Entwicklung der Chirurgie im 20. Jhdt

Imago Hominis (1999); 6(4): 299-303
Peter Brücke

Zusammenfassung

Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts hat sich die Chirurgie schwunghaft und zu einem sehr verbreiteten Therapiekonzept entwickelt. Die Entdeckung des Penicillins hat dazu wesentlich beigetragen. Die neuen Methoden der Diagnostik haben den Vorstoß in anderen Bereichen eingeleitet, die bisher medizinisch unzugänglich waren. Die Herzchirurgie und die Transplantationschirurgie gehören längst schon in den westlichen Industrienationen zum Standard. Trotz stürmischer Fortschritte sind die Ansprüche der Menschen noch größer, und nicht alle Patienten sind zufrieden. Deshalb in eine defensive Pseudomedizin auszuweichen, muß aber von Seiten einer seriösen Chirurgie abgelehnt werden.

Schlüsselwörter: Fortschritt, Entdeckung der Antibiotika, Diagnostik, falsches Anspruchsdenken

Abstract

At the end of the past century and at the beginning of the present one surgery has undergone a flourishing development and it has become a widespread concept of the therapy. The discovery of Penicilline has been an essential contribution to this development. The new diagnostical methods have pushed forward into areas, which had been inaccessible for medical treatment. Heart surgery and transplantation surgery are already standard procedures in the Western industrial nations. Despite the rapid progress the expectations of mankind have become greater and not all patients are satisfied. Respectable surgery, however, must not change into pseudo-medicine.

Keywords: Progress, discovery of antibiotics, diagnostics, false expectations


Das 20.Jahrhundert ist immer wieder als das Jahrhundert der Chirurgie bezeichnet worden, da in der Effektivität der Behandlungsmethoden die chirurgische wohl eine der effektivsten geworden ist.

Ende des vorigen und Anfang dieses Jahrhunderts hat sich die Chirurgie schwunghaft entwickelt und insbesondere die Bauchchirurgie und die der Oberfläche zu einem sehr verbreiteten Therapiekonzept entwickelt. Es hat an Untersuchungsmethoden damals vor allem die Anamneseerhebung und die klinische Erfahrung gegolten und erst durch die Einführung der Röntgenstrahlen in die Allgemeine Medizin ist eine gewisse Diagnostik und Lokalisation von Erkrankungen durch Objektivierung und bildgebende Methoden entstanden. Wohl hat es schon Lösungsansätze der Gefäßnähte und auch kleinerer Herzprobleme, insbesondere angeborener, Anfang des 20.Jahrhunderts gegeben, aber eine weite Verbreiterung haben diese Methoden nicht gefunden. Hinderungsgründe der weiteren Verbreiterung war das Fehlen der Möglichkeit einer Asepsis, weshalb auch die Antisepsis mit dem berühmten Lysolspray nach Lister zuerst verwendet wurde.

Erst nach dem 2. Weltkrieg hat in Europa durch die Erfindung des Penicillins eine Antisepsis auf der Basis von Antibiotika begonnen, wenn man von den Sulfonamiden, die schon etwas vorher entwickelt wurden, absieht und die mehr auf originäre infektiöse Erkrankungen gerichtet waren.

Die Gefäßchirurgie hat sich erst mit Ende der 40-iger Jahre entwickelt und hier wurde von Linton gezeigt, dass die körpereigenen Venen zur Verwendung als arterieller Ersatz geeignet sind.

Die Entwicklung von Prothesen oder auch gefrorener oder anderskonservierter menschlicher Gefäße hat zu einer weiteren Entwicklung geführt. 1956 ist dann der erste komplette Ersatz einer Bauchaorta als großes Ziel geglückt.

Das Herz ist wohl das Letzte von der Chirurgie eroberte Organ gewesen, und es hat noch in den 30-iger Jahren an vielen Orten das Prinzip gegolten, dass, wenn ein Herz freigelegt und berührt wird, dieses stillsteht und nicht mehr zum Leben erweckt werden kann.

Die Operation an den Brustorganen hat sich sehr langsam entwickelt und ist eigentlich erst durch die Einführung der sogenannten Intubationsnarkose – wo also künstliche Beatmung über einen Schlauch in die Luftröhre sichergestellt wird – möglich geworden.

Hier hat sich dann sehr bald eine Lungenchirurgie, sowohl bei der Tuberkulose als auch bei der bösartigen Erkrankung der Lunge entwickelt.

Die Tuberkulose hat hier an erster Stelle zu stehen, da diese ja im Ausgang des letzten Jahrhunderts und auch Anfang dieses Jahrhunderts eine Art Volksseuche, insbesondere unter der ärmeren, arbeitenden Bevölkerung gewesen ist.

Die bösartigen Erkrankungen der Lunge haben sich erst durch Einführung des Zigarettenrauchens von den 20-iger Jahren an rapide entwickelt und da vorerst nur unter den Männern und erst in den letzten 20 Jahren unter den Frauen, da die Rauchgewohnheit sich entsprechend von den Männern auf die Frauen verlagerte.

Durch die Entwicklung der Physiologie und Pathophysiologie hat man das Herz „in Angriff“ genommen und hier vorerst die Defibrilation (das heißt wenn ein Herz zu flimmern beginnt, hat man mit einem Elektroschock dieses Flimmern wieder beseitigen können). Dies war ein großer Fortschritt.

Dann war die Herz-Lungen-Maschine dran, die die Lunge und das Herz ersetzt und die Möglichkeit gab auch am offenen Herzen Operationen durchzuführen. Sie hat nun ein breites Feld an Operationen – erst angeborener Herzfehler, dann auch erworbener Herzfehler – ermöglicht.

Es wurden zuerst Herzklappen oder angeborene Defekte des Herzens operiert. So war im Kinder-Hospital in Bosten/Massachusetts eine der Pionierstellen, die sich bis heute als eine der führendsten zur Operation von angeborenen Herzfehlern behauptet hat. Schon 1948 wurde dort mit diesen Operationen begonnen. Auch in Stockholm/Schweden war diese Form der Chirurgie schon sehr frühzeitig entwickelt worden.

Ende der 50-iger und Anfang der 60-iger Jahre waren an allen größeren Universitätskliniken herzchirurgische Aktivitäten festzustellen. Insbesondere nach Weiterentwicklung der Herz-Lungen-Maschine, bei der man die Oxygenation, die bioverträglichen Materialien und die Hämolyse in den Griff bekam, konnten diese Methoden auch mit wesentlich geringerer Gefahr für das menschliche Leben angewendet werden.

Mitte der 60-iger Jahre und Anfang der 70-iger Jahre entwickelte sich dannn die Chirurgie an den Herzkranzgefäßen. Diese sehr verbreitete Erkrankung wurde dann zunehmend in allen westlichen Ländern mit der Herz-Lungen-Maschine mit großem Erfolg operiert, und hier gibt es fast unglaubliche Serien von über 400 Patienten ohne operative Sterblichkeit (Charles Hahn – Schweiz).

Gleichzeitig mit dieser operativen Entwicklung entwickelten sich zahlreiche verfeinerte Methoden in der Diagnostik.

Die Einführung des Herzkatheters durch den Chirurgen Forssmann war einer der weiteren Pionierschritte und in der Folge dann die Einführung der selektiven Koronarangiographie und der Bestimmung verschiedenster Herzgrößen.

Die Ultraschalldiagnostik führte schließlich dazu, dass die Herzhöhlen und die Herzklappen im Detail beurteilt werden konnten, und damit eröffnete sich ein riesiges Feld an neuen Operationsmöglichkeiten.

Der Höhepunkt war nun, dass es auch gelang alte und älteste Patienten mit diesen neuen Operationsmethoden am Leben zu erhalten und ihre Lebensqualität zu verbessern.

Raffinierte biochemische Methoden, Isotopenmethoden und schließlich die Einführung der Computertomographie und der Magnetresonanztomographie führten dazu, dass praktisch jedes Organ – insbesondere auch das bewegliche Herz – zum Großteil ohne invasive Diagnostik mit dem Herzkatheter beurteilt werden konnte.

Schließlich versuchte man durch Abwenden von der Chirurgie mit über Herzkatheter durchgeführte Ballondilatationen oder auch innerer Schienung von einmal gedehnten Verengungen von der Operation wieder abzukommen.

Bis heute allerdings ist es nicht geglückt, auch nur einen Teil der Operationstätigkeit zu reduzieren, da die ausgedehnten Erkrankungen, welche mit der Dilatationstechnik nicht mehr behoben werden können, nach wie vor eine Domäne der Chirurgie sind und die Ausweitung der Indikation im Alter das auf der einen Seite weggenommene Terrain immer wieder auffüllte.

Heute stehen wir auf einem Stand, daß etwa 1200 herzchirurgische Operationen pro einer Million Einwohner als gängiger Standard gilt.

In den allerletzten Jahren sind nun neue Operationsmethoden entstanden, welche sicherlich das beginnende 3.Jahrtausend noch weiter intensiv beherrschen werden:

Dazu gehören Operationen an den Herzkranzgefäßen ohne Herz-Lungen-Maschine, dazu gehören die Zugänge durch kleinere Schnitte und dazu gehören auch die endoskopische Anwendung von Operationsmethoden im Bereich der Koronarchirurgie.

Wir haben gesehen, dass nicht jede Entwicklung auch immer eine Entwicklung für die Zukunft sein muss, sondern dass es Fehlentwicklungen gibt, die nach kurzer Zeit des Enthusiasmus auch wieder beendet werden:

Beispiele dafür sind also etwa die Ballondilatation von Stenosen der Aortenklappen. Dabei hat man gesehen, dass sich Stenosen mobilisieren lassen, und die unmittelbaren Effekte waren erstaunlich, sodaß zu hunderten derartige Dinge durchgeführt wurden. Nach 3 Monaten waren alle diese Versuche wieder zum Scheitern verurteilt worden.

Eine weitere Sackgasse zeigte sich bei der Verwendung verschiedenster neuer Herzklappen, die zum Teil enthusiastisch eingesetzt und dann aber wieder verlassen wurden.

Diese negativen Erkenntnisse waren in vielen Bereichen sehr fruchtbar für die Weiterentwicklung.

Ein drittes Beispiel ist die endoluminale Laseranwendung bei Koronarstenosen. Das ist wieder gänzlich aufgegeben worden, da die Ergebnisse nicht den Erwartungen entsprochen haben. So sind auch andere Methoden der endoluminalen Therapie wegen nicht entsprechender Ergebnisse wieder verlassen worden.

Viele Methoden sind aber trotz anfänglicher Skepsis weiter entwickelt worden und haben zu unglaublichen Erfolgen geführt. Die Entwicklung der Medizin ist sicherlich nicht abgeschlossen und die Entwicklung neuer Medikamente bzw. die Gentherapie und die Therapie mit gentechnologisch gewonnen Substanzen wird sicherlich weitere Fortschritte machen, ganz besonders bei der Vorbeugung verschiedenster postoperativer Komplikationen oder auch Komplikationen von Seiten der Grundkrankheit.

Der seit rund 3 Jahrzehnten angesagte Niedergang der Chirurgie, insbesondere was die Herzkranzgefäße angeht, ist bisher nicht eingetroffen. Dies jedoch besagt nicht, dass sich nicht eines Tages in der Primärprävention derartige Methoden finden lassen, die eine Herzkranzgefäßchirurgie dann schließlich doch wegen des Fehlens der pathologischen Befunde überflüssig machen.

Eine rasante Entwicklung hat ein relativ kleines Gebiet in der Herzchirurgie durchgemacht, nämlich die Transplantationschirurgie. Hier ist ohne jeden Zweifel eine Grenze der Verfügbarkeit der Organe gegeben. Die Methode an und für sich hat sich außerordentlich bewährt und bei vielen tausend Patienten zum Weiterleben geführt. Auch die Entwicklung von Kunstherzen ist nicht stehen geblieben und hat zu erstaunlich langem Überleben solcher mit einer Pumpe versorgten Patienten geführt. Routinemässig wohl noch immer als Zwischenersatz vor einer Organtransplantation eingesetzt, aber es gibt Ansätze, wo diese Methode auch schon über Jahre als Dauertherapie angwendet wurde. Auch hier bleiben die Entwicklungen nicht stehen.

Die immer kleiner werdenden Wunden, die dem Patienten zugefügt werden, haben schließlich dazu geführt, dass nicht nur endoskopische Methoden sondern auch Robotermethoden zur Anwendung gekommen sind. Diese Entwicklung ist bei weitem nicht abgeschlossen und kann gegenwärtig noch nicht einmal auf ihre Zukunftsfähigkeit beurteilt werden.

Wie aus den genannten technischen Entwicklungen hervorgeht, ist die Technik sowohl in der Diagnostik als auch in der Therapie unglaublich weit fortgeschritten, in stürmischer Entwicklung und es besteht auch kein Grund, dass sich dieser Trend etwa verlangsamen könnte. Die immer wieder angeführte Unbezahlbarkeit der verschiedenen Methoden kann bisher auch nicht argumentiert werden, obwohl ganz klar ist, dass man auf das gesamte Bruttonationalprodukt auch in der Medizin Rücksicht zu nehmen hat.

Die Operationsmethoden sind ja durch die neue Technologie immer teurer geworden und zwar sprunghaft.

Obwohl die Gefährdung der Menschen durch einen Eingriff und die Mortalität in verschiedenen Bereichen immer geringer geworden ist, hat dies nicht zu einer erhöhten Zufriedenheit der betroffenen Patienten geführt. Ganz im Gegenteil, die Skepsis und die Ansprüche der Menschen sind immer größer geworden und eilen den Möglichkeiten der Medizin voraus.

Die Aufklärung und die heute übliche Finanzierung von Komplikationen hat auch zu erhöhter materieller Begehrlichkeit geführt, und heute wird ohne Gerichtsprozess etwa eine sekundär heilende Wunde, die in einer unschönen Narbe ausheilt, finanziell abgegolten trotz präoperativer Aufklärung durch alle möglichen Aufklärungsmethoden. Ohne Zweifel gibt es immer noch Komplikationen, an denen aktiv gearbeitet wird. Auch Irrtümer des Menschen sind nie auszuschließen.

Anfang des Jahrhunderts musste der Arzt - und hat dies auch getan - wenn er eine Diagnose stellen wollte, durch genaueste Erhebung von Anamnesen, physikalischer Untersuchung, Auskultation und Perkussion eine Diagnose bekommen, die schließlich sein Handeln in der Chirurgie auch wesentlich beeinflusste. Diese direkte Beschäftigung mit dem Patienten hat zur Bewunderung des Arztes geführt. Es waren auch nur wenige große Persönlichkeiten im Bereich der Chirurgie tätig.

Die Weiterentwicklung der Medizin bis zum heutigen Tage hat eben dazu geführt, dass zahllose Befunde erhoben werden, dass technische Diagnostik durchgeführt wird, die viel präziser ist als alles, was es bisher gegeben hat, aber die verantwortliche Beschäftigung mit dem Menschen viel geringer werden ließ, obwohl alle möglichen Anstrengungen unternommen wurden, um diese Manko zu beseitigen.

Auch ist das blinde Vertrauen in den „Gott in weiß“, wie es früher eindeutig der Fall war, einer sehr kritischen Haltung gewichen. Die Ursachen dafür sind ohne Zweifel zahlreich und liegen nicht unbedingt in Fehlern, die durch Ärzte bedingt sind, denn der Patient kann ohnehin selten objektiv seinen Chirurgen beurteilen, da er ja auf Äußerlichkeiten in seiner Beurteilungsfähigkeit angewiesen ist. Aber es hat sich eben eine andere Generation entwickelt, die natürlich von Fehlleistungen in der Öffentlichkeit mehr hört. Sie glaubt die sehr komplizierten und teilweise grandiosen Entwicklungen beurteilen zu können, wie sie nach wie vor stattfinden. Eine Entwicklung lässt sich nicht zurückdrehen. So lässt sich die technische Entwicklung auch nicht zurückdrehen und es lässt sich auch die Entwicklung der Bevölkerung, die nun mal in die o.g. Richtung gegangen ist, nicht rückgängig machen.

Es gibt nun mehrere Möglichkeiten damit zu leben.

Eine Entwicklung, die auch stattfindet, ist, in eine defensive Pseudomedizin auszuweichen, die die Worte „bio“ oder „alternativ“ beinhaltet. Auf der anderen Seite gilt es, eine seriöse Chirurgie weiter zu entwickeln, die nur auf Tatsachen und auf wissenschaftlicher Basis aufgebaut ist. Wenn wir dies tun, werden wir zumindest einen Teil unserer Patienten immer noch zufrieden stellen können, während wir auf der anderen Seite wohl anfänglich bewundert werden, wenn wir mit „bio“ und ähnlichen Dingen hantieren. Wir werden mystische, „chinesische“ Dinge aufnehmen, aber in der medizinischen Erfolgsstatistik keinen Schritt weiterkommen, denn diese Form der Medizin ist wohl in ihrem Heimatland auch heute weiter entwickelt und hat teilweise wissenschaftliche Anerkennung gefunden. Im Prinzip wurde sie aber seit Jahrhunderten angewendet und hat für die Gesundheit kaum einen Fortschritt gebracht.

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Brücke, Leiter der Chirurg. Abt. d. AKH Linz
Krankenhausstr. 9, 4020 Linz

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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