Fallbericht: Die 33 Monate des Herrn B. auf der Intensivstation

Imago Hominis (2004); 11(4): 306-307

Herr B., zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt, unternahm mit Frau und 1 ½-jähriger Tochter ausgedehnte sommerliche Wanderungen im niederösterreichisch-steirischen Grenzgebiet. Am ersten Tag finden die Wanderer Zecken auf der Haut. Bis zum 2. Tag werden insgesamt sechs Zecken von Herrn B. entfernt. Auf Anraten der Freunde sucht er das nächstgelegene Krankenhaus auf, wo aber das entsprechende spezifische Immunglobulin nicht vorhanden ist. Er entschließt sich daher zur Heimreise und erhält innerhalb von 48 Stunden FSME-Bulin in entsprechender Dosis.

Etwa eine Woche später kommt B. zur Aufnahme ins Krankenhaus. Er wirkt müde und schwerkrank. Fragen beantwortet seine Gattin. Er leide in den letzten Tagen zunehmend an allgemeiner Schwäche, an subfebrilen Temperaturen, Brechreiz und auch an Lärmempfindlichkeit. Während der Aufnahme kommt es zu einer Anisokorie links, zu einem passageren Nystagmus, zum Auftreten von Doppelbildern, zu Schluck- und Sensibilitätsstörungen. Es besteht der dringende Verdacht auf eine Frühsommermeningoenzephalitis (FSME).

Die entsprechenden Laboruntersuchungen bestätigen diesen Verdacht. Herr B. wird zur Überwachung auf die Intensivstation verlegt. In den nächsten Stunden tritt eine rasch zunehmende Schwäche, vor allem im Bereich der Atemmuskulatur auf, die Schluckstörung verschlechtert sich dramatisch. Intubation und maschinelle Beatmung sind unvermeidlich. Die Spontanatmung erlischt in den nächsten Tagen, Herr B. muss kontrolliert beatmet werden. Eine Tracheotomie wird 5 Tage nach Aufnahme auf die Intensivstation durchgeführt, weitere 3 Wochen später wird eine PEG-Sonde angelegt. Nun beginnt ein langer Leidensweg. Nach 5 Wochen Intensivstation wird Herr B. zur prognostischen Evaluierung an eine neurologische Intensivstation eines universitären Krankenhauses verlegt. Beurteilung: Die massiven Ausfälle im Stammganglien- und Hirnstammbereich mit der zusätzlichen poliomyelitischen/polyradikulitischen Veränderung bedeuten für den Patienten eine äußerst ernste Rehabilitationsprognose. Nun kommt es zu einer zunehmenden, hochgradigen Muskelatrophie der oberen und unteren Extremität von der Halsmuskulatur abwärts.

Nachdem ein Jahr vergangen war, wurde vonseiten des Krankenversicherungsträgers die Asylierung erwogen, doch fand sich keine Institution mit Beatmungsmöglichkeit.

Durch eine humane Entscheidung des Kostenträgers behilft man sich durch mehrwöchige „Gastzeiten“ in den Intensivstationen umliegender Krankenhäuser – und dies über viele Monate.

Mittlerweise besteht eine ausgeprägte Atrophie der Muskulatur, Tonus beidseits schlaff, keine Spontanatmung. Grimassieren und leichte Zuckungen im Bereich der rechten Augenbraue.

Im 30. Monat nach der Aufnahme wird der letzte neurologische Befund mit akustisch evoziertem Potential erhoben. Das Ergebnis entspricht einer pontomesencephalen Läsion, wobei sich im Wesentlichen gegenüber dem Vorbefund (Beginn der Intensivbehandlung) keine Änderung ergeben hat. Diagnose: Zustand nach FSME mit Tetrasymptomatik, apallisches Syndrom.

Nun wird die Ethikkommission der Anstalt einberufen.

Der behandelnde Intensivmediziner berichtet, dass die Ehefrau des Patienten mitgeteilt habe, dass für ihren Mann ein Leben nur „lebenswert“ sei, wenn auch Kommunikation möglich sei. Dies habe er vor seiner Erkrankung zum Ausdruck gebracht. Damit bekräftigt die Familie ihren Wunsch nach Therapieabbruch. Nach Wortmeldungen des Pflegedienstes, des ärztlichen Dienstes, des Anstaltseelsorgers, des Psychologen, eines kooptierten Theologen der örtlichen katholisch-theologischen Fakultät und der Anwälte vertreten alle Anwesenden die Meinung, dass eine Beendigung der Beatmung ethisch-moralisch vertretbar sei.

Die Einschaltung eines Vormundschaftsgerichts zur Ernennung eines Sachwalters – wie von den Anwälten gefordert – wird von der Mehrheit nicht notwendig erachtet, da es sich hier um eine medizinische und ethisch-moralische Frage handle und nicht um eine juridische.

Bezüglich des „wie“ schlägt der Intensivmediziner vor Extubation eine Allgemeinanästhesie und Muskelrelaxation vor. Der Theologe weist darauf hin, dass hier ein „Eingreifen“ nur insoweit vorliege, als „wir nicht über Leben und Tod verfügen, (sondern) wir fügen uns dem Tod.“

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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