Doch aus meinem Fleisch werde ich Gott schauen

Imago Hominis (2007); 14(4): 341-348
Roman A. Siebenrock

Zusammenfassung

Eine theologische Anthropologie wird auf die Frage verwiesen, von welchem Bild des Menschen her wir uns verstehen und uns „bilden“ wollen. Im Zeitalter der Selbstmanipulation hat die Spiegelung unserer Selbst am imaginären Bild der Werbung und des Schönheitsideals eine Bedeutung gewonnen, die unsere Vorstellungen von Freiheit und Autonomie in Frage stellt. Was in dieser Situation die Orientierung am Bild Christi für die Selbstannahme des Menschen im Wechsel seines Lebens bedeuten kann, soll entfaltet werden.

Schlüsselwörter: Theologie des Leibes, Bild des Menschen, Selbstmanipulation, Christusbild

Abstract

Theological anthropology is confronted with the question, which human image can guide us to selfunderstanding and “formation”. In an age of selfmanipulation we tend to compare ourselves with some imaginary ideal of beauty, suggested to us in advertising. This, in turn, has the ability to destabilize our concepts of freedom and autonomy. This article will reveal the importance of self-orientation by the image of Christ for one's self-acceptance during the different phases of human life.

Keywords: Theology of body, image of men, selfmanipulation, image of Christ


Einleitung

Die Rede von Autonomie und Freiheit der Subjekte ist angesichts vieler Erkenntnisse dieses Kongresses nur noch als Möglichkeit oder Aufgabe denkbar. Wir bilden uns in einer wechselseitigen Spiegelung an einem imaginären Ideal, weil alle unsere Bilder von Menschen von uns selbst manipuliert werden. Der stetig wachsende, höchst lukrative Schönheitsmarkt ist der Ort, an dem sich die Gottesphantasie heute besonders stark zeigt. Aber es gehört auch zu unserer humanen und christlichen Bestimmung, Leiden abzubauen. Daher ist eine pauschale Verurteilung dieser Möglichkeiten mir nicht möglich. Welchen Beitrag, so meine Frage, kann dann die christliche Tradition als Orientierung in diesem Feld einbringen? Was wäre das segensreiche Bild vom Menschen, das uns leiten könnte? Im ersten Teil möchte ich kurz verdeutlichen, was Karl Rahner über unsere Situation gesagt hat: Wir leben im Zeitalter der Selbstmanipulation. Im zweiten Teil wird dargestellt, von welchen Vorstellungen, Bildern, Optionen und Utopien wir in Bezug auf unsere Leiblichkeit geleitet, ja dirigiert werden. In einem dritten Teil möchte ich abschließend ein wenig skizzieren, welche Utopie des Leibes die christliche Hoffnung beseelt und prägt, und wie die Stationen des Lebens Jesu es uns ermöglichen, uns selbst in Würde auch im tiefen Leid noch anzunehmen. Die alte Theologie hatte meiner Ansicht nach im Bedenken der Beschaffenheit des Auferstehungsleibes Jesu eine Utopie oder Hoffnung idealer, menschlicher Leiblichkeit diskutiert. Zunächst aber sei erläutert, von welchen Grundeinsichten aus, eine Theologie über unser Thema nachzudenken beginnt. Dabei bleibt ihm der hartnäckige Hiob im Ohr, der es sich nicht nehmen lässt, in seinem Fleisch Gott schauen zu wollen.

1 Hiob: Aus meinem Fleisch werde ich Gott schauen

„Doch ich weiß: Mein Erlöser lebt; und als der letzte wird er über dem Staub stehen. Und nachdem man meine Haut so zerschunden hat, werde ich doch aus meinem Fleisch Gott schauen. Ja, ich werde ihn für mich sehen, und meine Augen werden [ihn] sehen, aber nicht als Fremden. Meine Nieren verschmachten in meinem Innern“. (Hiob 19, 25-27)1

Hartnäckigkeit, purer Widerspruch zum scheinbar unverrückbaren „status quo“ hält Hiob seinen Freunden und Widersprechern am Höhepunkt der Auseinandersetzung über die scheinbare Gerechtigkeit seines elendiglichen Zustandes entgegen: Nein! Er, der vor wenigen Wochen noch vermögend, reich mit Kindern, Land und Ansehen gesegnet war, hat in einer Kaskade des Unglücks alles verloren, wurde mit stinkenden Geschwüren überzogen und sollte dadurch verleitet werden, Gott zu fluchen. Doch das geschieht nicht. Aber auch seinen Freunden und theologischen Deutern seines Elends folgt er nicht. Nein: Dieser Hiob hält nicht nur mit Gott gegen die Gottesbilder seiner Tradition fest. Mehr noch: Er blickt voraus auf einen ‚Löser’, Garant seiner Hoffnung: Ich weiß, dass mein Erlöser lebt. Und wie: Mit der ganzen biblischen Hartnäckigkeit hält er gegen alle unsere Erfahrung an der Leiblichkeit der erlösenden Begegnung fest. Dieser Satz kann und muss uns an dieser Stelle irritieren. Aus meinem Fleisch werde ich Gott schauen. Ich werde Dich sehen, trotz Geschwür und Entstellung derzeit! Dieser Protest gegen das vermeintlich unabwendbare, vom Kosmos, der Natur oder von Gott verhängte Schicksal ist wohl einer der stärksten, oft versteckten Antriebe hinter unserer kulturellen Entwicklung. Francis Bacon und René Descartes entwickeln in ihrer Grundlegung der modernen Wissenschaft ja die Utopie einer Befreiung von den Launen der Natur und dem vielfachen Leid. Deshalb ist Wissenschaft ein gesamtgesellschaftliches Projekt mit einem ‚Heilsversprechen’. Ein solches ist auch im Schönheitsmarkt sehr deutlich erkennbar.

2 Im Geheimnis Christi den Menschen erkennen. Eckpunkte einer christlichen Anthropologie

Insofern nach christlicher Überzeugung in Jesus Christus die Geschichte Gottes mit uns Menschen zu ihrem Höhepunkt und ihrer Fülle gekommen ist, ist nicht nur das menschliche Leben, sondern die gesamte Schöpfung vom Geist Christi durchdrungen. Dieser Geist durchzieht aber eine Welt, die in einem tiefen Dilemma verstrickt ist. Zu Beginn der Bibel wird dieses erzählerisch in der alten, aber genauen Bildersprache uns vor Augen führen.

Der erste Eckpunkt einer christlichen Deutung unseres Menschseins stellt die Schöpfungserzählung dar (Genesis 1 – 3). Der Mensch, der aus Staub und Odem Gottes gebildet ist, bleibt ein prekäres Wesen auf der Grenze. Er ist in sich labil, weil er einerseits die Erde verlassen hat; also nicht einfach trieb- und instinktgesichert sein Leben entfaltet, sondern sich selbst aufgegeben wird. Er ist offen für neue Möglichkeiten, er benennt die Tiere. Gerade darin aber ist er von seinen Voraussetzungen her ungesichert gegenüber der Natur und – dies wird heute deutlich – auch gegenüber seinen eigenen Möglichkeiten. Deshalb wird er nach dem Sündenfall sich selbst und der Natur zur Gefahr.2 Grundsätzlich aber ist dieses prekäre Wesen als gut geschaffen worden, weil es in der Schrift gerade in der spannungsreichen Polarität von Mann und Frau als Bild (bzw. Statue) Gottes bezeichnet wird. Diese Aussage ist nicht Beschreibung unserer Erfahrung, sondern Botschaft der Offenbarung, die sich oftmals gegen unsere Verstrickungen zu Gehör bringen muss. Ist es wirklich gut, dass ich bin; - und so bin wie ich bin? Als erste Gabe eröffnet uns daher der Glaube das Geschenk, mit uns selbst in Frieden zu kommen. Dies bedeutet: Kein anderer sein zu wollen, als der, der ich bin. Und meint: Die Wahl Gottes nachzuvollziehen, die er mit seinem unbedingten Ja zu mir als Vor-Gabe in meine Existenz hineingesprochen hat.

Deshalb liegt in der Beziehungshaftigkeit das wesentliche Merkmal des Menschen, das die Schrift in vier Dimensionen auslegt: als Beziehung zu sich selbst, in der Vernetzung mit anderen Menschen, insbesondere in der Interpersonalität von Mann und Frau, als Beziehung des Menschen zur Erde und zur Tierwelt und als Beziehung zu Gott; – aber auch zu einer anderen Mächtigkeit, die sich im Bild der Schlange in die Phantasie des Menschen einnistet. Daher steht der Mensch, als Staub vom Staube, in der Beziehung zu Tier und Erde; als Geist aber in der Ambivalenz der höheren Macht, die die ganze Schrift als dramatische Unterscheidung von Gott und Götzen bzw. Göttern durcharbeitet. Die Pardieseserzählung ist jedoch geschrieben inmitten der gefallenen Menschheit, aus der Geschichte von Mord, Gewalt, Gotteswahn und tiefer Verstrickung. Daher muss sich der wahre Gott immer gegen die Gottesbilder und Gottesentstellungen des Menschen durchsetzen. Offenbarung nenne ich diesen Prozess, in der Gott gegen unsere Verzerrungen sein wahres Antlitz inmitten unserer Geschichte rettet. Seinem heiligen Namen selbst ist er es schuldig, dass er seine Geschöpfe nicht ihrer Selbstverstrickung überlässt. Der Mensch entwirft sich immer in Bezug zu einem Höchsten, einem Absoluten, nach dem, was er unbedingt anstrebt, will, oder nach dem letzten Ziel aller Wirklichkeit. Menschen sind bestimmt durch ihre Beziehung zu Gott, dem wahren oder den vermeintlichen, den Götzen und Idolen.

Der zweite Ausgangspunkt ist das Unbehagen des Menschen in seiner irdisch-leiblichen, dem Verfallen ausgelieferten Existenz. Fast alle religiösen Heilswege bestehen tatsächlich im Verlassen der Leiblichkeit, der Welt – in die reine Welt des Geistes, der Vernunft, die von der Entwicklung, Bewegung und den Leidenschaften nicht mehr berührt wird: Aufsteigen, Zurücklassen; Heil als Jenseits von Welt; – Heil als Teilhabe an der ewigen, unveränderlichen Welt, Heil als Rücknahme dieser Welt.

In dieser existentialen Situation ist dem Christen die Botschaft von der Fleischwerdung des Logos (Johannes 1, 14) und von der Auferstehung des Fleisches unglaubliche Nachricht, Überbietung seiner Erwartung und Provokation in einem. Dies ist der dritte wesentliche Gesichtspunkt unserer Sicht des Menschen. Alle Versuchung des Christentums besteht darin, diese Fleischwerdung in irgendeiner Weise zu unterlaufen. Daher haben die Kirchenväter, die christlichen Schriftsteller der ersten Jahrhunderte, den Merksatz geprägt: „Was nicht angenommen wird, wird nicht erlöst.“ Eine Orientierung, die auch für dieses Thema von unschätzbarem Wert ist. Daher kann gesagt werden, dass der Geist Christi dort wirkt, wo diese Urannahme geschieht, wo Menschen sich in ihren vielfältigen Beziehungen bejahend annehmen, oder wo diese Annahme und Versöhnung bewirkt wird. Deshalb hat Johannes Paul II. vom Sakrament des Leibes gesprochen. Gott begegnet uns in unsere Leiblichkeit, dessen Struktur uns erfahren lässt, dass wir in die Liebe, die Gott selber ist, hineingenommen werden.3

Diese christliche Sicht des Menschen ist als vierter Gesichtspunkt in Beziehung zu setzen zu unserer Leib- und Selbsterfahrung, die ich in einer kleinen Phänomenologie der Leiblichkeit kurz anreißen möchte. Vom Leib sprechen besagt, in der Perspektive der ersten Person zu reden: mein Leib, ich bin Leib. Denn jedes Sprechen über Leiblichkeit ist an die Selbsterfahrung geknüpft und unterscheidet sich dadurch von der Messung des Körpers, der Rede von Organen oder anderen objektiv-distanzierenden Betrachtungsformen. Ich bin immer mit im Wort. Die grundlegende Einheit, in der ich mir gegeben bin, ist ebenso grundlegend differenziert. Ich kann mich selber zum Objekt machen. Ich bin nicht einfach mein Körper: Ich verhalte mich immer wieder zu mir selbst; und kann daher dieses oder jenes an mir modulieren. Wir sind uns selber aufgegeben in eigentümlicher Verschränkung von Autonomie und Abhängigkeit. Ich habe mich nicht selber ausgesucht. Ohne Wahl bin ich mit mir auf Dauer verbunden: in meiner elementaren biologischen Verfasstheit ebenso wie in der Form meiner Erinnerung und meines Selbstbewusstseins.

Der Leib ist meine Gegebenheitsweise für andere. Dadurch trete ich in Erscheinung, werde für andere wahrnehmbar, greifbar, berührbar. Leib ist ein Medium, sowohl zum Anderen als auch zu mir selbst. Seltsam: Ich verhalte mich auch zu mir selbst immer in Differenz. Wer ist wirklich letztlich mit sich selbst identisch? Das wäre Erlösung, das wäre die Utopie der Leiblichkeit. Leib bedeutet Gestalt, Körper, Integration der Materialität, Bewusstsein als besondere menschliche Form der Leiblichkeit. Bedeutet aber immer auch Unterschiedenheit als Mann und Frau, äußert sich in Sexualität und vielfältigen Beziehungsweisen.

Der Leib ist mein eigenster Indikator der Zeit, in permanenter Veränderung, ohne die Möglichkeit, diesen Prozess aufzuhalten. Retuschen haben stets ein Ablaufdatum. Als Indikator der Zeit ist er stärkstes Indiz der Hinfälligkeit, Sterblichkeit, der Anfälligkeit. Ich bin Krankheiten ausgeliefert: Ich weiß nicht, was in mir noch verborgen ist und ausbrechen kann. Insofern entmächtigt der Leib unsere Allmachtsphantasien. Leiblichkeit vermittelt sowohl die unmittelbare Erfahrung von Lust, aber auch den Schmerz. Leiblichkeit bedeutet an diesem Ort zu sein, in dieser Stunde, nicht dort, sondern hier zu stehen. Ich bin fixiert und damit auch fixierbar, festnagelbar: Leiblichkeit ist die Voraussetzung für Folter.

Die alten und mit dem Menschen gegebenen Erfahrungen sind heute unter neue Vorzeichen geraten. Wir sind angetreten, uns, unsere Situation und Welt nicht einfach hinzunehmen, sondern sie neu zu erschaffen. Die Verfügungsmöglichkeiten sind enorm erweitert, die alte Frage des Menschen mit sich selbst hat sich aber kaum verändert. Wie leben wir die Differenz, die wir mit uns selber darstellen? Wie gelingt Annahme, Versöhnung und Zustimmung zu der mir vorgegebenen Verfasstheit meiner selbst? Und wird solches nicht durch das Projekt der Moderne unmöglich? Bis ins Körperliche hinein wird die Versuchung inszeniert, ein anderer sein zu wollen und zu müssen, als der, der ich bin. „Erlösung“ wird zu einem technischen Projekt.

3 Experiment Mensch: unser Zeitalter der Selbstmanipulation

Nie sind wir Menschen mit uns fertig. Wir verhalten uns stets zu uns selbst und versuchen uns zu schmücken. Das war immer schon so: Von den ersten Tätowierungen oder Therapieverwundungen, wie wir sie beim Ötzi noch sehen können, über Mode, Schmuck und Bemalung, bis zu kleineren oder massiven Korrekturen an unserem äußeren Aussehen. Doch heute hat die Qualität und Quantität des Selbsteingriffes eine ganz neue Dimension gewonnen. Die Erwartungen und Wünsche an die plastische Chirurgie verdeutlichen auf ihre Weise eine Grundbestimmung unserer Kultur. Lassen Sie mich dies an drei elementaren Bestimmungen verdeutlichen.

Der Umgang mit unserer Kontingenz. Niemand hat sich selber ausgesucht, niemand sich selber gezeugt. Niemand ist der Grund seiner selbst. Dass wir sind und dass wir so sind, steht nicht in unserer Macht. Wir kommen einfach vor; – und haben immer die Möglichkeit, diese Vorgabe nach unseren eigenen Vorstellung zu modellieren. Das ist nicht grundsätzlich negativ; im Gegenteil, darin erweist sich eine wesentliches Merkmal des Menschen: Er ist freigesetzt. Dadurch ist er aber auch zweitens, sich selber aufgegeben. Er erfährt sich als jemand, der auch ein anderer sein könnte. Heute wird diese Versuchung, ein anderer sein zu wollen, medial verstärkt, ja geradezu kultiviert. Dennoch sollten wir bei aller Kritik beachten, was John Henry Kardinal Newman in folgende Aussage fasste: „Andere Wesen sind vom ersten Augenblick ihrer Existenz an vollendet in jener Linie der Vollkommenheit, die ihnen zugemessen ist; der Mensch aber beginnt mit nichts ‚Verwirklichtem’ … Es ist seine Gabe, der Schöpfer seiner eigenen Zulänglichkeiten und in einem emphatischen Sinn selbstgeschaffen (‚self made’) zu sein.“4

Drittens aber sind wir in der kollektiven Vorstellung der Selbstmanipulation als geistigem Merkmal unserer Zeit verfangen, in der der Mensch sich selbst zum Experiment wird. Karl Rahner hat darin vor mehr als 40 Jahren das entscheidende Signum unserer Zeit erkannt: „Diese Selbstmanipulation reicht also durch alle Dimensionen des menschlichen Daseins: die Dimension des Biologischen, des Psychologischen (hier darf die Tiefenpsychologie nicht vergessen werden), des Gesellschaftlichen, des Ideologischen (im weitesten und neutralen Sinn des Wortes).“5 Dieses Projekt führt zu einem Pluralismus der Vorstellungen, Optionen und weltanschaulichen Orientierungen, der nicht in eine höhere Synthese vermittelt werden, noch – und das ist politisch brisant – von einer höheren Instanz gesteuert werden kann. Die Entwicklung in der plastischen Chirurgie scheint hierfür typisch zu sein. Sie entwickelt sich in rasender Geschwindigkeit. Kriterien werden nachgetragen, z. B. „Wer darf sich ‚SchönheitschirurgIn‘ nennen?“ Der allgemeine Eindruck verstärkt sich: Wir kommen mit unseren normierenden Versuchen immer zu spät. Die Ethik hinkt nach und sanktioniert oder belobigt, was ohne sie abgelaufen ist.

Das wirklich Unbehagliche scheint mir aber darin zu liegen, dass einerseits die imaginäre Vorgabe eines digital manipulierten Schönheitsbildes unsere Selbstwahrnehmung zu bestimmen beginnt, und zum zweiten die daraus resultierende Tatsache, dass der existentielle Vollzug der Selbstannahme wahrlich erschwert wird.6 Damit aber rühren wir an die kulturell-wirksamen Bilder von unserer Leiblichkeit, die in der Tiefe auch noch unsere Zeit bestimmen.

4 Die archetypischen Bilder der Leiblichkeit in der europäischen Kultur

Ich habe keinen Leib, ich bin leiblich. Deshalb hoffe ich als Christ auf die Auferstehung des Fleisches – und das angesichts von Tod und Verwesung. Dieses Bekenntnis eines Christen, das immer auch die Annahme der eigenen Person in ihrer leiblichen Realität meint, ist eine Orientierung, die es nicht immer schafft, sich gegen die Gegenvorstellungen durchzusetzen. Ist es aber wirklich möglich, angesichts der wesentlich am Körper abzulesenden Zeitlichkeit und Vergänglichkeit, gerade diese Leiblichkeit anzunehmen?

4.1 Die Ambivalenz der griechischen Leib- und Körpertradition oder: der Pyrrhussieg des Geistes

Unsere Vorstellung der Leiblichkeit kann an zwei archetypischen Urambivalenzen aus der griechisch-antiken und der jüdisch-christlichen Tradition verdeutlicht werden. Hypereides verteidigt die wegen Gotteslästerung angeklagte Hetäre Phryne vor der Richterschaft in Athen erfolgreich dadurch, dass er ihre die Herren blendende Schönheit enthüllt.7 So eine makellose Schönheit kann nicht lästerlich sein, zumal sie an den Aphrodisien nackt ins Meer gestiegen sein soll. Schönheit und Wahrheit kommen so zusammen, dass die Angeklagte selbst als Repräsentation der Liebesgöttin erscheint.

Im Gegensatz zu diesem, auch die klassischen Statuen durchdringenden Schönheitsideal in der Antike, gewinnt die mit dem Namen Platon benennbare Tradition des Dualismus von Leib und Seele in doppelter Weise erheblichen Einfluss. Zunächst verhindert der Leib, als Kerker der Seele beurteilt (Kratylos 400c), die Entfaltung des Geistes (Phaidon 66ef). Weshalb wir nur nach dem Tode die Wahrheit – und das ist immer das Ewige – wirklich erkennen können. In dieser Tradition konnte Plotin, dessen Einfluss auf die drei monotheistischen Religionen kaum überschätzt werden kann, das Werden des Materiellen als das erste Missgeschick ansehen, und alle Anstrengung des Menschen müsste darin bestehen, das Ewige in sich zum Einen wieder zurückzuheben, um aus dem Leib befreit zu werden. So konnte sein Schüler Porphyrius sagen: „Plotin, der Philosoph unserer Tage, glich einem Manne, der sich schämt, im Leib zu sein.“ War der Leib Kerker der Seele, so ist er bei Plotin der Anfang des Unheils des Menschen und Anlass, den Weg der Erlösung als Befreiung aus ihm zu wagen. Bei aller Kritik lebt dieser Weg aus der tiefen Sehnsucht des Menschen nach Überwindung des unablässigen Verfallens. Gibt es nicht immer auch noch ein Uneingelöstes? Der Mensch ist ein Versprechen, sagt Eugen Biser in der Aufnahme einer Aussage Nietzsches8: Doch welcher Art? Pfand für Erfüllung, oder hat sich die Natur nur ver-sprochen? Er ist immer noch auf dem Weg zu sich selbst; und wohl nie dort angekommen.

4.2 Hiob-Christus-Spanne: Entstellung und mögliche Neuschöpfung

Auf andere Weise, aber ähnlich ambivalent, ist die menschliche Leiberfahrung in der jüdisch-christlichen Tradition. Da Geist und Leib von Gott als gut geschaffen angesehen werden, konnte sich diese Tradition mit mehr oder weniger Erfolg gegen eine Ablehnung des Leibes in einem gnostischen Spiritualismus zur Wehr setzen. Der Mensch ist einer. Deshalb aber wird die Erfahrung der Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Menschen nicht minder scharf, ja widersprüchlich erfahren. Mehr noch: besonders die dem Unglück und der Gewalt verfallene und ausgelieferte Person repräsentiert diese Erfahrung. Im Alten Testament wird diese besonders markant an Hiob und dem Gottesknecht geschildert. Im Neuen Testament finden sich beide Traditionen in Jesus Christus vereinigt, gerade weil uns kein Portrait von ihm überliefert worden ist. Zum einen stellt er in seinem Leiden Hiob und den Gottesknecht dar, an dem keine Schönheit mehr ist, zum anderen liegt in der Erfahrung der leiblichen Auferstehung Jesu und ihren Zeugnissen eine Utopie menschlicher Leib-Geist-Einheit vor. Da aber die christliche Tradition als wesentliches Orientierungsbild das in den Evangelien geborgene Bild Christi uns vor Augen stellt, und von diesem Bild Christi eben kein Portrait überliefert worden ist, daher konnte der Mensch sich selber in die entscheidenden Stationen dieses Lebens hineinversinnbildlichen: Geburt, Kindheit, kraftvolles Auftreten und Verkündigen, Verklärung, Mahlgemeinschaft, Angsterlebnis und Gefangennahme, Weg der Passion bis zur entstellenden Kreuzigung. In der Beziehung zum Gottessohn haben unzählige Menschen es gewagt, auch die aussichtslosesten und entsetzlichsten Situationen anzunehmen. Das ist kein bequemes Ideal, aber weil ein konkretes Bild fehlte, konnte in der Zusammenfassung des eigenen Lebens auch ich mich in den ausgebreiteten Armen des Gekreuzigten angenommen wissen. Dadurch wird der mimetische Kreislauf des Schönheitsmarktes unterbrochen, weil ich in meiner eigenen, unvertretbaren Situation mit dem Leben Jesu in Beziehung trete, das die Schwäche und Endlichkeit nicht mit Gewalt- und Machtphantasien überspielt, sondern uns ermutigt, uns in seine Beziehung zum Vater, dem unsichtbaren Ursprung und Quelle allen Lebens, einzulassen.

5 Der Leib ist klar, gleich wie Kristall: Utopie der Leiblichkeit – Auferstehung des Fleisches im Leib Christi

Die Ostererzählungen betonen, dass der Auferstandene an seinen Wunden erkannt wird. Das bedeutet nicht allein eine Abwehr der gnostischen Entleiblichung, sondern formuliert auch eine Utopie der Leiberfahrung, gerade weil Jesus alles Menschliche bis zur Neige erfahren hat: bis in die Entsetzlichkeiten der Passion hinein. Dieser Auferstehungsleib wird als unsterblich und unverwandelbar gepriesen. Er wird beschrieben in der Lichtmetaphorik im Gleichnis des Kristalls: Klarheit. Daher kann er nicht mehr leiden und bleibt unverletzt. Seine besondere Feinheit lässt ihn alle Materialität durchdringen; ist aber selber nicht einfach Geist. Ja, er zeigt die Wundmale und damit die Verletzung der Geschichte. Doch diese Verletzungen werden zu Perlen, strahlen wie Rubine und verwandeln die Entstellung und die Folter in Edelsteine der Verwandlung. Annahme geht allem voraus.9

Die Dimensionen des Auferstehungsleibs Christi werden beim Heiligen Paulus auf zwei Ebenen vertieft. Zunächst weiß er, wie kaum ein anderer seiner Zeit, um die tiefe Zerrissenheit des Menschen auf allen Ebenen. Stets jedoch weitet sich die christliche Hoffnung. Sie hat eine soziale Dimension, die Paulus im Bild der Gemeinde als Leib Christi ausdrückt (Röm 12, 4f; v. a. 1 Kor 12). Sie bewahrt vor einem Individualismus und erweist unsere Leiblichkeit als Moment der Öffentlichkeit und unsere Selbsteinschätzung als soziales Phänomen. Dabei wertet aber der Apostel für die Gemeinde die gängigen Maßstäbe der Anerkennung um: „Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. Denen, die wir für weniger edel ansehen, erweisen wir um so mehr Ehre, und unseren weniger anständigen Gliedern begegnen wir mit mehr Anstand, … Gott aber hat den Leib so zusammengefügt, dass er dem geringsten Glied mehr Ehre zukommen ließ, damit im Leib kein Zwiespalt entstehe, sondern alle Glieder einträchtig füreinander sorgen. Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm“ (1 Kor 12, 22-26). Dadurch aber wird nicht nur ein soziales Band geknüpft, dessen Bedeutung für unsere Gesellschaft wir allmählich merken, da es schwächer wird und zu verschwinden droht; vielmehr wird die Selbsteinschätzung ein soziales Phänomen. Die Körperlichkeit als Bild der Zusammengehörigkeit verdeutlicht uns die Verflechtung unseres eigenen Selbstbildes mit dem Fremd- und Außenbild. Die Art aber, wie die Gemeinde der Glaubenden aufeinander reagiert, verkehrt unsere selbstverständlichen Maßstäbe. Größere Ehre wird jenen erwiesen, die wir gering achten: Die Schwächsten sind die Maßstäbe der Anerkennung. Zur Utopie der Auferstehung Christi gehört diese soziale Dimension essentiell. Die Qualität einer Gesellschaft, ihre Kulturhöhe, sollte daher an ihrem Umgang mit den Schwachen, den Außenseitern abgelesen werden.

6 Epilog: Vom Leben zum Leben: Das Zeugnis Johannes Paul II.

Die Lust und Last des Leibes: Beide Erfahrungen unserer Leiblichkeit wandeln sich im Laufe der Zeit – und immer wird inwendig die Botschaft gegenwärtig, dass wir sterben werden. Vielleicht liegt die Lust des geglückten Augenblicks, die Erfahrung des kostbaren Moments ebenso wie die Melancholie der Vergeblichkeit und der Absurdität des Sysiphos in uns, in der körperlich vermittelten Erfahrung begrenzter Zeit. Dass auch in diesem Wandel die Lebensfreude bleiben kann, gerade weil wir als solche ein Versprechen auf Ewigkeit sind, hat Johannes Paul II. im Alter, und wahrlich nicht ohne die Erfahrung von Verletzlichkeit, Alter und Krankheit, in seinem Brief an alte Menschen zum Ausdruck gebracht:

„Trotz der Einschränkungen, die mit dem Alter verbunden sind, bewahre ich mir die Lebensfreude. Dafür danke ich dem Herrn. … Gleichzeitig empfinde ich einen großen Frieden, wenn ich an den Augenblick denke, in dem der Herr mich zu sich rufen wird: vom Leben ins Leben! Darum kommt mir häufig, ohne jeden Anflug von Traurigkeit, ein Gebet auf die Lippen, das der Priester nach der Eucharistiefeier spricht: In hora mortis meae voca me, et iube me venire ad te – in der Stunde des Todes rufe mich und lass mich zu dir kommen. Das ist das Gebet der christlichen Hoffnung, das der Freude über die gegenwärtige Stunde keinen Abbruch tut, während es die Zukunft dem Schutz der göttlichen Güte anheim stellt.10 Angesichts von Tod und Verwesung hoffe ich, dass der Geist sich auch meiner Schwachheit annimmt und mich mit Hiob sagen lässt: In meinem Fleisch werde ich Gott schauen.

Referenzen

  1. Nach der Ebersfelder Übersetzung. Sinnentstellend übersetzt die Einheitsübersetzung den Aspekt leiblicher Gottesschau: „Doch ich weiß: mein Erlöser lebt, als letzter erhebt er sich über dem Staub. Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Ihn selber werde ich dann für mich schauen; meine Augen werden ihn sehen; nicht mehr fremd. Danach sehnt sich mein Herz in meiner Brust.“
  2. Einen schönen Überblick über die Anthropologie in theologischer Perspektive bei: Pannenberg W., Anthropologie in theologischer Perspektive, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen (1983).
  3. Zu Beginn seines Pontifikats hat Johannes Paul II. seine Audienzen mit einer langen Reihe von Ausführungen zur Theologie des Leibes gestaltet, die bei uns noch nicht wirklich wahrgenommen worden sind. Als erste Hinführung: West, Chr., Theologie des Leibes für Anfänger. Einführung in die sexuelle Revolution nach Papst Johannes Paul II, 2. Auflage, Pustet, Regensburg (2006).
  4. Newman J. H., Apologia pro vita sua, Matthias-Grünewald, Mainz (1951), S. 243-245
  5. Theologische Deutung der Position des Christen in der modernen Welt (1954), in: Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, Tyrolia, Innsbruck-Wien-München (1959), S. 13-47; heute in: SW 10 (Kirche in den Herausforderungen der Zeit. Studien zur Ekklesiologie und zur kirchlichen Existenz), S. 251-273, hier S. 266.
  6. Einen anderen Weg, der gerade die Selbstannahme als Zuspruch zur Schönheit in jedem Alter forciert, beschreitet die Werbelinie von Dove.
  7. siehe Gernig K., Nacktheit. Ästhetische Inszenierungen im Kulturvergleich, Böhlau, Köln (2002)
  8. Biser E., Der Mensch – das uneingelöste Versprechen. Entwurf einer Modalanthropologie, Patmos, Düsseldorf (1996)
  9. Ein Lied von Friedrich Spee von Lengenfeld SJ (Gotteslob 822) dichtet die klassische Theologie nach.
  10. Johannes Paul II., Brief an die alten Menschen. Vom 01. 10. 1999, Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls Nr. 17, Deutsche Bischofskonferenz, Bonn (1999)

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Mag. Dr. Roman A. Siebenrock
Institut für systematische Theologie
Universität Innsbruck
Karl Rahner Platz 1, A-6020 Innsbruck
Roman.Siebenrock(at)uibk.ac.at

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Anthropologie und Bioethik
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