Bioethik Aktuell

Giovanni Maio eröffnet Young MedEthics: „Zuhören ist bereits Therapie“

Der Ethiker ermutigt junge Menschen in Gesundheitsberufen, ihre „prosoziale Haltung“ zu bewahren

Lesezeit: 05:16 Minuten

Mit einem Plädoyer für eine menschenzugewandte Medizin eröffnete der Freiburger Medizinethiker Giovanni Maio den zweiten Young MedEthics-Kurs von IMABE. Statt Patienten auf Befunde zu reduzieren, braucht die Medizin der Zukunft Zuhören, Beziehung und echte Begegnung.

© Fotolia_Alexander Raths

In seinem Vortrag „Den kranken Menschen verstehen – Für eine Medizin der Zuwendung“ analysierte der Philosoph und Mediziner Giovanni Maio, Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, die grundlegenden Defizite der modernen Medizin und zeigte Wege zu einer heilsameren Praxis auf.

Der Denkfehler der modernen Medizin

Maio machte deutlich, dass die heutige Medizin einem fundamentalen Irrtum aufsitzt: Sie versteht sich als angewandte Naturwissenschaft und folgt damit einem Paradigma des 19. Jahrhunderts. Dieses Denken präge bis heute Ausbildung und Praxis. „Das Medizinstudium vermittelt nur einseitig Fakten“, kritisierte Maio. „Es suggeriert, dass man durch die Ansammlung von Fakten per se schon eine gute Ärztin, ein guter Arzt wird. Das ist ein Denkfehler.“

Das mechanistische Menschenbild der modernen Medizin führt dazu, dass nur das Messbare als relevant gilt. Was sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt, erscheint bedeutungslos.

Die Kunst der individuellen Behandlung

Bereits in der Antike war bekannt, dass Krankheiten individuell verlaufen. Maio erinnerte an die Diätetik, die festhielt, „dass jeder auf seine Weise krank wird; deshalb muss man die Therapie so wählen, dass sie dem Einzelnen gerecht wird.“ Heute dagegen herrsche das „Menschen-als-Maschine“-Bild.

Doch „es gibt keine Standardbehandlung“, mahnte Maio. Ärztliche Professionalität zeige sich vielmehr in der „Fähigkeit, im Einzelfall einordnen zu können“. Wer meint, es genüge „abstrakte Regeln in Form einer Handreichungslogik“ umzusetzen, „sei kein Arzt, sondern ein Mechaniker“.

Befund und Befinden

Im Zentrum seiner Kritik steht die Fixierung auf objektive Befunde unter Vernachlässigung des subjektiven Befindens. Die moderne Medizin konzentriert sich auf die „Was-Frage“: Was hat der Patient? Welche Krankheit liegt vor? Zweifellos sei dies wichtig, aber bei weitem nicht ausreichend. Wer sich nur auf Diagnosen und Laborwerte konzentriert, lässt den Menschen mit der existenziellen Bedeutung seiner Krankheit allein.

Die vergessene Wer-Frage

Maio fordert, die „Was-Frage“ durch die „Wer-Frage“ zu ergänzen: „Wer hat diese Diagnose? Wer ist dieser Mensch?“ Erst das Zusammendenken beider Perspektiven ermöglicht eine ethisch verantwortbare Medizin. Am Beispiel der Krebsmedizin zeige sich, dass es nicht genüge, Tumorstadien und Bilder zu analysieren. Entscheidend sei, in welcher Lebenssituation sich eine Patientin befinde, was sie von der Therapie erhoffe, wie sie selbst ein gutes Leben definiere. „Konzepte des guten Lebens sind keine naturwissenschaftlichen Elemente. Das sind Konzepte, die mit Wertfragen zu tun haben, mit Sinnfragen.“

Medizin als praktische Wissenschaft

Medizin sei keine angewandte Naturwissenschaft, sondern eine praktische Wissenschaft– eine Handlungswissenschaft, die objektives Faktenwissen mit verstehensorientiertem Wissen verbinden muss. „Medizin ist die Verschränkung eines zweckrationalen Handelns auf der einen Seite – der Operateur, der einen Blinddarm entfernt, handelt zweckrational – aber sie erschöpft sich nicht darin“, erläuterte Maio. „Sie handelt zugleich verständigungsorientiert.“

Diese Doppelstruktur macht die Komplexität ärztlichen Handelns aus: Medizin beruhe auf verrichtender Arbeit und Beziehungsarbeit zugleich. Fehle eine der beiden Säulen, „ist diese Medizin nicht mehr gut im ethischen umfassenden Sinn“.

Die heilsame Kraft des Zuhörens

Am Anfang einer guten Medizin steht nicht die Aktion, sondern die Interaktion. „Am Anfang steht das Gespräch, das Zuhören. Das ist das, was in der Medizin am meisten unterschätzt wird“, betonte Maio. Zuhören sei keine Zeitverschwendung, kein bloßes „Sahnehäubchen“, sondern zentral. Denn mit dem Zuhören beginnt bereits die Therapie.

Er beschrieb die paradoxe Struktur dieses Vorgangs: „Wenn man zuhört, dann spricht man schon. Das Zuhören ist faszinierend schön, weil man verdeutlicht, dass das, was der andere zu sagen hat, wichtiger ist als das, was man selbst denkt. Das ist eine Form der Anerkennung.“ Durch echtes Zuhören werde dem Patienten vermittelt, dass er trotz Krankheit ein ganzer Mensch bleibe, ein Subjekt auf Augenhöhe.

Das Zuhören habe unmittelbare therapeutische Wirkung: Es nimmt dem Patienten das Gefühl, allein zu sein mit seiner Krankheit, und ermöglicht ihm, sich mitzuteilen. „Menschen, die in dieser Krise sind, fühlen sich damit entlastet. Sie fühlen, dass ihnen schon dadurch geholfen wird, indem man sie ernst nimmt“, so Maio.

Krankheit als existenzielle Erfahrung

Krankheit verändert das Selbst- und Körperbild tiefgreifend. Eine Krebsdiagnose sei „eine traumatische Erfahrung“. Die Menschen erlebten, „dass ihnen der Boden unter den Füßen weggezogen wird. Sie fallen ins Bodenlose.“ Die subjektive Perspektive des Patienten werde meist unterschätzt.

Auch chronischer Schmerz, so Maio, sei mehr als ein physisches Symptom: „Der Schmerz unterbricht das Leben. Er blockiert den Patienten, führt ihn zurück auf sein Körpersein und erklärt alles andere für nichtig.“ Die Folgen seien Isolation und Vereinsamung.

Künstliche Intelligenz: Chance oder Gefahr?

Zur Rolle der Künstlichen Intelligenz in der Medizin nahm Maio eine differenzierte Haltung ein: Computer könnten hervorragend rechnen, hätten aber „überhaupt keine Vorstellung davon, wovon sie sprechen“. Was Traurigkeit oder Glück bedeute, entziehe sich maschinellem Verständnis. „Das Verstehensorientierte kann der Computer nicht leisten, er kann nur rechnen.“

Besorgniserregend sei, dass viele Ärzte Computerergebnissen mehr vertrauten als ihrer eigenen Intuition. „Das ist Ausdruck der Sozialisation der Ärzte – aber gleichzeitig Ausdruck eines Gedankenfehlers.“ Gerade in Zeiten der KI brauche es „den ärztlichen Sachverstand im Sinne der praktischen Urteilskraft noch viel dringender“.

Eine Medizin der Verschränkung

Maios Vision einer guten Medizin ist eine der Verschränkung: „Die Verbindung aus objektivem Befund und subjektivem Befinden, die Verbindung aus Evidenz und Beziehung, die Verbindung aus handwerklichem Tun und Verstehensorientierung.“ Nur diese doppelte Perspektive werde der Medizin als helfender Wissenschaft gerecht.

Die ethische Aufgabe bestehe darin, für diese zweite, hermeneutische Säule zu sensibilisieren: „Wir müssen die Perspektive des Patienten als Ausschlaggebendes in den Mittelpunkt stellen.“ Ärztinnen und Ärzte sollten „ein Menschenbild und ein Wissenschaftsverständnis vermittelt bekommen, das sie dazu befähigt, schwierige Situationen selbst zu lösen durch reflektiertes Handeln.“

Der lebhafte Austausch mit den Teilnehmern zeigte, dass Maios Appell auf fruchtbaren Boden fiel – gerade bei der jungen Generation, die mit „enormem prosozialem Grundverständnis“ in die Medizin ging. Maio schloss mit einem motivierenden Satz: „Die Veränderung der Welt beginnt in unseren Köpfen und in unseren Handlungen.“

Young MedEthics: Teilnahme ist laufend möglich

Young MedEthics richtet sich an alle Interessierten (in Ausbildung, Beruf) unter 35 Jahren in Medizin, Pflege und anderen Gesundheitsberufen. Information zu weiteren Terminen finden sich unter www.youngmedethics.com und www.imabe.org.

Institut für Medizinische
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