissen/gesund_leben/medizin/gespraech-mit-dietrich-groenemeyer-die-menschen-koennen-viele-dinge-selbst-machen-543330.html (letzter Zugriff am 4.6.2013)
  4. Von zwei kontradiktorischen Begriffen trifft stets genau einer auf einen Sachverhalt zu (z. B. schön – nicht schön), während von zwei konträren Begriffen höchstens einer einen Sachverhalt korrekt beschreibt (z. B. schön – hässlich).
  5. Bauer A. W., Gesundheit als normatives Konzept in medizintheoretischer und medizinhistorischer Perspektive, in: Biendarra I., Weeren M. (Hrsg.), Gesundheit – Gesundheiten? Eine Orientierungshilfe, Königshausen & Neumann, Würzburg (2009), S. 31-57
  6. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 257. Auflage, Walter de Gruyter, Berlin, New York (1994), S. 824
  7. Hare R. M., Die Sprache der Moral, Übersetzt von Petra von Morstein, Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main (1983), S. 241. Siehe speziell auch Bauer A. W.,  , Erwägen – Wissen – Ethik (2007); 18(1): 93-95
  8. Die Bundesbehörden der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Verfassung der Weltgesundheitsorganisation. Unterzeichnet in New York am 22. Juli 1946. Ratifikationsurkunde von der Schweiz hinterlegt am 29. März 1947. Von der Bundesversammlung genehmigt am 19. Dezember 1946. Für die Schweiz in Kraft getreten am 7. April 1948. Stand am 25. Juni 2009, www.admin.ch/ch/d/sr/0_810_1/ (letzter Zugriff am 4.6.2013)
  9. Zum Folgenden siehe auch Bauer A. W., Körperbild und Leibverständnis. Die Sicht vom kranken und gesunden Menschen in der Geschichte der Medizin - dargestellt an ausgewählten Beispielen, in: Evangelische Akademie Iserlohn (Hrsg.), Tagungsprotokoll 82-1997: „Kalte Embryonen“ und „Warme Leichen“. Körperverständnis und Leiblichkeit. Christliche Anthropologie und das Menschenbild der Medizin. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn vom 29. bis 31. August 1997, Evangelische Akademie Iserlohn, Iserlohn (1998), S. 21-38, ferner Bauer A. W., Gesunder Leib und kranker Körper. Das sich wandelnde Bild vom Menschen in der Geschichte der Medizin und sein Beitrag zur Philosophie der Biowissenschaften, in: Maio G.; Roelcke V. (Hrsg.), Medizin und Kultur. Ärztliches Denken und Handeln im Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften. Festschrift für Dietrich von Engelhardt, Schattauer, Stuttgart/New York (2001), S. 77-95 sowie Bauer A. W., Das Leben in Gesundheit und Krankheit – Aufgaben und Rätsel für die Medizin, in: Was wissen wir vom Leben? Eine Annäherung aus unterschiedlichen Perspektiven, Evangelische Akademie der Pfalz in Zusammenarbeit mit der Katholischen Akademie Speyer, 26./27. November 2004 in Speyer [= Speyrer Protokolle], Evangelische Akademie der Pfalz, Speyer (2005), S. 1-12
  10. vgl. Diller H., Nachwort, in: Ders. (Hrsg.), Hippokrates: Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (1962), S. 263-272
  11. Diller H. (Hrsg.), Hippokrates: Schriften. Die Anfänge der abendländischen Medizin, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg (1962), S. 165-173
  12. ebd., S. 35
  13. So dargestellt in der Abhandlung Die Heilige Krankheit, vgl. Diller H., siehe Ref. 11, S. 131-149
  14. Bauer A., Georg Franck von Franckenau. Repräsentant einer empirischen Heilkunde im Zeitalter des Barock, in: Doerr W. (Hrsg.), Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Festschrift in sechs Bänden, 1. Mittelalter und frühe Neuzeit (1386-1803), Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg/New York/Tokyo (1985), S. 440-462, hier S. 440-441
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  16. Stahl G. E., De passionibus animi, Halle 1695, in: Gottlieb B. J. (Hrsg.), Georg Ernst Stahl: Über den mannigfaltigen Einfluß von Gemütsbewegungen auf den menschlichen Körper (Halle 1695)/ Über die Bedeutung des synergischen Prinzips für die Heilkunde (Halle 1695) / Über den Unterschied zwischen Organismus und Mechanismus (Halle 1714)/ Überlegungen zum ärztlichen Hausbesuch (Halle 1703), Sudhoffs Klassiker der Medizin, Band 36, J. A. Barth, Leipzig (1961), S. 23-37, hier S. 25
  17. Bauer A., Georg Ernst Stahl, in: Engelhardt D. v.; Hartmann F. (Hrsg.), Klassiker der Medizin, 1: Von Hippokrates bis Hufeland, C. H. Beck, München (1991), S. 190-201 und S. 393-395, hier S. 198-199
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  19. Bayr G., Hahnemanns Selbstversuch mit der Chinarinde im Jahre 1790. Die Konzipierung der Homöopathie, Haug Verlag, Heidelberg (1989)
  20. Hahnemann S., Organon der Heilkunst. Nach der handschriftlichen Neubearbeitung Hahnemanns für die 6. Auflage herausgegeben und mit Vorwort versehen von Richard Haehl, Willmar Schwabe, Leipzig (1921), S. XLII; Lambert K.; Brittan jr. G. G., Eine Einführung in die Wissenschaftsphilosophie. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Schulte, Walter de Gruyter, Berlin/New York (1991), S. 91-142
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Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. med. habil. Axel W. Bauer
Leiter des Fachgebiets Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin
Medizinische Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg
Ludolf-Krehl-Straße 7-11, D-68167 Mannheim
axel.bauer(at)medma.uni-heidelberg.de

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Anthropologie und Bioethik
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