Fallbericht: Der senile, verwirrte Patient

Imago Hominis (1999); 6(4): 314

Ein 84-jähriger Pensionär wird nach spitalsärztlicher Versorgung einer Oberarmfraktur bei einem Sturz auf der Straße an der Betreuungsstation eines Pensionistenheimes stationär aufgenommen. Er war bei Rot über die Kreuzung gegangen und hatte den Verkehr nicht beachtet. Die normale tägliche Selbstversorgung ist aufgrund seiner Bewegungseinschränkung nicht mehr gegeben – wie anziehen, waschen, Speisen zerteilen… – eine intensivere Betreuung erscheint unumgängenlich.

Anamnestisch bestehen keine Anfälligkeiten – keine Operationen, keine schweren Erkrankungen – lediglich ein gesteigerter Alkoholkonsum ist erwähnenswert.

Der Aufnahmestatus ist altersentsprechend ohne Besonderheiten (Cor-Pulmo o.B., EZ und Motorik unauffällig, Kreislaufverhältnisse normal, Hör- und Sehvermögen ausreichend, eine phasenweise situative Desorientiertheit ist erkennbar) – die Kritikfähigkeit ist herabgesetzt.

Medikamentös ist der Patient mit Nootropica, einer milden Digitalisierung und gelegentlichen Diuretica versorgt, Sedativa oder Hypnotica bislang nicht erforderlich.

Der Patient ist selten im Zimmer, entfernt sich öfters auch ohne Wissen der Stationsschwestern von der Abteilung und sucht gerne nahegelegene, ihm bekannte Gasthäuser auf. Während des sonst weitgehend problemlosen stationären Aufenthaltes fällt eine passagere leichte Verwirrtheit auf.

Nach Abnahme des Gipsverbandes und Wiedererlangung der vollen Mobilität wird der Patient noch eine Woche ergotherapeutisch behandelt und anschließend in sein Zimmer entlassen.

Nach einer nur kurzen Zeitspanne fällt eine zunehmende Verwahrlosung auf. Der Patient wäscht sich nicht, ißt nur nach Aufforderung, das Zimmer kommt zunehmend in Unordnung. Sein „Wandertrieb“ ist jedoch ungebrochen.

Nach einer längeren Straßenbahnfahrt wird der Patient vom Personal der Verkehrsbetriebe in einer Remise aufgegriffen und von einem Polizeiwagen ins Heim zurückgebracht und auf der Betreuungsstation wieder aufgenommen.

Es kommt nach diesem Vorfall zu einer längeren Aussprache zwischen den nahen Angehörigen und dem Stationsarzt bezüglich des weiteren Vorgehens. Als alternative Möglichkeiten stehen zur Auswahl eine „medikamentöse Einengung“, was einer Bewegungseinschränkung durch den Entzug seiner freien Handlungswahl gleichkäme, oder das Eingehen eines gewissen Unfallrisikos bei weiteren unkontrollierten „Ausflügen“ ins Verkehrsgeschehen.

Man einigt sich zuletzt in Anbetracht seiner fröhlichen und unternehmungslustigen Grundstimmung auf ein Bestehenlassen seines persönlichen Freiheitsdranges und entläßt ihn wieder in die Selbständigkeit seines Zimmers. Wenig erfreut darüber ist die Heimleitung, für die der Pensionist eine zunehmende Belastung wird. Die Angehörigen geben die Zusage, sich in verstärktem Maße um den Pensionär zu kümmern…

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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