Bioethik Aktuell

Wie assistierter Suizid Gesellschaft und Medien verändert

Assistierte Suizide nehmen zu – mediale Verantwortung rückt in den Fokus

Lesezeit: 04:27 Minuten

Zum Welttag der Suizidprävention zeigen Daten: Wo assistierter Suizid verfügbar wird, steigen die absoluten Fallzahlen dramatisch. Auch die Medien tragen Verantwortung. Ein Gastkommentar in der Tageszeitung "Die Presse" (online 6.9./print 7.9.2025) von IMABE-Direktorin Susanne Kummer

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Es ist paradox: Am Welttag der Suizidprävention müssen wir über ein Phänomen sprechen, das die Prävention systematisch untergräbt. Denn überall dort, wo assistierter Suizid legalisiert wurde, passiert dasselbe: Die Zahlen werden nicht weniger. Sie steigen. Wollen wir das als Gesellschaft?

Empirische Evidenz aus der Schweiz

Die Daten widersprechen der These, wonach „gewaltsame Suizide“ weniger würden: Assistierter Suizid ersetzt andere Formen der Selbsttötung nicht, sondern addiert sich zu ihnen.

Die Schweizer Statistik liefert eindeutige Zahlen: Zwischen 2010 und 2023 stiegen die assistierten Suizide von Schweizer Staatsbürgern um 385 Prozent – von 356 auf 1.729 Fälle. Parallel dazu blieb die Zahl der „konventionellen“ Suizide konstant bei etwa 1.000 jährlich. Mit insgesamt rund 2.700 Suiziden pro Jahr verzeichnet die Schweiz heute doppelt so viele wie Österreich bei vergleichbarer Bevölkerungsgröße.

Österreich zieht nach

Auch hierzulande zeigt sich nach Einführung des Sterbeverfügungsgesetzes 2022 eine beunruhigende Entwicklung: 2023 waren es noch 98 assistierte Suizide, aber bis Juli 2025 wurden bereits 719 Sterbeverfügungen errichtet und 588 Präparate in Apotheken ausgegeben. Das Muster wiederholt sich mit erschreckender Präzision. Auf die Frage, warum, spielen die Angst vor Abhängigkeit und Verlust an Würde die größte Rolle. Schmerzen rangieren erst an vierter Stelle, so das Ergebnis einer Studie von 2025.

Mediale Verantwortung und Werther-Effekt

Die Weltgesundheitsorganisation hat 2023 ihre Richtlinien zur Darstellung von Suizid in Medien aktualisiert. Die zentralen Empfehlungen sind eindeutig: Verzicht auf prominente Platzierung, Vermeidung detaillierter Methodenbeschreibungen und besondere Zurückhaltung bei der Berichterstattung über Prominente. Der sogenannte Werther-Effekt – die Nachahmung medialer Suiziddarstellungen – ist bei bekannten Persönlichkeiten besonders stark ausgeprägt.

Kein seriöser Journalist würde einem unbekannten Anrufer eine Bühne bieten, der seinen Suizid ankündigt. Warum geschieht dies also bei Prominenten?

Mehr als 150 wissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass sensationsträchtige Darstellungen von Suizid in Nachrichtenberichten aufgrund von Imitationssuiziden zu einem Anstieg der Suizidrate in der Bevölkerung führen. Diese Effekte betreffen auch den assistierten Suizid, wie der aktuelle Leitfaden zur Berichterstattung über Suizid des Kriseninterventionszentrum Wien (2025) feststellt. Die Normalisierung des assistierten Suizids als „rationale Lösung“ für schwierige Lebenssituationen verstärkt diesen Mechanismus zusätzlich.

Gesellschaftliche Auswirkungen

Menschen, die mit Suizidgedanken ringen, befinden sich nicht auf einer Insel souveräner Autonomie. Im Gegenteil: Wer schwer krank, depressiv, einsam oder hochbetagt ist, durchlebt eine Phase intensiver Verletzlichkeit. Ärztinnen, Ärzte und Pflegende erleben tagtäglich, wie Verlusterfahrungen, die Angst vor Abhängigkeit oder das Gefühl, anderen zur Last zu fallen, Betroffene in eine Sackgasse aus Isolation und Hoffnungslosigkeit treiben können. Wenn in solchen Phasen die Option zur Tötung als gesellschaftlich akzeptierte Lösung im Raum steht, wächst subtil, aber massiv der Druck: Man könnte den Angehörigen „eine Last ersparen“, dem Pflegeheim „Kosten vermeiden“, der Gesellschaft „Bürde nehmen“. Entsolidarisierung ist schneller, als man denkt. Kein Zufall also, dass es in Kanada bereits amtliche Berechnungen gibt, wie viele Millionen Dollar sich durch „Sterbehilfe“ für das Gesundheitssystem einsparen ließe.

Erosion von Solidarität und Fürsorge

Eine hochaltrige Patientin in Belgien formulierte es einmal bitter: „Erst, seit ich gesagt habe, dass ich Euthanasie will, bekomme ich Besuch von meinen Kindern und Freunden.“ Der Todeswunsch wird in solchen Konstellationen selbst zur Ressource in sozialen Beziehungen – und markiert ein fatales gesellschaftliches Signal.

Parallel dazu lässt sich eine Verschiebung gesellschaftlicher Solidaritätsstrukturen beobachten. Statt helfende Beziehungen zu stärken, die lebensbejahende Alternativen aufzeigen, wird Selbsttötung als individualisierte Ausweg aus schwierigen Situationen als gesellschaftlich akzeptable Option etabliert. Damit wächst auch der Druck auf ein „sozial verträgliches Frühableben“. Mehr als 80 Prozent aller Sterbehilfe-Fälle in Europa sind in der Gruppe der Pensionisten und Hochaltrigen. Verlieren wir die Geduld mit den Alten?

Verfügbarkeit als Hauptrisikofaktor

Sperrt man die Waffen weg, gibt es weniger Tote. Je leichter der Zugang zu letalen Mitteln, desto höher die Suizidrate. Die legale Bereitstellung tödlicher Substanzen kehrt dieses Präventionsprinzip um: Statt Barrieren zu errichten und Auffangnetze zu spannen, werden sie systematisch abgebaut. Denn assistierter Suizid boykottiert systematisch die Prävention: Dritte stimmen dem Todeswunsch zu, stellen Mittel bereit und erleichtern die Durchführung. Das widerspricht fundamental der Suizidforschung, die die Verfügbarkeit der Mittel als Hauptrisikofaktor identifiziert.

Die dreimonatige bzw. 14-tägige Bedenkzeit in Österreich erweist sich als unzureichend – Psychiater empfehlen mindestens sechs Monate, um die charakteristische Ambivalenz von Suizidwünschen zu berücksichtigen. Wo Präventionsprinzipien einmal außer Kraft gesetzt wurden, kehren sie nicht so schnell zurück.

Palliative Care und ganzheitlicher Zugang

Am Welttag der Suizidprävention sollten auch Medien ihre Verantwortung ernst nehmen. Jeder Suizid ist einer zu viel – auch der assistierte. Statt Solidarität und helfende Beziehungen zu stärken, etablieren wir den individuellen Ausstieg als gesellschaftlich akzeptable Option. Das ist das Gegenteil von dem, was eine fürsorgliche Gesellschaft tun sollte: „helfende Beziehungen“ zu fördern und lebensbejahende Wege aufzuzeigen.

Dazu braucht es den Ausbau von Palliative Care, die den Menschen umfassend im Blick hat: Schmerzen lindert, Ängste löst, menschliche Nähe schenkt – und Ärztinnen, Ärzte sowie Pflegekräfte durch bessere Aus- und Weiterbildung befähigt, Schwerkranke kompetent und empathisch zu begleiten.

Sterbehilfe-Vereine fordern ein „entspannteres Verhältnis zum Tod“. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber bleiben wir präzise: Ein entspannteres Verhältnis zum Tod ist nicht dasselbe wie ein entspannteres Verhältnis zum Töten. Das wäre nämlich verhängnisvoll.

Institut für Medizinische
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