Stellungnahme zum Artikel: „Sinnorientierte Medizin“ (in IH VI/3 S. 187-207, Johannes Bonelli und Enrique H. Prat)

Imago Hominis (1999); 6(4): 321-322

Dem Artikel „Sinnorientierte Medizin“ meines Kollegen und Freundes Johannes Bonelli kann ich zwar viel abgewinnen, seinen Äußerungen zu onkologischen Therapien muß ich jedoch als Onkologe zumindest teilweise widersprechen. So wird von Bonelli versucht, recht verallgemeinernd darzulegen, daß bei „der“ onkologischen Chemotherapie deren toxische Nebenwirkungen höher liegen als die Wahrscheinlichkeit der Wirkung. Diese Behauptung ist zwar für eine Reihe maligner, insbesondere solider Tumoren derzeit noch gültig, für hochmaligne Lymphome (Heilungsrate 50%) schlichtweg falsch. Man muß daher schon konkret zwischen den möglichen Therapieerfolgen bei verschiedenen Tumorentitäten unterscheiden.

Wenn man die Therapieergebnisse einer adjuvanten Chemotherapie bei Patientinnen mit Mammakarzinom analysieren will, dann muß man zuerst einmal zwischen prämenopausalen und postmenopausalen Patientinnen unterscheiden. Ich beziehe mich ebenfalls auf die Daten und Ergebnisse des Schmoll-Kompendiums (Ausgabe aus dem Jahre 1999). Die günstigsten Ergebnisse durch eine adjuvante Chemotherapie werden bei prämenopausalen Patientinnen erzielt, bei postmenopausalen Patientinnen konnte durch eine Polychemotherapie keine Verbesserung der Überlebenszeit erzielt werden. Allerdings steht bei dieser letzteren Patientinnengruppe bei Hormonrezeptor-positiven Tumoren an sich eine hormonelle Therapie im Vordergrund. Nach den nunmehr vorliegenden 20-Jahres-Ergebnissen von Bonnadonna ergibt sich ein Gesamtüberleben von 42% in der CMF-Gruppe gegenüber 33% in der Kontrollgruppe. Schlüsselt man diese Ergebnisse nach dem Menopausenstatus auf, so zeigt sich bei Patientinnen in der Prämenopause ein Gesamtüberleben von 47% in der CMF- und von 24% in der Kontrollgruppe. Bei Frauen in der Postmenopause ist das gesamte Überleben in beiden Gruppen mit 22% ident.

Nach den metaanalytischen Untersuchungen der Early Breast Cancer Trialists’ Collaborative Group ergibt sich durch die zytostatische Behandlung eine jährliche Reduktion der Mortalität um 18+/-8%. Nach 10-jähriger Beobachtungszeit lag der Anteil überlebender Patienten in der Polychemotherapiegruppe um 6,8% höher als in der Kontrollgruppe. Bei einer Inzidenz von 40.000 Mamma-Karzinomen pro Jahr in Deutschland entspricht dies immerhin einer Anzahl von 2.700 durch Chemotherapie geheilter Patientinnen.

Es mag auch der Hinweis erlaubt sein, daß die Erfolge der seriösen naturwissenschaftlichen Medizin normalerweise in kleinen Schritten erfolgt und eine gewissen Bescheidenheit in der Wertung „erfolgreich“ oder „nicht erfolgreich“ angezeigt ist. Auch heute gilt der pharmakologische Grundsatz, daß eine wirksame Therapie auch Nebenwirkungen bedingt. Wir Ärzte sollten die Nebenwirkungen einer Therapie immer sehr gewissenhaft bedenken und die Erfolgsrelation und die Zumutbarkeit eingehend erwägen und mit den betroffenen Patienten ausführlich besprechen. Haarausfall, Abgeschlagenheit und Blutbildschäden sind reversible Nebenwirkungen und können bei guter Führung und professioneller Supportivtherapie durch den behandelnden Arzt gemeinsam überwunden werden. Auch der Eintritt einer irreversiblen Nebenwirkung, nämlich der vorzeitigen Menopause müßte bei einem ausreichend zu erwartenden therapeutischen Benefit und beispielsweise einer guten prophylaktischen Osteoporosetherapie zumutbar sein.

Prim. Univ.Prof. Dr. K. Abbrederis

Kommentar der Autoren zum Leserbrief von K. Abbrederis

Natürlich gibt es auch in der Onkologie wie in allen Sparten der Medizin Therapieansätze, die nach unseren S.O.M.-Kriterien als sehr wirksam und relevant eingestuft werden müssen. Unser Aufsatz konnte freilich nicht auf alle Detailfragen eingehen sondern nur exemplarisch anhand von Einzelbeispielen das Prinzip einer quantitativen Beurteilung der Wirksamkeit einer Therapie aufzeigen.

Gerade im Bezug auf die Ergebnisse der Bonadonna-Studie hätte man nicht nur in prä- und postmenopausale Patientinnen sondern noch in weitere Subgruppen unterteilen können. So konnte zum Beispiel das Gesamtüberleben auch bei solchen Patientinnen nicht verbessert werden, bei denen 4-10 Lymphknoten befallen waren. Die Ursache für derartige Unterschiede in den Supgruppen wird höchst kontroversiell diskutiert. Tatsache ist jedenfalls, daß in der Praxis bisher keinerlei Konsequenzen aus diesen Ergebnissen gezogen wurden. Nach wie vor bekommen alle Rezeptor-negativen prä- und postmenopausalen Patientinnen mit Lymphknotenbefall eine adjuvante Chemotherapie, obwohl man von vornherein weiß, daß Frauen in den besagten Subgruppen nichts davon profitieren werden.

Interessant ist auch die Feststellung, daß in Deutschland pro Jahr durch die Chemotherapie 2700 Patientinnen “geheilt” werden können. Unterwirft man die Daten jedoch unserer SOM-Analyse, so ergibt sich doch ein deutlich anderes Bild: Eine Reduktion der Mortalität um 6,7% in 10 Jahren entspricht ziemlich genau den Ergebnissen aus der Bonadonna-Studie. Dies bedeutet eine Verlängerung der medianen Lebenserwartung von 8,6 auf 11,4 also um 2,8 Jahre, d.h. nach 2,8 Jahren sind in der Behandlungsgruppe ebenso viele Patientinnen gestorben wie in der Kontrollgruppe. Die Lebenserwartung von 50jährigen gesunden (= geheilten) Patientinnen müßte hingegen 30 Jahre sein! Von Heilung im eigentlichen Sinn kann wohl hier nicht gesprochen werden. Es kommt nur zu einer Verschiebung des Todeszeitpunktes (im konkreten Fall 2,8 Jahre). Der Fehler besteht darin, daß immer nur ein momentaner Zeitpunkt(=Endpunkt) - nicht aber der Verlauf bei der Beurteilung von Studien berücksichtigt wird. Zum besseren Verständnis sei ein Vergleich erlaubt:

Wenn ein Rettungsboot Schiffsbrüchige aus dem Meer fischt, kann im Moment sicher von Lebensrettung gesprochen werden. Dennoch ist es zur Beurteilung der gesamten Rettungsaktion von erheblicher Relevanz, ob das Rettungsboot letztlich auch alle Passagiere unversehrt an Land bringen konnte. Erst dann kann von tatsächlicher Rettung (=Heilung) gesprochen werden!

Aus der Perspektive der S.O.M. sollten daher die obigen Befunde mit mehr Transparenz präsentiert werden; z.B. daß bei einer Inzidenz von 40.000 Mamma-Karzinomen pro Jahr in Deutschland immerhin 37.300 Patientinnen völlig umsonst eine Chemotherapie erhalten müßten, damit 2.700 davon profitieren können. Deren Profit bestünde in einer medianen Verlängerung der Lebenserwartung von 8,6 auf 11,4 Jahre.

Unter diesen Auspizien ist die Frage schon berechtigt, ob dieser Benefit ausreicht, um 37.300 deutschen Frauen eine vorzeitige Menopause mit all den damit verbundenen Nebenwirkungen und Risiken ohne weiteres zuzumuten, obwohl sie davon keinerlei Vorteil haben. Hier wäre die Berücksichtigung von relevanten Subgruppen ein konstruktiver Ansatz. Auf jeden Fall sollte man die betroffenen Frauen über die wahren Erfolgsaussichten der angebotenen Therapie richtig informieren, um ihnen eine angemessene Entscheidung für oder gegen eine Behandlung zu ermöglichen.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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