Kommentar zum Fall

Imago Hominis (2004); 11(4): 208-309
Friedrich Kummer

Es geht also um einen langzeitbeatmeten, gehirngeschädigten und tief bewusstlosen Patienten im sog. „irreversiblen vegetativen Zustand“. Die neurologischen Untersuchungen, die bald nach Eintritt der Bewusstlosigkeit und der Ateminsuffizienz erfolgt waren (5. Woche), geben ein prognostisch äußerst ungünstiges Bild. Nicht nur die Großhirnfunktion ist schwerstens beeinträchtigt, auch die Peripherie weist die Zeichen eines polyneuropathisch-poliomyelitischen Zustandsbildes auf, in dessen Folge eine rasche Muskelatrophie aufgetreten ist.

Bereits zu diesem Zeitpunkt muss klar gewesen sein, dass an ein Wiederaufkommen des Patienten kaum zu denken war. Er wurde nunmehr mit einer PEG-Sonde versorgt, die offensichtlich gut vertragen wurde.

Folgende Aspekte des Falles müssen eingehender unter die Lupe genommen werden:

  1. die medizinische Indikation zur künstlichen Beatmung als ärztlich-moralischer Auftrag.
  2. Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr als ärztliche Therapie oder Teil der Grundversorgung eines komatösen Beatmungspatienten mit schwerster ZNS-Schädigung.
  3. Bewusste Lebens- und Leidensverlängerung unter infauster Prognose wenngleich bei stabiler Lage auf Minimalniveau.

Ad 1.: Die kontrollierte Beatmung auf der Intensivstation ist zweifellos eine aufwändige Maßnahme und an hochqualifiziertes Personal wie auch Material gebunden. Bei rascher Verschlechterung der Atmung bei einem erst seit kurzer Zeit erkrankten jungen Mann besteht an der Sinnhaftigkeit, ja der moralischen Pflicht der Intubation kein Zweifel. Diese erwachsen aber notgedrungener Weise, wenn die akute sich in eine massiv-progrediente Erkrankung verwandelt, bei der innerhalb weniger Wochen eine praktisch vernichtende Prognose gestellt wird. Wie konsequent soll die weitere Strategie der Lebenserhaltung/-verlängerung verfolgt werden? Welche Maßnahmen zur weiteren Objektivierung der Dynamik des Leidens sind verfügbar? Diese Maßnahmen bestanden im gegenwärtigen Fall in einer Re-Evaluierung des neurologischen Befundes (kortikale und periphere Schäden), der aber erst nach über 2 1/2-jähriger Beatmung erhoben wird. Inzwischen waren Spitalsdirektion, Kostenträger und Behandler bemüht, durch „Kostensplitting“ und Herumreichen des Patienten zwischen lokalen Spitälern immer wieder Wege zu finden, sich der Diskussion des Therapieverzichts mit allen Konsequenzen ethischer, humaner, rechtlicher und weltanschaulicher Natur entziehen zu können.

Ad 2.: Nach geltender Rechtsauffassung fällt die Intention zur künstlichen Ernährung in die Kompetenz des ärztlichen Teams. Wäre diese ein reiner Bestand der Grundpflege, fiele die Kompetenz dem Pflegedienst zu und wäre hiermit – wie Hygiene, Vermeidung von Störfaktoren, Stuhlregelung, Temperaturhaushalt etc. – dem Einflussbereich der Ärzte entzogen. Reduktion bzw. Verzicht auf die Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr wäre dann gleichbedeutend mit „passiver Euthanasie“.

Hingegen wäre die Rücknahme einer ärztlichen Maßnahme, der die Rolle einer Lebensverlängerung mit frustranem Ziel (Sterbensvermeidung) zugeschrieben werden kann, eher konform mit einer „Handlung mit nicht intendierter Todesfolge“. Dem Zustand des Patienten nach 2 1/2 Jahren und dem Verlauf seiner Erkrankung würde dieser Ausgang wohl entsprechen. Damit bleibt aber auch – retrospektiv – die Frage offen, ob die Heranziehung einer PEG-Sonde (welche immerhin durch einen Arzt gesetzt werden musste) ein so einfacher und gut verfügbarer Eingriff ist, der bei keiner der agierenden Personen einen Zweifel über seine Indikation aufkommen ließ und zu keinen weiteren Überlegungen führte.

Ad 3.: Ausschlaggebend für die Unschlüssigkeit aller beteiligten Personen war wohl der bemerkenswert stabile Zustand des Patienten, der trotz voller Beatmung, künstlicher Ernährung und tiefem Koma keinerlei sonstige Komplikationen aufwies, sei es wegen seines noch jugendlichen Herz-Kreislauf-Systems, sei es durch eine erworbene „hohe Immunkompetenz“, sodass er von einer nosokomialen Pneumonie oder einer opportunistischen Infektion verschont blieb. Andrerseits war jene kritische „Frühphase“ (z. B. innerhalb der ersten 2 Monate) bereits verstrichen, in welcher weitreichende Strategien und Algorithmen hätten erörtert werden sollen. Erst nach langen, qualvollen Monaten, ja Jahren spürt man dem mutmaßlichen Willen des Patienten nach und nimmt in der Folge auch den Wunsch der Angehörigen zur Kenntnis, den Patienten doch sterben zu lassen. Dabei fällt auf, dass die Möglichkeit der Sachwalterschaft nicht in Erwägung gezogen wird. Im gegenständlichen Falle wäre es wohl möglich gewesen, die Gattin mit dieser Aufgabe zu betrauen, da sie wohl die präsumptiven Interessen des Patienten so authentisch wie möglich zu vertreten imstande gewesen wäre.

So aber wird eine Ad-hoc-Ethikkommission einberufen, welcher unter anderem eine Vertretung des ärztlichen, des Pflegedienstes, eine repräsentative Spitalsvertretung, Anwälte und ein Theologe angehören. Dieser Kommission gelingt es dann relativ rasch, zu einer einhelligen Meinung zu kommen, welche in einer Abstimmung für die Beendigung der „Therapie mit außergewöhnlichen Mitteln“ stimmt. Damit ist die Extubation gemeint, mit welcher alle im Grunde einverstanden sind. Die Anwälte monieren allerdings bis zuletzt einen Sachwalter, da ein solcher in der österreichischen Spruchpraxis bei Entscheidungen über bewusstlose Patienten vorgesehen ist. Die mehrheitlich positive (wenn auch daher nicht einstimmige) Abstimmung zieht nach sich, dass der Intensivmediziner die Extubation unter Barbituratnarkose vornimmt, sodass der Patient schließlich sterben kann.

Schlussfolgerung:

1. Die infauste Prognose hätte in ihrer Tragweite wohl früher erkannt und der ungünstige Verlauf häufiger dokumentiert werden können.

2. Ein(e) Sachwalter(in) hätte früher (z. B. nach 3 Monaten) bestellt werden können, der (die) in die weiteren komplizierten Entscheidungen sehr wohl einzubinden gewesen wäre.

3. Die Entscheidung, aufwändige Maßnahmen zur reinen Lebensverlängerung (Sterbensverzögerung) auszusetzen, kann nachvollzogen werden, wenngleich der Zeitpunkt dazu sehr spät erscheint.

4. Die Alternative zur Extubation wäre vielleicht die Reduktion der künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr gewesen, zumal der Patient mit Sicherheit weder Durst- noch Hungergefühle verspürte und die Verfügung darüber dem ärztlichen Team (und nicht dem Pflegedienst) zugestanden wäre. Im gegenständlichen Fall ist aber sicher die Extubation der Therapiereduktion vorzuziehen, da im letzteren Fall neuerliche und schwere psychische Belastungen der Angehörigen (wenn auch über eine begrenzte Zeit) unausweichlich gewesen wären.

Anschrift des Autors:

Prim. Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer
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