Innere Medizin 2000 – Woher? Wohin?

Imago Hominis (1999); 6(4): 291-297
Rudolf Gross

Zusammenfassung

Voraussagen für das nächste Jahrtausend zu machen, wäre ebenso vermessen wie unmöglich. Zum aktuellen Stand kann gesagt werden, daß im Vordergrund der Forschung die Molekularbiologie, die Genetik, aber auch die Möglichkeiten der neuen digitalen Diagnostik stehen. Was die Therapie betrifft, hat das moderne Konzept der "Evidence based Medicine" an Bedeutung gewonnen. Die Entwicklung aktiver Schutzimpfungen hat große Fortschritte mit sich gebracht, eine Weiterentwicklung in diesem Bereich wäre wesentlich. Die Frage der Ethik kann die Medizin nicht mehr außer Acht lassen. Zu umfangreich ist die Fülle der ethischen Probleme, die der zu erwartende Fortschritt mit sich bringen wird.

Schlüsselwörter: verfügbares Wissen, neue therapeutische Ansätze, Ethik

Abstract

To make prognoses for the upcoming millennium would not only be presumptuous, but also impossible. For the present situation one could say that molecular biology, genetics and the new possibilites in digital diagnostics are in the foreground of research. Regarding therapy, the modern concept of evidence based medicine has gained importance. The development of active vaccinating has brought about great progress; a further development in this field would be essential. Medicine can no longer ignore the question of ethics. Too exstensive is the amount of ethical problems which can be expected with continuing progress.

Keywords: available knowledge, new therapeutical approaches, ethics


I. Einführung

Bei der großen Jahreswende etwa Voraussagen für das nächste Jahrtausend zu machen, wäre ebenso vermessen wie unmöglich. Wer hätte etwa im Jahr 999 – unter Kaiser Otto III. – voraussagen können, daß 1999 zahlreiche Patienten mit dem Herzen eines Fremdspenders leben würden? Dabei war bis zum Beginn der Neuzeit nicht einmal der Blutkreislauf bekannt (William Harvey, 1578-1657). Bis zur Renaissance war man im Grund wenig über die Lehren Galens und seiner Zeitgenossen hinausgelangt.

Völlig anders stellen sich die Neuzeit, besonders das 19. und 20. Jahrhundert, dar. Das verfügbare Wissen – etwa in der Medizin und in den sie mitbegründenden Naturwissenschaften – hat so schnell zugenommen, daß heute nur noch Spezialisten in kleinen Teilgebieten alles oder nahezu alles übersehen. Wie Tab. 1 ausweist, ist dieses verfügbare Wissen erst linear, dann logarithmisch, neuerdings Hyperbel-artig angewachsen – auch wenn man Obsoletes und Redundantes abzieht. Aber es fehlt immer noch an der allumfassenden, wenn auch neuerdings oft versuchten, „Universaltheorie“.1

Verdopplungszeiten verfügbaren Wissens

1800 – 1900

1900 – 1950

1950 – 1960

1960 – 1967

1967 – 1974

Seither Verdopplung alle 5 – 6 Jahre,
davon abzuziehen je ca. 20-30%
Redundenz und Obsoletes.

Tabelle 1

Hinsichtlich einer medizinischen Futurologie sind die Warnungen Lichtenthaelers zu unterstreichen, der bei Voraussagen zur Behutsamkeit auffordert, da die so modisch gewordene Futurologie eine „konjekturale Wissenschaft“ sei und vor übertriebenem „historischem Determinismus“ warnt. Am schärfsten hat dies vor ihm der englische Philosoph David Hume formuliert, nach dem zuverlässige Voraussagen kaum möglich sind, allenfalls eine Übereinstimmung mit dem „Üblichen und somit in der Vergangenheit regelmäßig Beobachteten“.

Gerade die heutigen Medien, immer im Wettlauf um die neueste und sensationellste Information, übertragen gern experimentelle Daten auf die künftige angewandte Medizin. Ihnen kann man nur sagen: Eine „Knock-out“-Maus ist kein Mensch, oder: Vom Reagenzglas bis zum Arzneimittel des Handels vergehen Jahre oder Jahrzehnte. So sind diese Aussagen, was die Zukunft betrifft, nur orientiert an bereits bestehenden Grundlagen, zwischen die sich neue, „revolutionierende“ Erkenntnisse und Methoden schieben können (wie z.B. die „Polymerase Chain Reaction“ = PCR in ihrer Bedeutung für die Molekularbiologie oder die Magnetresonanztomographie (MR oder MRI) in der medizinischen Diagnostik).

Bei Tausenden von Büchern und dem Vielfachen an Publikationen kann dieser Beitrag eine auch nur annähernde Vollständigkeit (sie wäre eine reine Aufzählung!) nicht anstreben; er muß sich auf (willkürlich herausgegriffene) Beispiele beschränken. Drei Fragen werden sich in diesem Rahmen stellen:

  1. Wo stehen wir?
  2. Was können wir erwarten?
  3. Welche ethischen Probleme ergeben sich daraus?

II. Zum aktuellen Stand

Dieser Beitrag ist mehr allgemeinen, Teilgebiete überspannenden Problemen der Inneren Medizin gewidmet: neun ihrer wichtigsten Subspezialitäten werden in einem von V. Diehl u. a. herausgegebenen Heft des „Internist“: „Medizin nach 2000“ behandelt.2

Eine bedeutende, wohl auch für die nächsten Jahrzehnte maßgebliche Veränderung hat schon begonnen: Standen seit der Mitte des 19. Jhdts., besonders unter dem Einfluß Virchows, die normale und die krankhafte Zelle im Vordergrund der Forschungen, so führt seit der Mitte des 20. Jhrdts. die Molekularbiologie (Große Übersichten z.B. bei Ganten und Ruckpaul3). Eng mit dieser Entwicklung verbunden ist die Genetik. Nach vorsichtigen, aber übereinstimmenden Schätzungen von Franke sowie von Gross4 entfallen 60-70 % aller Krankheitsursachen auf genetische, 30-40 % auf äußere Einflüsse. So hat allein die Tabellierung monogenetischer Defekte durch McKusick im letzten Jahrzehnt eine rapide Zunahme erfahren. Dabei sind für monogenetische Erkrankungen oft verschiedenartige Veränderungen eines Allels verantwortlich, dessen Spezifität zu recht verschiedenen phaenotypischen Ausprägungen führen kann. Während für definierte monogenetische Erkrankungen die Mutationen schon zum Teil gut charakterisiert sind (als Deletionen, Insertionen, Additionen, Wechsel in der Methylierung der DNS, Transkriptionsfehler, Mangel oder Überschuß an Transkriptions-vermittelnden Proteinen, Punktmutationen, spontane oder virale „falsche“ Aktivierung eines Protoonkogens5,6), hängt die molekularbiologische Aufklärung bei vielen als multifaktoriell angesehenen Krankheiten noch zurück. Ungeklärt ist z. B. die Entstehung des Diabetes mellitus, von der etwa 4 % unserer Wohnbevölkerung betroffen werden (bei steigender Tendenz). Familienuntersuchungen machen eine starke genetische Komponente wahrscheinlich. Auch dürften (nach Steen und Thung7) die meisten Krankheiten nicht nur genetisch oder nicht  nur exogen bedingt sein. In diesem Sinn können wir auch die oft verwechselte oder zusammen geworfene  Ätiologie und Pathogenese differenzieren. So kann z. B. die genetische Bereitschaft oder eine genetisch bedingte Immunschwäche eine Krankheit ermöglichen; zu deren phaenotypischer Manifestation, der Pathogenese, bedarf es einer äußeren Noxe, z.B. eines der bekannten Krankheitserrreger. Umgekehrt sollte man auch bedenken, daß selbst hohe Exposition - wohl ebenfalls genetisch bedingt - etwa beim Blasenkrebs der Anilinarbeiter oder bei der Cholera immer eine gewisse Anzahl von Menschen trotz Exposition nicht betrifft. Eindrucksvoll haben neuerdings Weissmann8 und Aguzzi9 bei einer Gruppe spongioformer Encephalitiden (z.B. Rinderwahnsinn = BSE) gezeigt, daß transgene Mäuse, denen das Gen für ein bestimmtes normales Protein (PrPC) fehlte, nicht mit sogenannten Prionen infiziert werden konnten und gegenüber den Kontrolltieren insgesamt gesund blieben.

Die Genetik hat auch schon (zunächst noch meist in vitro) therapeutische Ansätze erbracht, wie den Gentransfer auf isolierte Zellen in Gewebekulturen und deren Retransfusion, die in vivo-Transduktion und damit Ersatz mit Hilfe von Adeno- oder Retroviren, Antisense-Nukleotide u.a. In den USA ist es kürzlich Guinan10 u. a. gelungen, mittels eines Überschießen der Reaktionen-bremsenden-natürlichen-Proteins Knochenmark von Fremdspendern (allogenetisch) erfolgreich auf Leukämiekranke zu übertragen. Die klinische Anwendung und die vorausgegangenen Experimente eröffnen nicht nur eine neue Ära der Organtransplantationen („Anergie“ durch B7-CD28-Synergismus) mindestens mit der Hoffnung auf die Einschränkung der bisher notwendigen immunsuppressiven Medikamente.11 Dies könnte ein Meilenstein zur Behandlung der bisher in ihrem Mechanismus wenig verstandenen und nur mit immunsuppressiven Medikamenten zu behandelnden Autoimmunerkrankungen sein. Am Schluß dieser genetischen und immunologischen Betrachtungen sei angefügt, daß für die meisten Proteohormone, wie etwa das Insulin, heute die durch Gentransfer in rasch wachsenden Bakterien (z.B. E. coli) gewonnenen Humanformen (statt der bisherigen Gewinnung aus Tierorganen) mit ihrer wesentlich besseren Verträglichkeit schon lange in Gebrauch sind. Während in den USA, besonders in Kalifornien, eine Anzahl wichtiger menschlicher Proteine von oft kleinen, aber leistungsfähigen Betrieben hergestellt wird und verfügbar ist, wurde die deutsche Pharmazeutische Industrie lange Jahre – zum Glück jetzt nicht mehr – durch übertriebene Vorschriften behindert und hat kostbare Jahre verloren.

Ein anderes Gebiet geradezu sprunghafter Entwicklung in diesem Jahrhundert betrifft die Diagnostik, vor allem mittels bildgebender Verfahren:12 Die sog. digitalen Darstellungen sind sämtlich Computer-gestützt und liefern über Analog-Digital und Digital-Analog-Konverter Bilder von noch vor ein oder zwei Jahrzehnten nicht vorstellbarer Auflösung und Brillanz. Bei der heute fast universalen Sonographie (Ultraschall) haben miniaturisierte Schallköpfe sowie die Anwendung von Laserstrahlen an inneren Organen wie Lungen, Herz, Darm und Anhangsgebilde eine ortsnahe und genauere Diagnostik („Endosonographie“) sowie therapeutische Eingriffe ermöglicht. Die zweidimensionale (oder, computergestützt: dreidimensionale) Echokardiographie ergänzt das traditionelle Elektrokardiogramm und ermöglicht morphologisch-funktionelle Aussagen. An den Gefäßen erbringen Dopplermethoden die Registrierung der Gefäßform sowie eine Darstellung des Inhalts, etwa Strömungsgeschwindigkeit, Turbulenzen u.a. (z.B. farbcodierte Duplex-Sonographie). Während die Mehrzahl der Organdarstellungen horizontal, ggf. sagital und frontal, erfolgten und noch erfolgen, erlaubt die Computertomographie (CT) die schichtartige Darstellung des gesamten Körpers oder einiger seiner Teile in cranio-caudalen Schnittbildern und ermöglicht die Erkennung etwa von Abszessen, Primärtumoren, Metastasen, vergrößerten Lymphknoten viel sicherer als es früher, etwa mit der Lymphangiographie, möglich gewesen wäre. Neueste Entwicklungen wie z. B. das „Spiral-CT“ erhöhen Schnelligkeit und Genauigkeit bei Minderung der Strahlenbelastung.

Eine neue zukunftsträchtige Methode ist die Magnetresonanztomographie (MR, englisch meist MRI von „imaging“). Sie belastet den Organismus nicht mit ionisierenden Strahlen und ermöglicht dem Fachmann – vor allen in Verbindung mit dem „Kontrastmittel“ Gadolinium (im period. System: seltene Erde) über Impuls und Relaxationen (T1 und T2) Bilder von jeder Schnittrichtung, hohem Weichteilkontrast, Unterscheidung normaler und pathologischer Gewebe, Gefäßdarstellungen u.a. Magnetresonanz ist z.Zt. geknüpft an Elemente mit ungerader Ordnungszahl im periodischen System. Die Einführung von verschiedenen Phosphaten dürfte, z. B. am Herzen, eine Trennung in nekrotische, mehr oder minder geschädigte und intakte Gewebebezirke zulassen13 und einen Teil der invasiven Katheterdiagnostik ersetzen. Die weitere Entwicklung der Magnetresonanz könnte zu einer Art „Biochemie am Lebenden“ mit topographischer Zuordnung führen.

Von den nuklearmedizinischen diagnostischen Methoden, die neuerdings ganz überwiegend mit dem kurzlebigen Isotop 99m-Technetium oder mit 111Indium durchgeführt werden, seien die Ganzkörperszintigraphie, die Myocardperfussionsszintigraphie oder die Single-Photonen-Emissions-Computer-Tomographie (SPECT) nur kurz erwähnt. Leistungsfähiger, aufwendiger und kostspieliger – da u.a. an die ortsnahe Herstellung kurzlebiger Positronen gebunden - ist die Positronen-Emissions-Tomographie (PET). Sie hat bisher vor allem am zentralen Nervensystem Anwendung gefunden, wo sie zur Feststellung und Verlaufskontrolle etwa eines Schlaganfalls oder der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose wesentlich ist. Daneben sind mit PET viele wertvolle Untersuchungen zur Neurobiologie, z.B. der genauen Lokalisation und des Zeitablaufs von Hirnfunktionen, erbracht worden.

III. Was erwarten wir in den nächsten Jahrhunderten?

Wie in den Abschnitten I. und II. hervorgehoben wurde, erfolgen diagnostische Fortschritte schneller als therapeutische. Das war lange Zeit so und besonders deutlich in der 2. Hälfte des 19. Jhrdts. Damals führte das zum bekannten „therapeutischen Nihilismus“ der Wiener, Berliner, Pariser Schulen (s. z.B. Lessky14). Heute beginnen, mit ihrem besseren Verständnis der Zellbiologie und vor allem der Molekularbiologie, Prophylaxe und Therapie aufzuholen. Erinnert sei nur an die Acetylsalicylsäure (AspirinR), auf der Welt 80 Jahre lang millionenfach als Schmerz- oder Rheumamittel bekannt, doch erst seit den 70er Jahren zur Prophylaxe kardiovaskulärer Komplikationen eingesetzt. Typischerweise hat die Erkennung dieser bis dahin kaum beachteten Wirkung zur Suche nach chemisch ganz anders strukturierten Aggregationshemmern der menschlichen Blutplättchen geführt, mit einigen positiven Ergebnissen. So geht es mit vielen therapeutischen Fortschritten: Entdeckung bestimmter Wirkungen – Suche nach chemisch evtl. andersartigen, aber in der Wirkung ähnlichen Stoffen – Ausdehnung der Indikationen.

Bei der Herzinsuffizienz, einer wesentlichen Todesursache, haben die von Withering 1785 entdeckten Fingerhutextrakte (Digitalis lanata bzw. Digitalis purpurea) bzw. die heute üblichen Reinglycoside mit definierter Wirkung auf  Inotropie, Bathmotropie, Dromotropie, Chronotropie zwar kaum an Bedeutung verloren, aber sich doch teilweise mit mehr oder minder herzspezifischen Antagonisten bzw. Rezeptorenblockern das Feld teilen müssen. Hier müssen randomisierte Studien an definierten Gruppen (Alter, Ursache, akut oder chronisch, Stadium der Insuffizienz usw.) klarere und einheitlichere Richtlinien erbringen als sie an der Jahrtausendwende vorliegen.

Dies führt zum derzeit modischen Konzept der „Evidence based Medicine“. Einzelbeobachtungen besagen bekanntlich nichts; schlüssiger sind schon „Consensus-Konferenzen“ von Spezialisten. Wirkliche Aussagekraft hat nur der randomisierte klinische Versuch einer Scheinbehandlung gegenüber „Placebo“, das auch per se schon Wirkungen – je nach Indikation von etwa 20 bis 50 % erbringt15 – oder gegen eine anerkannte Standardbehandlung. Diese Form der Untersuchungen auszudehnen – unterstützt durch Metaanalysen an ähnlich behandelten, aber nicht homogenen Patientengruppen – wird eine wesentliche Aufgabe der Zukunft sein.

Bei den Infektionskrankheiten dürfte der Wettlauf zwischen (multi-)resistenten Erregern und Chemotherapie noch viele Jahre weitergehen. Die Antibiotikaresistenz ist sozusagen ein Kleinmodell für Darwins „Surviving of the fittest“. Bei der Malaria scheinen am Ende dieses Jahrtausends multiresistente Parasiten zu dominieren. Eine Ursache ist z.B., daß therapeutische Neueinführungen vorzeitig zur Prophylaxe verwendet werden und damit die Entwicklung von Resistenzen begünstigen. Um so wichtiger ist die Entwicklung aktiver Schutzimpfungen.  Sie machen z.T. die aufwendigere und von unerwünschten Wirkungen belastete Chemotherapie überflüssig. Weitgehend ausgerottet sind damit z.B. die Pocken (Variola) und die Poliomyelitis. Bei der bereits genannten Malaria oder der Cholera läßt ein praxisfähiger und langfristig wirksamer Impfstoff noch auf sich warten. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich auch in absehbarer Zeit bei rasch mutierenden Erregern wie der (echten) Grippe und bei AIDS (HIV-Infektion). Nach einzelnen Mitteilungen sollen vom HI-Virus über ½ Dutzend Mutanten beim gleichen Patienten nachgewiesen worden sein. Die Resistenz dieser Viren hat zu einer den Gesamtorganismus belastenden Polychemotherapie geführt. Ähnliches gilt für die Onkologie, in der die wichtigsten Zytostatika schon seit Jahrzehnten im Gebrauch sind. Kombinationen von 6 Substanzen und mehr sollen die Wirksamkeit steigern, ohne die meist substanzspezifische Toxizität zu erhöhen. Gerade in der Onkologie könnten aber neue molekularbiologische Erkenntnisse zu ganz neuen Ansätzen führen.

IV. Ethische Probleme

Vor jeder diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme muß der Arzt sich 3 Fragen stellen: Was kann ich tun? Was soll ich tun? Was darf ich tun? Die zweite und dritte Frage betreffen die ärztliche Ethik. Die heute so viel beschworene Ethik kann ganz verschiedene Grundlagen, auch Verbindungen aus ihnen haben: Allgemein-humanitäre – religiöse – weltanschaulich-ideologische. Deshalb fallen auch die Antworten der im Heilauftrag verbundenen Partner Arzt und Patient recht verschieden aus. Ohne hier auf die Grundlagen und Formen der oft – auch bei Mitgliedern von „Ethik-Kommissionen“ – erstaunlich wenig bekannten „Allgemeinen Ethik“ einzugehen (wertneutrale Übersicht u.a. bei Ricken16) sei vorweg daran erinnert, daß unser Gewissen leider nicht in gleichem Maße „ausgereift“ ist wie unsere Technik. Auch muß man damit rechnen, daß technisch Mögliches, unter welchen Voraussetzungen auch immer, irgendwann, irgendwo auch gemacht wird. Henn und Schroeder-Kurth17 haben das treffend als die „Macht des Machbaren“ bezeichnet. Probleme sind vor allem durch die Reproduktions-Medizin und durch die molekulare Genetik zu erwarten. Die Reproduktionsmedizin und ihre vielen Probleme sind gerade in „Imago Hominis“ in den letzten Jahren unter vielfältigen Aspekten beleuchtet worden, so daß einige notgedrungen kurze Bemerkungen in diesem Beitrag fehl am Platze wären. So soll die im II. Abschnitt angesprochene molekulare Genetik im Vordergrund stehen. Auch auf diesem Sektor sind im nächsten Jahrhundert schwerwiegende grundsätzliche und praktische Auseinandersetzungen von Wissenschaftlern und z.B. den christlichen Kirchen (vor allem der katholischen) zu erwarten. Unbestritten sind bisher die Organtransplantationen (Herz, Leber, Pankreas, Lungen, Nieren, Teile der Augen, Knochenmark) von fremden, meist einem Unfall erlegenen Spendern. Das Gleiche gilt für die Einbringung gesunder funktionsfähiger Zellen – auch über Vorbehandlungen und genetische Veränderungen – in Gewebekulturen. Eine Transplantation des Gehirns ist bis heute technisch nicht möglich, könnte aber in einigen Jahrzehnten oder Jahrhunderten möglich werden. Was erfolgt, wenn dieses Identitäts-stiftende Organ übertragen wird?  Können dann nicht - in Verbindung mit Fortschritten der Reproduktionsmedizin - Menschen gezüchtet werden? Ist Orwells „1984“18 nur um etwa 100 Jahre zu früh erschienen?

Im Unterschied zur Übertragung eines Phänotyps und der Bildung von Chimären sind genotypische Übertragungen zur Zeit in Deutschland verboten. Sie sind aber technisch durchaus möglich und kämen zunächst etwa für die Thalassaemie und andere Hämoglobinopathien (für die m.W. schon 2 Versuche an Menschen vorliegen) in Betracht. Mit weiterer Erfahrung wäre vielleicht die häufigste Erbkrankheit, die zystische Fibrose (Mukoviszidose) eine Indikation, bei der allerdings viele verschiedene abnorme Allele bekannt sind.

Ein Großprojekt, vor allem amerikanischer Forscher, betrifft die Aufklärung des genetischen Codes. Vom menschlichen Genom mit seinen 50 000 bis 100 000 Genen (nach neuesten Schätzungen 80 000) und von verschiedenen Autoren auf 3 x 109 – 1 x 1010 geschätzten Basenpaaren19 sind zur Zeit über 20 000 bis 30 000 kartiert. Der Abschluß dieser Forschungen ist in 3-10 Jahren zu erwarten; die praktische Anwendung in größerem Umfang etwa um den gleichen Zeitraum später. Schon jetzt stehen DNA-Chips für eine Anzahl von Chromosomen-Anomalien zur Verfügung; schon jetzt kann in einzelnen Laboratorien eine „Präimplantationsdiagnostik“ angeboten werden.20 Die ethischen Konsequenzen einer feststellbaren Genompalette sind kaum absehbar. Können sie zur Grundlage einer embryopathischen Indikation der Abtreibung21 werden? Was ist wünschenswert, was ist Mißbrauch? Was geschieht, wenn kinderwillige Paare sich einem Gentest unterziehen, und bei einem Partner ein pathologisches Gen gefunden wird? Wie viele Ehen werden geschieden werden, wenn bei einem Partner ein solcher (meist heterozygoter) Defekt festgestellt wird? Wie eröffnen das die Eltern ggf. dem späteren Nachwuchs? Es gibt spät sich manifestierende Krankheiten, z.B. die autosomal dominant vererbte Huntington’sche Chorea, (mit über 40 (statt normal 11-34, Median 1922) repetitiven Triplets der DNA-Basen CAG), die häufig erst  im 4.-6. Lebensjahrzehnt zu Erscheinungen führt. Sollen die betroffenen Personen nach einer Genanalyse ihrer zweiten Lebenshälfte entgegenstarren wie das Kaninchen der Schlange? Anders gefragt: Soll man sie zur Fortpflanzung und zu einer Familie kommen lassen, ohne sie genetisch beraten zu haben (was in diesem Fall meist Kinderlosigkeit bedeuten würde).

Ein weiterer Aspekt: Was geschieht, wenn Staat oder Industrie, wenn Lebensversicherungen – mindestens bei höheren Ämtern oder bei hohen Versicherungssummen – eine DNA-Analyse verlangen? (Der Autor hat sich selbst vor Jahrzehnten für einen Krankenhausträger einem graphologischen Gutachten unterziehen müssen.) Kann die Gen-Analyse verweigert werden? Mit welchen Gründen? Was geschieht, wenn die Versicherer für “freiwillige” DNA-Analysen eine viel günstigere Prämie gewähren? Der Genetiker Henn23 diskutiert mit Recht die Probleme einer etwaigen „genetischen Diskriminierung“, z. B. auf dem Arbeitsmarkt, und des „Rechtes auf Nichtwissen“. Für den Betroffenen gilt, daß er Kenntnisse über seinen Gesundheitszustand für sich behalten kann. Das gleiche gilt auch für die „ärztliche Schweigepflicht“ (von der der Versicherungsträger, wie zur Zeit üblich, die Freistellung des Arztes zu verlangen pflegt). Dieser teilt ohnehin das Wissen mit den Hilfskräften, die z.B. eine DNA-Analyse erbringen, auswerten, speichern. Wie es mit deren Schweigen, etwa bei Personen öffentlichen Interesses, steht, haben wir leider oft genug erfahren.

Fragen über Fragen! Sie zeigen an einigen Beispielen, welche Fülle ethischer Probleme mit den zu erwartenden Fortschritten der medizinischen Technologie auf uns zukommen werden.

Referenzen

  1. Maddox J., What remains to be discovered, New Xork: The Free Press, 1998.
  2. Diehl V., Engert A., Parse-Parsi R. (Hrsg.), Medizin nach 2000. Notwendigkeiten, Realitäten, Visionen, Internist 1999,40:345-413.
  3. Ganten D., Ruckpaul K. (Hrsg.), Handbuch der Molekularen Medizin, Bd. I-Vff., Heidelberg: Springer, 1997-1999f.
  4. Gross R., Löffler M., Prinzipien der Medizin, Heidelberg: Springer, 1997 und 1998.
  5. ibidem
  6. Ganten, Handbuch….
  7. Zit. bei Gross, Prinzipien…
  8. Weissmann C., Prionen – neuartige Erkrankungen?, 25. Symp.Ges.Fortschr.Inn.Med., Stuttgart: Thieme, 1999:173.
  9. Aguzzi A. et al., Pathogenese der Prionenerkrankung, 25. Symp.Ges.Fortschr.Inn.Med., Stuttgart: Thieme, 1999:178.
  10. Guinan E., Vassiliki A. et al., Transplantation of anergic histo in compatible bone marrow Al-lografts, N Engl J Med 1999,340:1704.
  11. Schwartz R.S., The new Immunology – The End of immunsuppressive Drug Therapy, N Engl J Med 1999,340:1754.
  12. Vgl. Gross, Prinzipien…
  13. ibidem
  14. ibidem
  15. Gauler T.C., Weihrauch T.R., Placebo, München: Urban u. Schwarzenberg, 1997.
  16. Ricken F., Allgmeine Ethik, 3. A., Stuttgart: Kohlhammer, 1998.
  17. Henn W., Schroeder-Kurth T., Die Macht des Machbaren, Dtsch. Ärzteblatt 1999,96:C1108.
  18. Orwell G, 1984, Köln, 1964.
  19. Vgl. Gross, Prinzipien…
  20. Vgl. Henn, Schroeder-Kurth, Die Macht des Machbaren….
  21. Beckmann R., Embryopathisch motivierte Abtreibungen in Deutschland, Imago Hominis 1998,3:189.
  22. Martin I.B., Molecualr Basis of the Neurogenerative Disorders, New Engl J Med 1999,340:1970.
  23. Henn W., Die DNA-Chip-Schlüsseltechnologie für ethisch problematisch neue Formen genetischen Screenings?, Ethik Med 1998,10:128.

Anschrift des Autors:

em. o. Professor Dr. med. Dr. h. c. Rudolf Gross
Auf dem Römerberg 40, D-50968 Köln

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