Das Unternehmen OpenAI gab vor kurzem bekannt, wie stark seine Nutzerzahlen gestiegen sind: ChatGPT wird derzeit von etwa 800 Millionen Usern wöchentlich verwendet. Für Emails, Brainstorming, oder Zusammenfassungen am Arbeitsplatz, der Uni oder der Schule – die Anwendungen sind vielfältig. Und so steigt auch schleichend die Akzeptanz und Normalisierung des regelmäßigen Gebrauchs der neuen KI-Technologie.
Forschungsteam untersucht Gehirnaktivität beim Schreiben
Eine Forschergruppe untersuchte in einer MIT-Studie (2025), welche kognitiven Auswirkungen die Verwendung von KI-Chatbots – auch Large-Language-Models (LLM) genannt – beim Essayschreiben hat. 54 Studienteilnehmer schrieben Essays unter drei Bedingungen und wurden dabei mit EEG überwacht: eine KI-Gruppe, eine Suchmaschinen-Gruppe und eine Gehirn-Gruppe ohne technische Hilfe.
Die EEG-Analyse der drei Gruppen unterschied sich signifikant: Die LLM-Gruppe wies die niedrigste funktionelle Gehirnkonnektivität auf. In der Kontrollgruppe ließen sich die stärksten Verbindungen nachweisen.
Niedrigere Gehirnaktivität bei Schreiben mit KI
Die kognitive Beteiligung und Konzentration war bei der KI-Gruppe durchwegs am niedrigsten: Gehirnregionen, die mit Aufmerksamkeit, Erinnerung und reflektiertem Denken assoziiert sind, waren in dieser Gruppe am wenigsten aktiv. Die Forscher bezeichnen dieses Phänomen als „kognitive Kosten“: Bei zu viel Outsourcing von Denkarbeit gibt es niederschwellige, sich ansammelnde Auswirkungen auf die kognitiven Fähigkeiten.
In der letzten Essayrunde wurden die Gruppen getauscht: Die KI-Gruppe arbeiteten nun ohne ChatGPT und die Kontrollgruppe mit. Die Gruppe, die KI erst beim letzten Essay verwendete, konnte das Tool besser für sich nützen als die Gruppe, die von Beginn mit KI arbeitet.
Originalität und Tiefe waren bei der Gehirn-Gruppe am höchsten
Die Texte wurden von Lehrern und einer KI bewertet. Die KI-Gruppe schnitt schlechter in Originalität und Tiefe ab, aber besser in Grammatik und Struktur. Die Kontrollgruppe produzierte die originellsten Texte mit mehr Nuance und Tiefe.
Zu frühe Verwendung von KI könnte der Entwicklung schaden
Neben neurophysiologischen Hinweisen bringt eine qualitative Studie des Societies Journal (2025) aus der Schweiz komplementäre Ergebnisse. Es wurde anhand von Interviews mit 666 Teilnehmern die Korrelation zwischen KI-Verwendung und der Fähigkeit, kritisch zu denken untersucht.
Die Ergebnisse zeigen: Je häufiger KI-Tools genützt wurden, desto schwächer schnitten Teilnehmer beim kritischen Denken ab. Jüngere Teilnehmer wiesen eine höhere Abhängigkeit von KI-Tools auf und erzielten schlechtere Resultate beim kritischen Denken. „Cognitive offloading“ – das Auslagern kognitiv herausfordernder Arbeit an KI-Tools – wird von den Forschern als maßgebliches Risiko für die kognitive Entwicklung identifiziert.
Beide Studien unterstreichen, wie wichtig es in einer Zeit des KI-Booms ist, die kognitive Entwicklung und das kritische Denken auf pädagogischer Ebene zu fördern - besonders bei Minderjährigen.
Nimmt uns KI das Denken ab?
Was also macht das automatische, knopfdruckgesteuerte Generieren von perfekt polierten Texten mit uns und unserer Fähigkeit kritisch zu denken? Herkömmliche Suchmaschinen lieferten zwar Informationen, aber noch keine Ordnung und Interpretationen.
Chatbots übernehmen heutzutage nicht nur das Suchen, sondern das Denken selbst. Das mag in vielen Fällen unglaublich praktisch sein, doch die Bequemlichkeit kommt mit einem Preis: Wenn wir uns zu sehr auf Chatbots verlassen, vernachlässigen und schwächen wir unsere eigene Fähigkeit kritisch zu denken, Probleme zu lösen, kreative Ideen zu finden, und uns selbst tiefgehend mit einem Thema auseinanderzusetzen.
KI ist kein Taschenrechner
Oft werden LLMs mit einem Taschenrechner verglichen. Schon bei den ersten Computern und Taschenrechnern warnten manche, sie könnten das Kopfrechnen schwächen. Heute finden wir es nicht bedenklich, Taschenrechner zu verwenden.
LLMs jedoch übersteigen die Fähigkeiten eines Taschenrechners um Längen. Durch ihre generative und autonome Natur ahmen sie das nach, was uns im Gegensatz zu Rechnern menschlich macht: Sprache, Kreativität, neue Gedanken, Humor, kritische Analyse. So wie der Taschenrechner das Rechnen ersetzt hat, könnte KI das Denken ersetzen. Diese Erfindung markiert einen fundamentalen Umbruch in der Technologie.
10 Regeln der digitalen Welt
In der neu gegründeten Future Foundation haben sich 16 führende Wissenschaftler und aus zwölf Fachbereichen und elf Universitäten in Österreich, Deutschland und der Schweiz zusammengeschlossen - unter ihnen die Wirtschaftsinformatikerin Sarah Spiekermann (WU Wien), der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs (Universität Heidelberg) und der Psychologe Gerd Gigerenzer (Direktor em. des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin). Die Initiatoren der Future Foundation hinterfragen einen blinden Fortschrittsglauben, der die „Digitale Transformation“ als unausweichliches Schicksal erscheinen lässt. Menschenwürde, Umwelt und Gesellschaftsordnung ebenso wie Demokratie und Wirtschaft würden durch einen unreflektierten Umgang mit KI in eine gefährliche Schieflage geraten.
Das interdisziplinäre Forum hat „10 Regeln für die digitale Welt“ aufgestellt. Darin werden programmatische Leitlinien und Orientierung für einen förderlichen und menschenzentrierten Umgang mit Technologie ausformuliert. Die Regel Nr. 7 – „Lasst Euch nicht Eurer menschlichen Potenziale berauben“ – scheint besonders wichtig in Bezug auf die Verwendung generativer KI, denn: „Die gegenwärtige Technikgestaltung ist nachweislich darauf ausgerichtet, unsere Aufmerksamkeit zu konsumieren und untergräbt die Fähigkeit, selbst zu denken, (…).”, so die Future Foundation.
Warum ist „cognitive offloading“ so verlockend?
Unsere Gehirne sind darauf ausgelegt, bequeme Lösungen zu finden, um Energie zu sparen. Unser Instinkt sagt uns: „Bleib auf der Couch, statt Sport zu machen.“ Genau hier liegt die Gefahr der Normalisierung von ChatGPT.
Wachstum braucht Anstrengung, Reibung, Übung und Wiederholung. Chatbots liefern stattdessen eine Abkürzung und berauben uns leicht eines verdienten Erfolgsgefühls. Wenn wir zu oft und regelmäßig die Abkürzung nehmen und unsere eigene „Gehirnmuskulatur“ nicht trainieren, wird sie schlaff.
Mit Bedacht kann KI unsere Fähigkeiten schärfen
ChatGPT kann uns helfen, effizienter zu arbeiten, aber es kommt darauf an, wie und wann wir sie verwenden. Sie kann unsere Intelligenz fördern, aber sollte uns nicht träge machen. Denn was gewinnen wir, wenn wir durch KI-generierte Inhalte Zeit sparen, dabei aber nichts lernen?
Robert B. Tucker – Futurist und Innovationsguru – weist auf vier Leitlinien im Umgang mit Chatbots hin: 1) Denke zuerst selbst, 2) Greife nicht automatisch zum Chatbot, 3) Gib die Herausforderung nicht ab, 4) Nimm regelmäßigen Abstand und reflektiere deinen KI-Konsum.
Das Erfolgserlebnis ist eine wichtige Erfahrung
Was bedeutet es, selbst etwas zu schaffen? Etwas mit Mühe erreicht zu haben, gibt Befriedigung und Selbstbewusstsein. Die Gefahr ist nicht nur, dass wir unsere kreative Denkfähigkeit vernachlässigen, sondern eine der besten Erfahrungen verlieren: das Erfolgserlebnis - das Gefühl, selbst etwas Gutes geschafft zu haben. Gerade junge Menschen brauchen Erfolgserlebnisse, um Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten aufzubauen - auch wenn dieser Lernprozess mehr Zeit kostet und nicht immer effizient ist.
Selbst zu denken, macht uns glücklich
Laut Aristoteles ist das, was uns als Menschen besonders macht, unsere Fähigkeit rational und vernünftig zu denken. Es ist unsere spezifische Funktion, unser „Ergon“. Die regelmäßige Ausübung dieser Fähigkeit führt laut ihm zu einem guten und glücklichen Leben. Das gute Leben besteht nicht im passiven Konsumieren, sondern im aktiven Gestalten unserer Gedanken und unserer Welt. Wenn wir Technik ausgewogen nützen, können wir davon profitieren und dennoch die Autoren unserer Gedanken bleiben.
 
                     
						
							 
                     
                        