Bioethik Aktuell

Den Suizid gemeinsam planen: Das neue Gesetz birgt viele offene Fragen

Stellungnahmen in dieser sensiblen Frage sind nur bis 12. November möglich

Lesezeit: 04:03 Minuten

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Der Entwurf zum sog. Sterbeverfügungsgesetz liegt seit 23. Oktober 2021 vor. Deutlich wird mittlerweile, dass das Gesetz in der Praxis viele Fragen offenlässt. Hier eine Auswahl der kontrovers diskutierten Punkte.

1. Was ist mit "schwerer, dauerhafter Krankheit" gemeint?

Laut Gesetz soll auch jemand legal bei einem Suizid unterstützt werden dürfen, der „an einer schweren, dauerhaften Krankheit mit anhaltenden Symptomen leidet“, also einer chronischen Erkrankung, die die Lebensführung „beeinträchtigt“, aber nicht zum Tode führt. Wer subjektiv meint, seinen Leidenszustand in dieser Situation „nicht anders abwenden“ zu können als durch einen Suizid, soll dabei Unterstützung bekommen.

„Hier handelt es sich um eine Unschärfe, die einer gefährlichen Aufweichung der ursprünglichen Intention des Gesetzesentwurfes gleichkommt“, sagt Johannes Bonelli, IMABE-Direktor. Ab wann eine Erkrankung „schwer“ sein soll, ist "unbestimmt und elastisch dehnbar", so der Internist und Palliativmediziner. Viele ältere, multimorbide Patienten, de facto auch alle Menschen mit Behinderung oder Unfallopfer, werden darin eingeschlossen. Damit werde ein "verheerendes Signal" gesendet, wonach der Suizid bei Menschen, die besonders auf andere angewiesen sind, eine „Lösung“ sei. Menschen mit psychischen Erkrankungen werden per se nicht ausgeschlossen, obwohl gerade sie zu einer besonders gefährdeten Gruppe gehören. Auch damit untergräbt der Gesetzgeber seine ursprüngliche Intention des Schutzes von vulnerablen Menschen. 

2. Ärztliche Aufklärung und "Hinweise" alleine genügen nicht

Der „Lebenswille eines Menschen“ hängt „ganz entscheidend auch von seiner sozialen, ökonomischen und familiären Lebenssituation ab“, betont Franz Joseph Huainigg. Die Aufklärung müsse daher nicht nur den medizinischen Aspekt, sondern auch die soziale Abklärung der Möglichkeiten für ein selbstbestimmtes Leben umfassen, sagt der ehemalige ÖVP-Behindertensprecher im Standard (online, 28.10.2021).

Und: Was nützen die besten Hinweisen auf Alternativen, wenn man gleichzeitig keinen Zugang dazu hat? Autonomie setzt Wahlfreiheit voraus, so Ethikerin Susanne Kummer (IMABE) (vgl. Kurier, online 28.10.2021). Zahlreiche Institutionen fordern daher einen Rechtsanspruch auf Palliativ und Hospizversorgung. Um Betroffenen ernsthafte Verbesserungen der Lebensbedingungen bieten und eine positive Lebensperspektive aufzeigen zu können, sei eine Frist von drei Monaten zwischen Wunsch und Durchführung des Suizids viel zu knapp, ergänzt Huainigg gegenüber den Salzburger Nachrichten (4.11.2021). Die Genehmigungsfristen für Hilfsmittel wie Beatmungsmaschine und Rollstuhl, für persönliche Assistenz oder die Schaffung einer anderen Wohnsituation benötigten weit mehr Zeit, weiß Huanigg aus seiner eigenen Erfahrung.

3. Wie soll einem Suizidgefährdeten „Selbstbestimmung“ bescheinigt werden?

Es gibt bislang kein wissenschaftlich fundiertes Instrumentarium zur Erfassung der „Freiverantwortlichkeit“ und des „autonom gebildeten Willens“ eines suizidalen Menschen und insbesondere keine praktisch umsetzbare Möglichkeit, dies sicher und zweifelsfrei festzustellen, heißt es in einer Stellungnahme der Deutschen Palliativgesellschaft zum Umgang mit Todeswünschen (vgl. Empfehlungen zum Wunsch nach assistiertem Suizid, Sept.2021). Suizidwünsche sind ambivalent, sie können sich ändern. Kein Suizidaler ist eine autonome Insel. Entscheidend ist, wie seine Umgebung sich zu ihm verhält und welche lebensbejahenden alternativen Wege ihm eröffnet werden. Die Suizidforschung zeigt, dass bei 90 Prozent aller Suizidfälle eine behandelbare psychiatrische Erkrankung zugrunde liegt. Altersdepressionen bleiben bis heute häufig unerkannt. Gerade bei suizidwilligen Personen ist daher ein verpflichtendes psychiatrisches Gutachten zu fordern.

4. Was tun bei „Komplikationen“?

Wie sollen Angehörige zu Hause reagieren angesichts von „Komplikationen“ bei einem Suizid durch bereitgestelltes Gift? Welche moralische Konflikte (moral distress) werden Pflegenden und Ärzten zugemutet? Etwa, wenn in einer Pflegeeinrichtung Beihilfe zum Suizid geduldet wird, der Betroffene das Natrium-Pentobarbital eingenommen hat, aber wieder aufwacht, sich übergibt und die selbst induzierte Agonie sich über Stunden oder – wie im US-Bundesstaat Oregon berichtet auf bis zu 4 (!) Tage (vgl. Oregon Death with Dignity Act 2020, February 26, 2021) – qualvoll hinzieht? Zuschauen? Den Notarzt rufen? Bei einer Einweisung ins Krankenhaus: Wird der Patient angesichts der Sterbeverfügung liegen gelassen? Illegal beim Tod „nachhelfen“?

5. Wer bezahlt die Kosten für die Suizid-Beihilfe? Ausbau von Hospiz- und Palliativversorgung: Woher kommt das Geld?

Laut Gesetz müssen zwei Ärzte ein Aufklärungsgespräch mit dem Suizidwilligen führen und entsprechend dokumentieren. Welches Honorar darf dafür verlangt werden? Wer kommt dafür auf? Sollen Aufklärungsgespräche für Suizidbeihilfe und die tödlichen Präparate von den Krankenkassen finanziert werden? Die Planung und Ermöglichung von Suiziden stellt jedenfalls keine Gesundheitsleistung dar, auch wenn sie zweifellos Kosten sparen würde, wie fragwürdige Berechnungen aus Kanada zeigen (vgl. Sterbehilfe spart Kosten: Kanadas Ökonomen favorisieren Sterbehilfe-Ausweitung, Biotehik akktuell, 19.11.2020). Außerdem würde eine Kostenübernahme durch die Kassen nicht einer gewissen Ironie entbehren: Für den von der Regierung angekündigten kostenintensiven flächendeckenden Ausbau der Hospiz- und Palliativversorgung bis 2024 gibt es bislang noch keine finanzielle Zusage - weder von den Ländern noch von der Sozialversicherung.  

Stellungnahmen zum Sterbeverfügungsgesetz können noch bis 12. November eingebracht werden. Link: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/ME/ME_00150/index.shtml#tab-Stellungnahmen 

 

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