Die Neue Grippe: Ist Impfen ein Muss?

Imago Hominis (2009); 16: 272-275
Friedrich Kummer

Im Frühjahr 2009 scheint in Mexiko ein für die sogenannte „Schweinegrippe“ verantwortliches Virus aufgrund einer geringfügigen Mutation beim Menschen aufgetreten und übertragbar geworden zu sein. Der im Veterinärbereich lange bekannte Erreger ist als Subtyp von Influenza A/H1N1 der Träger einer bisher unbekannten Kombination von genetischen Anteilen aus dem Erbgut von Mensch, Vögeln und Schweinen.1

Mittlerweile ist die Sequenzierung des Genoms des neuartigen Erregers erfolgreich abgeschlossen. Laut WHO für Tiergesundheit liegt hier kein über Schweine verbreitetes Virus vor, sodass die korrekte Terminologie „Mexiko-Grippe“ oder eben „Neue Grippe“ zu heißen habe.

In einer Aussendung vom 25. April 2009 bezog sich das amerikanische Center for Disease Control (CDC) erstmals auf bestätigte Fälle einer Infektion von Menschen, wobei diese in Nordamerika und Mexiko aus bislang ungeklärten Gründen einen besonders schweren Verlauf mit zahlreichen Todesfällen nahmen. Die Verbreitung des Virus in anderen Teilen der Welt erfolgte prompt, wobei die weltweite Zahl der Erkrankungsfälle (laut Europäischem Zentrum, ECDC) innerhalb eines Tages von 200 auf 1.269 anstieg. Daraufhin wurden die Pandemiewarnstufen der WHO und der CDC laufend nach oben korrigiert (zuletzt WHO: Stufe 6/8, CDC: von 2/5). Dabei geht die WHO von einem Phasenmodell bezogen auf die weltweite Ausbreitung aus (0 bis 8 Stufen). Das CDC bemisst seine Grade nach der Mortalität pro 1.000 Fälle (0 bis 5), basierend auf einer Influenza A-Mortalität von 1/1.000. Historisch ist die Grippe-Epidemie 1918 mit CDC Grad 5 und die Hongkong-Grippe 1968 mit 2 gestuft worden. Derzeit liegt die Spitze der Mortalität auf den britischen Inseln mit 14/1.000, doch wird angenommen, dass diese Rate zu hoch gegriffen ist, zumal sie auf den gemeldeten schweren (hospitalisierten) Patienten beruht und die Dunkelziffer der leichteren Verläufe nicht berücksichtigt wird.2

Die weltweit großen Unterschiede sind noch ungeklärt. So wird die Zahl der Todesopfer laut WHO mit ca 10.000 angegeben, das sind bei etwa 400.000 Infizierten etwas mehr als 2/1.000 (daher CDC Stufe 2), siehe oben. In Deutschland starben bisher 66 Patienten (nach Ende der Meldepflicht ist die exakte Zahl der Infizierten nicht bekannt), wogegen die Mortalität in Mexiko das über 10-fache betrug.

In Österreich wurden bisher (bis Mitte November 2009) gegen 700 Fälle gemeldet, Tendenz steigend (Schließung von Schulklassen in Wien und Lienz), einzelne schwere Verläufe (eine Schwangere in Wien, ein 65-jähriger Mann aus München in Salzburg), bei bisher zwei Todesfällen handelte es sich einerseits um ein 11-jähriges Mädchen aus Bozen, das auf der Intensivstation in Innsbruck nach mehrwöchigem kritischen Zustand verstorben ist, und einen unter Immunsuppressiva stehenden jungen Mann in Graz. Die tatsächliche Inzidenz wird derzeit (wie auch in Deutschland, siehe oben) nur mehr geschätzt, indem man sich an den „Sentinell-Praxen“ orientiert: Dies sind Ordinationen von Allgemeinmedizinern, von denen der Neuzugang an allen grippalen Infekten gemeldet wird. Aus einem Anstieg der Meldungen wird dann auf den potentiellen Anteil von Influenza-Infektionen geschlossen. Die Schwäche des Systems in der gegenwärtigen Situation: Es kann nicht zwischen der saisonalen und der Neuen Grippe differenziert werden.

Ungeklärt ist, warum Kinder und Menschen bis 50 Jahre sowie Schwangere besonders empfänglich sind. Alles in allem sind wenigstens außerhalb von Nord- und Südamerika wesentlich weniger Todesopfer zu beklagen als bei der jährlichen saisonalen Grippewelle, die bei vornehmlich älteren Menschen gefährlich ist (Mortalität ca. 1 bis 2 Prozent, d. h. 10/1.000 bis 20/1.000!).

Präventive Maßnahmen

Hier ist es angebracht, die individuellen und die politischen Strategien voneinander abzugrenzen, aber auch die Überlappungen aufzuzeigen.

Individuelle Prävention

Da ein Gutteil der Übertragung durch Handkontakt erfolgt, wird bei „Ankunft“ der Grippewelle im Lande das häufige Waschen der Hände empfohlen, wenn man viel öffentlichen Umgang pflegt. Wenn sich eine Symptomatik entwickelt (obligat: Fieber, Gliederschmerzen, trockener Husten, gelegentlich Durchfall) kann durch freiwilligen Hausarrest und zeitweise das Tragen einer Gesichtsmaske in der Öffentlichkeit das Risiko einer Ansteckung anderer gesenkt werden. Eine Spitals-einweisung ist nicht notwendig, geschweige denn eine Isolierung. Die Erfahrung der Monate Juli bis November hat den milden Verlauf bestätigt.

Sozialgesteuerte (verordnete) Prävention

Im Akutfall einer Epidemie besteht diese zumeist in der Isolation der Erkrankten bzw. Quarantäne für die Exponierten, verbunden mit einem aggressiven Impfplan, soweit Impfstoff vorrätig ist oder verfügbar gemacht werden kann. Tatsächlich war eine solche Situation noch vor 6 bis 7 Monaten zu befürchten, doch hat sich die Situation seither so weit abgeschwächt, dass Patienten mit vermuteter Infektion zuhause behandelt werden können (unter den Auflagen der individuellen Prävention für die Betreuer, siehe oben). Die Impfung der Bevölkerung erfolgte stufenweise: zuerst das medizinische Personal (Beginn 27. Oktober 2009), sodann Hochrisikogruppen (multimorbide Patienten, Kinder, Schwangere, dies ab Mitte November, und danach Freigabe für alle Impfwilligen in der Bevölkerung (kostenpflichtig). Erschwert wurde die Impfung im großen Maßstab durch die Logistik der Verabreichung, weil diese an definierte Zentren gebunden ist (kein frei käuflich erwerbbarer Impfstoff). Seitens der Öffentlichkeit (WHO, nationale Gesundheitsbehörden, Sozialmedizin) wird weiterhin die umfassende Impfaktion massiv beworben, sodass sich der Einzelne kaum argumentativ dagegen stellen kann. In den Medien wurde bereits von „Panikmache“ und „Alarmismus“ gesprochen und dem Staat vorgeworfen, seine dienende Funktion (Subsidiarität) zu überschreiten, nur um im Falle einer vielleicht doch eintretenden Katastrophe gegen den Vorwurf von Versäumnissen gewappnet zu sein.

Pro und Kontra

Wöhrend die individuelle Prävention völlig außer Streit steht und alle damit verbundenen klugen Maßnahmen zu unterstützen sind, so werden gegen die öffentlich (staatlich) gepuschte Prävention kritische Stimmen laut.

Die Pro-Argumente lauten: Jeder durch die Massenimpfung vermiedene Todesfall rechtfertigt die Aktion, ebenso die Verringerung der Zahl von schweren Verläufen (aufwändige Spitalsaufenthalte und Intensivtherapien), insbesondere bei den gefährdeten Bevölkerungsgruppen wie Kindern und Schwangeren. Weiters könne durch eine rasche „Durchimpfung“ der Bevölkerung ein anfänglicher „Seuchengipfel“ mit hunderttausenden Erkrankten und damit generalstreikartiger Lahmlegung des Landes (geschlossene Schulen und Ämter, eingeschränkter öffentlicher Verkehr, Krankenstände in Spitälern und bei der Polizei etc.) vermieden werden.

Die Kontra-Argumente verweisen grundsätzlich auf den gutartigen Verlauf der Influenza A/H1N1-Grippe, die bisher unter der (nichtgeimpften) Bevölkerung nur ein Hundertstel bis ein Zehntel der Todesfälle gefordert hat wie die saisonal geprägte Influenza A. Es ist bekannt, dass die konventionelle jährliche Grippeimpfung übrigens nicht die Zahl der Grippetoten, sondern den Verlauf günstig zu beeinflussen scheint.

2007 haben bei der drohenden Vogelgrippe-Pandemie die Behörden die Organisation einer medikamentösen Prävention übernommen. Nach einem komplizierten Plan wurden den Spitälern und ärztlichen Organisationen Tamiflu bzw. Relenza bevorzugt zur Verfügung gestellt, sobald die gemeldeten Fälle von gesicherter Infektion ein kritisches Maß übersteigen würden. Diese Strategie, die von der Ärztekammer, dem Obersten Sanitätsrat und dem Ministerium getragen war, kam jedoch nie zum Einsatz, da die befürchtete Pandemie nicht eintrat, die Medikamente sind nach wie vor lagernd (Millionenwerte!) und kommen – mindestens bisher – nicht zum Einsatz.

Nun sind wir augenblicklich mit einer neuen, aber sehr gemildert verlaufenden Grippeform konfrontiert, die unter Umständen die bisherige saisonale Grippewelle mit ihren vergleichsweise häufigeren, schweren Verläufen verdrängen könnte anstatt sie zu potenzieren. Wenn jemand der Impfaufforderung nicht nachkommt, kann er/sie nicht zur Verantwortung gezogen werden, wenn er/sie selbstverantwortliche Argumente abwägt (zu erwartender Schutz gegenüber Nebenwirkungen, erhoffter Schutz von Kranken innerhalb der persönlichen Kontaktzone etc.), die in der individuellen Prävention angesprochen sind (siehe oben).

Wenn aber jemand durch seinen sozialen oder Berufsstand einem Reglement der Prävention verpflichtet wird (medizinisches Personal, ev. Lehrer, Kinder und Betreuerinnen in Kindergärten, Senioren in Pflegeheimen), kann er/sie sich dieser aus ethischen Gründen wohl nicht entziehen.

Zum Impfstoff

Die Bereitstellung von großen Mengen des Impfstoffes kann auf verschiedene Art geschehen:

So kann ein von der Vogelgrippe vorhandener Impfstoff „nachgebessert“ werden, indem die relativ geringe Antigenmenge pro Dosis eine große Zahl von Chargen ermöglicht. Diese werden aber durch einen Verstärker (Thiomersal) wirksamer gemacht, wobei zusätzliche Nebenwirkungen (Lokalreaktion, Subfebrilität etc.) in Kauf genommen werden. Das Ziel: Im akuten Epidemie-Ereignis zählt die schnelle Verfügbarkeit für sehr viele Menschen, wobei ein Mehr an vertretbaren Nebenwirkungen toleriert wird.

Dies ist bei dem derzeit in Deutschland verwendeten Impfstoff Pandemrix (GlaxoSmithKline) der Fall. Es handelt sich dabei um einen Spaltimpfstoff mit geringerer Antigen-Dosierung. Anders der Impfstoff Celvapan (Baxter), der in Österreich und Tschechien hergestellt und für Irland, Großbritannien, Neuseeland und für die Deutsche Bundeswehr (!) vorgesehen ist. Dieser kommt ohne Adjuvantien aus und hat wohl von dieser Seite weniger Nebenwirkungen. Allerdings handelt es sich um einen Ganzvirusimpfstoff, bei dem angeblich mit einer höheren Rate an Nebenwirkungen zu rechnen ist. Die Datenlage bezüglich Verträglichkeits- und Wirkungstestung sind dürftig: Bis November wurden lediglich etwa 900 Personen getestet, der „Feldversuch“ bei der Deutschen Bundeswehr ist noch nicht abgeschlossen.

Für beide Impfstoffe gilt, dass sie – wie andere Neuzulassungen – gemäß dem Arzneimittelgesetz nicht bei Kindern und Schwangeren getestet werden durften, dennoch – einer Freigabe der Europäischen Zulassungsbehörde EMEA zufolge – gerade bei diesen Personengruppen vorrangig zum Einsatz kommen sollen.

Öffentliche Meinung

Die angeführten Unsicherheiten zusammen mit dem bisher generell milden Verlauf der A/H1N1-Grippe haben laut Umfragen z. B. in Deutschland zu einer großen Impfskepsis geführt: Gemäß der am 23. Oktober 2009 veröffentlichten Emnid-Umfrage ist die Impfbereitschaft seit Juni von 51% auf 13% abgestürzt, wobei 66% der Befragten eine Impfung kategorisch ablehnen (20% sind unentschlossen), 85% halten die beharrlichen Aufrufe des Gesundheitsministeriums für übertrieben.

In den USA werden die Berichte der CDC über die Erkrankungen und Todesfälle (insbesondere bei Kindern) zwar ständig nach oben korrigiert (Beginn der Schulzeit und des College-Betriebes mit Dormitories). Dennoch kann ABC World News (22. Oktober 2009) von einer Umfrage berichten, der zufolge 40% der Eltern eine Impfung ihrer Kinder ablehnen. Dies wird von den Ärzten als „Missverständnis“ betreffend der angeblichen Gefährlichkeit der Impfstoffe erklärt, die „durch mehr Testverfahren gegangen seien als der jeweilige saisonale Impfstoff in den vergangenen Jahren“.

Es ist ratsam, die Neumutation des altbekannten H1N1-Virus – wie jede andere Mutation – ernst zu nehmen. Dennoch darf man skeptisch gegenüber der medialen Hype sein, wie sie uns vor einigen Monaten überrollt hat. Die Aussagen aus Cochrane Reviews (Evidence-based Medicine, EBM) stehen den Impfungen ebenfalls skeptisch gegenüber. Wie schon oben erwähnt, hat bei der bisherigen saisonalen Grippeimpfung selbst eine – wie in den USA mit 65% – sehr hohe Durchimpfungsrate seit den 1980er-Jahren keinen Rückgang der Grippe-bedingten Mortalität erbracht. Mit der Impfung könnte eine Epidemie keinesfalls verhindert werden. Die Erkrankungswelle würde sich nur vielleicht langsamer und flacher entwickeln (Vermeidung des anfänglichen Seuchengipfels, s. o.).

Schlussfolgerung

Gegenüber dem Virus der „Neuen Grippe“ ist allemal Respekt angebracht, also weder Leugnung der Gefahr noch Alarmismus. Die derzeitige Datenlage, basierend auf den epidemiologischen Zahlen der WHO, des USA-CDC und des Europäischen CDC lässt eher den Schluss zu, dass keine weltweite todbringende Katastrophe droht, dass aber auf Risikogruppen (chronisch und multipel Kranke, Kinder, Schwangere) vermehrt geachtet werden muss. Dem medizinischen Personal möge es territorial und regional überlassen bleiben, nach individual-ethischen Grundsätzen die Prävention zu gestalten, auch inklusive der Impfung.

Referenzen

  1. siehe auch http://www.ages.at/ages/gesundheit/tier/die-neue-grippe-aus-veterinaermedizinischer-sicht/
  2. Veröffentlichung des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Health Technology Assessment (LBI-HTA) vom 1. September 2009

Anschrift des Autors:

Univ.-Prof. Dr. Friedrich Kummer, IMABE
Landstraßer Hauptstraße 4/13, A-1030 Wien
fkummer(at)imabe.org

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