Kommentar zum Fall

Imago Hominis (1999); 6(4): 315-317
Walter Rella

„Der Alte als Gesellschaftsproblem“ so könnte man diesen Fallbericht überschreiben. Tatsächlich schildert er eine Situation, wie sie im heutigen Umfeld der Altenbetreuung, wenn schon nicht alltäglich, so doch typisch ist: Ein alter Mann, der wahrscheinlich den überwiegenden Teil seines Lebens sich selbst und seinen Neigungen gewidmet hat, wird durch die Angehörigen in einem Seniorenheim untergebracht, damit er dort seinen Lebensabend verbringe. Seinen Gewohnheiten anhangend, aber schon von geistigem Abbau gezeichnet, sucht er sich in nahegelegenen Wirtshäusern den Tag zu vertreiben. Der Verkehr der Großstadt überfordert ihn und so wird er zum Opfer der für ihn nicht mehr überschaubaren Regeln: Ein Unfall mit Oberarmbruch zwingt ihn, vorübergehend intensive medizinische Betreuung anzunehmen, welche von fachlicher Seite auch tadellos durchgeführt wird. Dieses Trauma, von dem er sich körperlich doch bald wieder erholt, verschlimmert indes das schon vorbestehende sklerosebedingte Psychosyndrom. Es manifestieren sich Auffassungsdefizite und Mängel kritischer Vernunft, welche bis zu Zuständen passagerer Verwirrtheit reichen. Der Mann ist nicht mehr in der Lage, sein Zimmer in Ordnung zu halten und für sein leibliches Wohl zu sorgen. Nur sein Interesse an Bewegung und Abwechslung bleibt aufrecht, wenngleich diese Betriebsamkeit keinen bestimmten Zielen mehr dient. So wird er denn eines Tages in einer Remise der Verkehrsbetriebe aufgegriffen und unter Polizeigeleit zurück ins Heim gebracht…

Damit endet die Erzählung und beginnt die Frage, auf welche Weise der Mann in Hinkunft bestmöglich betreut werden kann.

Um diese Frage zu erörtern, wollen wir zunächst den Ist-Zustand analysieren und sodann die sich daraus ergebenden Optionen für die Zukunft behandeln.

Der Ist-Zustand ist gekennzeichnet durch die Überlappung von drei unterschiedlichen Lebensräumen, in welchen sich unser Patient bewegt.

1) Lebensraum Großstadt: Dieser Lebensraum stellt an seine Teilnehmer bestimmte Mindestanforderungen. Dazu gehört ein entsprechendes Orientierungsvermögen und ein verkehrsgerechtes Verhalten, das dem Vertrauensgrundsatz genügt. Unser Patient hat offenbar weder das notwendige Orientierungsvermögen (er wird in einer Straßenbahnremise aufgegriffen) noch kann er den Vertrauensgrundsatz erfüllen (er geht bei „Rot“ über die Kreuzung). Die Tatsache, daß die Straßenverkehrsordnung für alte Menschen den Vertrauensgrundsatz eingeschränkt hat, verändert diesen Lebensraum für den Patienten nicht wesentlich.

2) Lebensraum Heim: Dieser Lebensraum stellt an die Heimbewohner an sich keine besonderen Anforderungen. Die Heiminsassen werden „versorgt“, sodaß die Erfüllung der Grundbedürfnisse jedes einzelnen in Anbetracht verschiedenster körperlicher oder geistiger Defizite sichergestellt bleibt. Hand in Hand damit geht indes eine Einschränkung persönlicher Freiheiten, welche durch organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen vorgegeben ist. So etwa sind bestimmte Zeiten der Mahlzeit, der Ruhe und der Aktivität vorgezeichnet. Eine ständige Begleitung des Heimbewohners ist auf Grund der Personalsituation in den Heimstatuten in der Regel nicht vorgesehen.

3) Lebensraum des Patienten: Dieser Lebensraum ist im Wesentlichen durch die persönliche Lebensgeschichte dieses Mannes, mit ihren etablierten Neigungen und Gewohnheiten, sowie durch die verbliebenen Realisierungsmöglichkeiten gekennzeichnet. Unser Patient wird als „fröhlich“ und „unternehmungslustig“ geschildert, was darauf schließen läßt, daß ihm an persönlicher Freiheit für seinen Lebensvollzug viel gelegenen sein muß.

Wir erfahren auch, daß er sich mit Vorliebe in Gasthäusern aufhielt, was doch darauf hinweist, daß er sich nicht gerne in die beengtere Atmosphäre des Heimes eingliedern mochte.

Diese drei Lebensräume greifen also in der Person unseres 84-jährigen Pensionärs ineinander. Da diese Lebensräume sehr unterschiedlich strukturiert sind, stellen sie entsprechend hohe Anforderungen an das Anpassungsvermögen. Die innere Konsistenz eines Lebensraumes ist einerseits durch die komplementären Aspekte Freiheit und Verantwortung, andererseits durch ein vorgegebenes Regelsystem gekennzeichnet, welchem sich jeder einzelne Bewohner fügen muß. Grundsätzlich kann jeder Mensch nur soviel Freiheit für sich in Anspruch nehmen als er auch Verantwortung zu tragen vermag. Und jeder Mensch muß in seinem Lebensraum die berechtigten Ansprüche anderer und die objektiv festgelegten Regeln beachten. Bedeutet das nun, daß derjenige, dessen Kritikfähigkeit herabgesetzt ist, entsprechende Einengungen seines Lebensraumes, auf welche Weise immer, in Kauf nehmen muß? Grundsätzlich ja, aber es darf nicht so geschehen, daß dabei die Würde des Menschen verletzt und das Gebot der Liebe mißachtet wird. Im Verband der Familie oder in der Gemeinschaft naher Angehöriger ist der natürliche Rahmen gegeben, welcher die Erfüllung dieser Maxime gestattet. Denken wir etwa an das Verhältnis von Eltern und Kindern. Hier ist es ganz natürlich, daß das noch uneinsichtige Kind die liebevolle Begleitung und Obhut von Vater und Mutter genießt. Das Kind besitzt ein Anrecht auf solche Führung und im Gegenzug wird das Kind die elterlichen Gebote und Ratschläge befolgen. Ebenso hat der alternde Mensch, wenn seine geistigen Kräfte nachlassen, ein Anrecht darauf, von seinen Kindern dankschuldig betreut zu werden. Im Falle unseres Pensionärs müßte das bedeuten, daß die Angehörigen den Freiheitsdrang des alten Mannes in Bahnen leiten und ihn gegebenenfalls auf seinen Ausflügen begleiten.

Von dieser idealen Situation ist unser Fall allerdings weit entfernt. Zwar geben die Angehörigen die Zusage, sich in verstärktem Maße um den Pensionär kümmern zu wollen, doch steht zu befürchten, daß es sich dabei um ein reines Lippenbekenntnis handelt. Denn der Mann wurde ja deshalb dem Heim überantwortet, weil die Angehörigen primär nicht in der Lage waren, ihm ausreichend Zeit zu widmen. Wäre dem nicht so, dann hätten ja die zweifellos hohen Kosten einer Heimbetreuung eingespart werden können. Andererseits zeigt sich das Bedürfnis nach familiärer Geborgenheit auf seiten des Pensionärs kaum sehr ausgeprägt. Denn in diesem Fall läge sein Hauptinteresse wohl nicht im möglichst häufigen Besuch nahegelegener Gasthöfe. Es muß also nicht unbedingt der Bequemlichkeit der Angehörigen anzulasten sein, daß der alte Mann aus der Familie ausgegliedert und in einem Heim untergebracht wurde, ganz abgesehen davon, daß die heutige Wohnungs- und Berufswelt eine nachhaltige Betreuung unselbständiger Angehöriger vielfach nicht mehr zuläßt.

Realistischerweise muß also davon ausgegangen werden, daß die Hauptlast der Betreuung unseres Pensionärs vom Heim getragen werden muß. Dieses Heim sieht sich aber nun zurecht in seiner verantwortungsvollen Aufgabe überfordert. Es ist der Heimleitung wohl kaum zumutbar und auch nicht vorgesehen, daß dem unternehmenslustigen Pensionär, dessen Kritikfähigkeit bezüglich der Folgen seiner Handlungen deutlich eingeschränkt ist, eine individuelle Betreuungsperson - im Tagesturnus müßten es sogar mehrere sein - beigestellt wird. Andererseits mußte das Personal auf Grund von Erfahrung damit rechnen, daß der Pensionär neuerlich in einem unbeaufsichtigten Moment sein Heim verläßt und im Großstadtverkehr wiederum einen Anlaß für polizeiliches Einschreiten heraufbeschwört. In diesem Fall würde die Heimleitung gewiß zur Verantwortung gezogen werden, da bereits bekannt war, daß der Pensionär nicht mehr in der Lage sein würde, ein regelkonformes Verhalten im Straßenverkehr an den Tag zu legen.

Aus diesem Grunde müßte gewiß eine ausreichende medikamentöse Einengung Platz greifen, wohl wissend, daß es sich dabei nur um die zweitbeste Lösung handelt. Am Grundsatz der Parität von Freiheit und Verantwortung führt aber kein Weg vorbei. Trotz dieser Vorgabe besteht zweifellos ein ausreichender Spielraum sowohl in der Art der Medikation als auch in der Art der ärztlichen Betreuung, der ausgeschöpft werden muß, damit diese Form der Behandlung die Achtung und Würde der Person nicht verletzt. Das ärztliche Handeln ist hier im vollen Umfang gefordert und es darf auch das begleitende Gespräch nicht vernachlässigt werden. Zweifellos handelt es sich dabei um eine verantwortungsvolle Aufgabe. Die bloße Delegierung des Problemfalles an das betreuende Heimpersonal erscheint jedenfalls nicht gerecht.

Die Tatsache, daß dieser Fall sosehr zum Problemfall werden konnte, liegt unter anderem in einer widersprüchlichen Gesellschaftsnorm begründet, welche einerseits Individualismus und Freiheit fördert, andererseits aber Verantwortung und Schuld gerne anderen zuschiebt.

Anschrift des Autors:

Dr. Walter Rella, Praktischer Arzt
Hauptstraße 26, A-2640 Gloggnitz

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: