Die Übermittlung der Diagnose Demenz

Imago Hominis (2015); 22(4): 277-284
Wolfgang Kristoferitsch

Zusammenfassung

Die Mitteilung der Diagnose Demenz soll in einem möglichst frühen Krankheitsstadium erfolgen, in dem der Betroffene noch die Fähigkeit besitzt, die Folgen der Diagnose zu erfassen und autonom über Behandlungsschritte und die weitere Lebensplanung zu entscheiden. Die Erkenntnis, an einer Erkrankung zu leiden, die unter dem kompletten Verlust der körperlichen und geistigen Autonomie zum Tode führt, kann verständlicherweise mit großen psychischen Belastungen verbunden sein. Es ist daher auf den aktuellen individuellen Informationswunsch und Informationsbedarf des Patienten Rücksicht zu nehmen. Die Mitteilung der Diagnose darf kein Einzelereignis sein, sondern soll als Prozess in mehreren Gesprächen ablaufen, in dessen Zentrum die Bedürfnisse und Ängste des Patienten und seiner Angehörigen stehen und dessen Ziel die bestmögliche Krankheitsbewältigung darstellt. Biomarker zur präklinischen Diagnose neurodegenerativer Demenzformen sollen, abgesehen von Forschungszwecken, derzeit nicht eingesetzt werden.

Schlüsselwörter: Demenz, Alzheimer, Diagnose, Mitteilung

Abstract

Disclosure of the diagnosis of dementia should take place in the early stages of the disorder, when the patient is still able to understand the consequences of the diagnosis and is able to make autonomous decisions. The disclosure of a disorder which is incurable and which will lead to a total loss of physical and mental autonomy will be understandably associated with significant psychological stress. Therefore, the patient’s needs and desires for information must be taken into account. Communication of the diagnosis should not be a one-time event. Rather, it should be focused on the needs and fears of the patient and his family, with the goal of achieving optimal coping with the disorder. The use of biomarkers for a pre-clinical diagnosis of neurodegenerative dementia are not recommended, except for research purposes.

Keywords: dementia, Alzheimer‘s, diagnosis, disclosure


Einleitung

Unter dem Begriff Demenz versteht man nach der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme Version 10, 201 (ICD-10-Code: F00-F03) ein Syndrom als Folge einer meist chronischen oder fortschreitenden Krankheit des Gehirns mit Störung vieler höherer kortikaler Funktionen, einschließlich Gedächtnis, Denken, Orientierung, Auffassung, Rechnen, Lernfähigkeit, Sprache, Sprechen und Urteilsvermögen im Sinne der Fähigkeit zur Entscheidung. Das Bewusstsein ist nicht beeinträchtigt. Gewöhnlich begleiten Veränderungen der emotionalen Kontrolle, des Sozialverhaltens oder der Motivation die kognitiven Beeinträchtigungen.1 Demenz ist zunächst eine klinische, beschreibende Syndromdiagnose, die zu einer weiteren gewissenhaften und genauen ätiologischen Abklärung unter Einsatz von bildgebender Verfahren und Laboruntersuchungen verpflichtet. Sekundäre Demenzformen müssen, da ihre Ursachen behandelbar und reversibel sein können (z. B. metabolische, endokrine, kardiovaskuläre und paraneoplastische Erkrankungen, entzündliche Erkrankungen des Zentralnervensystems, Normaldruckhydrozephalus und raumfordernde Prozesse, Pseudodemenz im Rahmen einer Depression), von den primären, neurodegenerativen und unheilbaren Demenzformen (Alzheimer Demenz, frontotemporale Demenz, Lewy-Körperchen Demenz, Demenz bei Parkinson’scher Krankheit) unbedingt differentialdiagnostisch abgegrenzt werden.

Im Folgenden soll auf die Probleme, die mit der Eröffnung der Diagnose neurodegenerativer Demenzformen einhergeht, näher eingegangen werden. Sie sind progredient verlaufende und unheilbare Erkrankungen, die zu einem irreversiblen Verlust der persönlichen Autonomie sowie zu einem fortschreitenden geistigen und körperlichen Verfall führen. Es ist daher verständlich, dass die Vorstellung, an einer Alzheimer Demenz zu erkranken, in der Bevölkerung mit einer größeren Furcht verbunden ist, als dies bei anderen lebensbedrohlichen Krankheiten wie Krebs oder Schlaganfall der Fall ist.2 Schwierigkeiten mit der Übermittlung einer schlechten Nachricht sowie Überlegungen, den Betroffenen durch eine frühe Mitteilung der Diagnose einer unheilbaren und für sein weiteres Leben desaströsen Erkrankung schweren psychischen Belastungen auszusetzen und dadurch zu schaden, haben dazu geführt, dass bisweilen Information zur Erkrankung nicht oder nur mangelhaft erfolgt und Begriffe wie Demenz oder Alzheimer nur umschrieben oder überhaupt nicht erwähnt werden. Dieses Verhalten wird auch durch die im Anfangsstadium der Erkrankung manchmal vorhandene diagnostische Unsicherheit unterstützt.3 Der Wunsch der Mehrzahl naher Angehöriger von Demenzkranken, die Diagnose diesen nicht mitzuteilen, steht im Widerspruch zu deren Wunsch, sollten sie selbst an einer Demenz erkranken, die Diagnose zu erfahren.4 Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass der Wunsch nach einer Diagnosemitteilung auch bei der überwiegenden Mehrzahl der Patienten mit Demenz besteht.5 Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften befürworten durchwegs eine Diagnosemitteilung und umfassende Aufklärung von Patienten mit neurodegenerativen Demenzformen.6 Ob diese Empfehlungen nun tatsächlich im letzten Jahrzehnt zu einer signifikanten Änderung in der täglichen Praxis geführt haben, bleibt unklar. Es wird zwar über eine deutliche Zunahme in der Zahl von Patienten, die über ihre Diagnose aufgeklärt wurden, berichtet,7 dennoch wurden in den USA laut einer rezenten Untersuchung nur 45% der Patienten mit Alzheimer über ihre Diagnose informiert.8 Innerhalb Europas werden zwei Drittel der Patienten über die Diagnose aufgeklärt. Es existieren allerdings deutliche regionale Unterschiede (z. B. Schottland 80%, Spanien 23%).9 Dies weist auf eine Diskrepanz zwischen den Empfehlungen der Fachgesellschaften und den tatsächlichen Verhältnissen hin.

Nutzen und möglicher Schaden der Diagnosevermittlung

Die Verpflichtung zu einer klaren Diagnosemitteilung basiert auf dem Respekt vor der Autonomie des Patienten, die allerdings mit dem Fortschreiten der Krankheit eingeschränkt wird und letztendlich verloren geht. Daher soll die Diagnoseübermittlung möglichst in einem frühen Krankheitsstadium erfolgen. Aus einer frühen Aufklärung über die Diagnose ergibt sich eine Reihe von Aspekten, die für den Betroffenen von Nutzen sein können.

Patient und Angehörige gewinnen mehr Zeit zur Krankheitsbewältigung und zur Anpassung an die zu erwartenden Einschränkungen. Sie wissen nun über die Ursache von Persönlichkeitsveränderungen und Defiziten Bescheid und können sich mit der Diagnose auseinandersetzen. Milde kognitive Defizite können, wenn sie nicht erkannt werden, zu intrafamiliären und Partnerkonflikten, Kränkungen, Mobbing am Arbeitsplatz und Überforderung führen. Viele dieser belastenden Situationen können durch eine frühe Diagnoseübermittlung, die zu einem besseren Verständnis des Verhaltens der Betroffenen führt, vermieden werden. Erfolgt die Aufklärung rechtzeitig, können berufliche und finanzielle Entscheidungen sowie Fragen zur Zukunft (Testament, Pflege und Vorsorgevollmacht, Patientenverfügungen etc.) autonom getroffen werden. Auch wenn bei der Alzheimer Demenz keine Heilungsmöglichkeit besteht, so können Medikamente und nicht-pharmakologische Maßnahmen doch eine Verzögerung im Auftreten von Krankheitssymptomen bewirken. Sie sind vor allem in der frühen Krankheitsphase wirksam. Auch müssen Aufklärung und Einverständnis therapeutischen Maßnahmen vorangehen. Therapieplanung und Krankheitsbewältigung sind ohne diagnostische Aufklärung kaum durchführbar.10 Die meisten Vorteile der Diagnoseübermittlung sind somit vor allem im frühen Krankheitsstadium gegeben. Die für das Verständnis der Diagnose erforderliche mentale Kapazität und Krankheitseinsicht sind im fortgeschrittenen Krankheitsstadium oft nicht mehr vorhanden. Eine Diagnoseübermittlung wird dann sinnlos, da der Betroffene mit der Diagnose nichts anfangen kann und sie sofort wieder vergisst.11

Dem Nutzen einer Aufklärung steht die Sorge gegenüber, Kranke, für die es keine kurative Therapie gibt, unnötigen emotionalen Belastungen auszusetzen und zusätzliches Leid, Hoffnungslosigkeit bis hin zur schweren reaktiven Depression und Suizid hervorzurufen. Mehrere Studien zeigten, dass nach der Diagnoseübermittlung, abgesehen von einer kurzen Schockphase, keine Zunahme längerfristiger Depressionen und Suizide beobachtet wurden.12 Diese Ansicht wird auch in vielen Leitlinien vertreten. Andere Autoren hingegen fanden eine erhöhte Suizidrate in den ersten Monaten nach der Diagnosestellung13 oder in der frühen Krankheitsphase.14 Ein Noceboeffekt, der mit dem Wissen um die Diagnose Demenz verbunden ist und dem in der frühen Krankheitsphase eine Bedeutung zukommen könnte, ist ebenfalls in Betracht zu ziehen. Ältere Probanden, die über ihren positiven ApoE-4 Genotyp, der mit einer höheren Alzheimer-Risiko verbunden ist, informiert wurden, beurteilten ihre Gedächtnisleistung viel negativer und schnitten auch in kognitiven Tests schlechter ab, als eine Vergleichsgruppe mit einem ebenfalls positiven ApoE-4 Genotyp, die jedoch uninformiert blieb.15

Es herrscht generell Übereinstimmung, dass die Eröffnung der Diagnose für den Patienten mit einem größeren Nutzen als Schaden verbunden ist. Eines der Hauptargumente für eine offene Diagnosemitteilung ist der hohe Stellenwert, der in der westlichen Welt der Patientenautonomie zukommt. Dass dies in anderen Kulturkreisen nicht immer der Fall ist, muss berücksichtigt werden. Auch bestehen kulturelle Unterschiede im Umgang mit der Information, an einem unheilbaren Leiden erkrankt zu sein. Neben dem Recht um das Wissen der Diagnose, gibt es auch ein Recht auf das „Nicht Wissen-Wollen“, das die Unbeschwertheit des Betroffenen in einer Krankheitsphase bewahrt, in der noch keine deutliche Beeinträchtigung besteht.16 Die Diagnoseübermittlung und Aufklärung darf nicht um jeden Preis erfolgen. Ob eine Diagnoseübermittlung stattfindet oder ob sie unterlassen wird, bleibt trotz der generellen Empfehlung der Leitlinien zur Mitteilung immer eine Einzelfallentscheidung. Diese wird von den Prinzipien des ethischen Handelns in der Medizin geleitet, nämlich Autonomie des Patienten, Schadensvermeidung, Patientenwohl und soziale Gerechtigkeit.

Diagnosemitteilung

Erkrankte haben das Recht die Diagnose ihrer Erkrankung zu erfahren und aufgeklärt zu werden. Abgesehen von wenigen Ausnahmen soll der Patient seine Diagnose erfahren und über seine Erkrankung informiert werden. Der Arzt ist bei der Diagnoseübermittlung zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. Das bedeutet aber nicht, dass alles, was wahr ist, auch ausgesprochen werden muss. Aufrichtigkeit darf nicht mit brutaler Offenheit verwechselt werden. Trotz der Empfehlungen vieler Leitlinien, Patienten über die Diagnose Demenz aufzuklären, gibt es nur wenige Publikationen, die sich mit dem „Wie“ beschäftigen.17 Die Diagnosemitteilung ist nicht als einmaliges Ereignis, sondern als ein mehrstufiger Prozess zu sehen, der fast immer in mehreren Gesprächen ablaufen wird. In einer Vorbereitungsphase wird der aufklärende Arzt bemüht sein, eine vertrauensvolle Beziehung zum Patienten und seinen Angehörigen aufzubauen. Er wird sich ein Bild über den aktuellen Wissensstand, den Informationswunsch und Informationsbedarf sowie über das „Wissen-Wollen“ des Patienten machen. Dies kann zwanglos bereits während der diagnostischen Abklärung des Verdachtes auf eine Demenz erfolgen. Der Patient und seine Angehörigen können so auf die mögliche Diagnose einer Demenz vorbereitet werden. Eine schrittweise Diagnosevermittlung kann es leichter machen, den Patienten und seinen Angehörigen die schlechte Nachricht beizubringen. Es ist daher anzustreben, dass die Aufklärung über die Diagnose durch diejenige Person erfolgt, die die medizinische Abklärung geleitet hat. Angehörige oder dem Patienten nahestehende Bezugspersonen sollen früh miteinbezogen werden, wozu allerdings das Einverständnis des Patienten erforderlich ist. Fehlt dieses zunächst, sollte man darauf drängen, Angehörige rasch in weiteren Gesprächen einzubeziehen. Angehörige sind wichtige Informanten, Vermittler und Unterstützer. Darüber hinaus sind für Familienangehörige massive zukünftige Belastungen und einschneidende Veränderungen ihrer Lebensgestaltung zu erwarten, über die sie rechtzeitig informiert werden sollten.

Nach der Vorbereitungsphase und dem Abschluss der diagnostischen Untersuchungen wird ein formelles Diagnosegespräch erfolgen, in dem der Patient, wenn möglich im Beisein einer Vertrauensperson, über das Resultat der Untersuchungen und die sich daraus ergebende Diagnose einfühlsam und anteilnehmend informiert wird. Die Wortwahl soll verständlich und möglichst frei von medizinischen Fachausdrucken sein. Ein Arztbrief zur schriftlichen Zusammenfassung des Besprochenen, der nach dem Gespräch nochmals gelesen werden kann, ist hilfreich. Es ist nicht sinnvoll bei der Diagnoseeröffnung eine Fülle von Informationen zu vermitteln, die von den Betroffenen in einer emotional belastenden Situation nur teilweise oder überhaupt nicht erfasst werden können. Dies trifft vor allem dann zu, wenn diese Diagnose nicht erwartet wird. So haben die Mehrzahl der betroffenen Patienten (73%) und auch eine signifikante Minderheit ihrer Angehörigen (16%) nach der Diagnoseeröffnung die Diagnose nicht verstanden.18

Für das Diagnosegespräch muss genügend Zeit verfügbar sein. Es soll patientenzentriert ablaufen und dem Betroffenen muss genügend Raum gegeben werden, seine Gefühle und Emotionen auszudrücken. Bedürfnisse, Ängste und Vorstellungen des Patienten und seiner Angehörigen werden dabei in den im Mittelpunkt des Gespräches gerückt.19 Es muss ausreichend Gelegenheit für Fragen vorhanden sein. Der Respekt vor dem Patienten gebietet, dass bei Anwesenheit von Vertrauenspersonen in erster Linie mit dem Patienten und nicht über den Patienten gesprochen wird. Auch wenn die Informationen über die Diagnose wahrheitsgetreu und ohne Beschönigung vermittelt werden sollen, darf der Patient nicht im Zustand der Hoffnungslosigkeit zurückgelassen werden. So kann auf das erst frühe Stadium der beginnenden Demenz und die entsprechenden Adaptionsmöglichkeiten hingewiesen werden, auf diejenigen Hirnleistungen, die in den neuropsychologischen Testuntersuchungen nicht betroffen waren, auf die Bedeutung der kognitiven Reservekapazität,20 auf die unterschiedlichen und nicht vorhersehbaren Krankheitsverläufe, auf medikamentöse und nichtmedikamentöse Maßnahmen, durch die eine Verzögerung des Krankheitsverlaufes erreicht werden kann und schließlich auf Fortschritte in der Demenzforschung. Dem Patienten und seinen Angehörigen soll vermittelt werden, dass sie mit ihren Ängsten und Befürchtungen nicht allein gelassen werden, dass sie auch im weiteren Krankheitsverlauf betreut werden und bei zukünftigen Problemen Lösungen gesucht werden.

Weitere Gespräche werden auf spezifische Fragen wie Lebensplanung, Verhalten im Beruf und Umfeld, Vorsorge, Patientenverfügung, Therapiekonzepte etc. eingehen. Informationen über soziale Hilfen und Patientenorganisationen dürfen nicht vernachlässigt werden. All das dient dem obersten Ziel der Diagnosemitteilung, nämlich gemeinsam mit den Betroffenen eine Strategie zur Krankheitsbewältigung zu entwickeln.

Prädiktive und präsymptomatische Diagnostik

Moderne bildgebende Verfahren, wie Positronen-Emissions-Tomographie-Untersuchungen mit Amyloid spezifischen Liganden, die Amyloidablagerungen im Gehirn sichtbar machen und der Einsatz von Biomarkern, wie die Bestimmung des Gehaltes von Amyloid-beta 1-42 (Aß42) und phosphoriliertem tau-Protein (Phospho-tau) in der Cerebrospinalflüssigkeit, können in der frühen Krankheitsphase einer klinisch manifesten Alzheimer Krankheit diagnostisch hilfreich sein.21 Zum jetzigen Zeitpunkt können Biomarker noch nicht die klinische Diagnose ersetzen, sie sind aber in manchen Situationen eine nützliche diagnostische Ergänzung.22

Die neurodegenerativen Demenzformen beginnen lange vor ihrer klinischen Manifestation. Im präklinischen Stadium, in dem noch keine Symptome vorhanden sind, sind diese modernen diagnostischen Techniken noch nicht ausreichend spezifisch, um mit genügender Genauigkeit feststellen zu können, ob und wann eine Alzheimer Krankheit auftreten wird. Ihr Einsatz wird in der präklinischen Krankheitsphase außer zu Forschungszwecken nicht empfohlen.23 Dies trifft auch für die Bestimmung des Apolipoprotein-E (ApoE) Genotyps zu, aus dem sich im Einzelfall weder die Erkrankungswahrscheinlichkeit noch der Krankheitsbeginn ableiten lassen.24

Molekulargenetische Untersuchungen

Eine familiäre Häufung ist bei der Alzheimer Erkrankung und bei der frontotemporalen Demenz bekannt. Sie wird entweder auf einen monogenetisch nach den Mendelschen Regeln vererbten Gendefekt oder auf eine komplexe und polygenetisch vererbte erhöhte Suszeptibilität zurückgeführt. Genetische Tests besitzen klinisch nur bei Fällen mit einem monogenetisch vererbten Gendefekt eine diagnostische Bedeutung. Demenzen mit monogenetischem Erbgang werden in der Regel autosomal dominant vererbt und zeigen eine hohe Penetranz. Bisher sind nur rund 500 Familien mit autosomal dominant vererbter Alzheimer Krankheit weltweit bekannt. Sie werden, soweit bekannt, durch Mutationen an den Genen APP, PSEN1 oder PSEN2 verursacht. Bei der frontotemporalen Demenz hingegen werden 10% bis 30% aller Krankheitsfälle monogenetisch vererbt. Hier sind Mutationen an den Genen MAPT, GRN und C9ORF72 für 80% der Fälle mit Verdacht auf monogenetischem Erbgang verantwortlich.25 Klinisch handelt es sich bei den monogenetisch vererbten Demenzen um frühe, meistens bereits in der 5. und 6. Lebensdekade manifest werdende Erkrankungen, die in mehreren Generationen gehäuft zu beobachten sind. Der Verdacht auf eine familiäre Demenz kann bei klinisch manifest Erkrankten durch eine molekulargenetische Untersuchung bestätigt werden. Die Durchführung einer genetischen Untersuchung bei Patienten mit klinisch manifester Demenz hat, abgesehen von der Sicherung der klinischen Diagnose, zusätzliche Auswirkungen auf klinisch noch gesunde Familienmitglieder, die mit einem erhöhten Krankheitsrisiko behaftet sein können. Bei Kindern des Patienten beträgt dieses Risiko 50%. Es hängt zunächst von der Zustimmung des Patienten ab, ob ein positives Untersuchungsergebnis an möglicherweise betroffene Angehörige weitergegeben werden soll. Untersuchungen mit molekulargenetischen diagnostischen Verfahren sind an gesetzliche Auflagen gebunden und erfordern vor der Testung und bei der Befundbesprechung eine Beratung durch einen Facharzt für Humangenetik oder einem für das betreffende Indikationsgebiet zuständigen Facharzt mit Qualifikation auf dem Gebiet der Humangenetik. Bei entsprechender Disposition für eine erbliche Erkrankung mit gravierenden physischen, psychischen und sozialen Auswirkungen ist auch auf die Zweckmäßigkeit einer zusätzlichen Beratung durch einen Psychologen oder Psychotherapeuten hinzuweisen.26 Die Indikation zu prädiktiven Untersuchungen an klinisch nicht betroffenen Angehörigen ist wegen der schwerwiegenden Folgen und dem Fehlen therapeutischer Konsequenzen besonders gewissenhaft abzuwägen. Dies gilt in noch größerem Maß für die pränatale Diagnostik und für die Präimplantationsdiagnostik. Es ist ethisch nicht vertretbar, aus dem Wissen über eine sich 50 Jahre später manifestierende Erkrankung, für die es bis dahin durchaus eine kurative Therapiemöglichkeit geben könnte, ungeborenes Leben zu beenden. Als Gründe für eine prädiktive genetische Testung klinisch nicht betroffener Angehöriger werden Abklärung subjektiv wahrgenommener Gedächtnisstörungen, Lebensplanung und Familienplanung angegeben. Der Ablauf prädiktiv genetischer Untersuchung richtet sich nach Leitlinien, wie sie für die prädiktive Testung von Angehörigen von Patienten mit Chorea Huntington vorgeschlagen wurden, einer Erbkrankheit mit vergleichbarem desaströsen Verlauf.27 Eine prädiktive Testung wird nur bei Erwachsenen erfolgen. Kinder sind wegen fehlender Konsequenzen von einer prädiktiven Testung ausgeschlossen. Für die Entscheidung zu einer prädiktiven Testung muss genügend Zeit vorhanden sein. Vor der Testung muss mindestens zweimal in einem größeren zeitlichen Intervall über die Konsequenzen und Tragweite eines positiven Befundes, über das Fehlen präventiver Maßnahmen und über die Möglichkeit einer psychischen Schädigung informiert werden. In den Vorgesprächen sollten auch Art und Weise einer psychotherapeutischen Begleitung in der Posttest-Phase ebenso wie das Vorgehen bei der Weitergabe eines positiven Befundes an potentiell mitbetroffene Angehörige vereinbart werden. Bei Hinweisen auf gravierende psychische oder psychiatrische Probleme sollte die Testung verschoben werden. Es ist oft günstig, die Information über das Testergebnis in Anwesenheit einer Vertrauensperson zu übermitteln. Falls die Möglichkeit besteht, sollte man die Betroffenen über klinische Studien zu präventiven Maßnahmen informieren.

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Sämtliche Internetseiten zuletzt abgerufen am 16. 11. 2015.

Anschrift der Autoren:

Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Kristoferitsch
Karl Landsteiner Institut für neuroimmunologische und neurodegenerative Erkrankungen SMZ-Ost-Donauspital
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