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IMABE zu VfGH-Erkenntnis: „Töten ist keine Therapieoption“

Aufgabe des Staates ist es nicht, Tötungswünsche zu regeln, sondern Menschen in verletzlichen Lebensphasen zu schützen.

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Als einen „schweren Rückschritt“ bezeichnet die Wiener Ethikerin Susanne Kummer in einer ersten Reaktion die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs. In seinem Erkenntnis hat der VfGH das bisherige Verbot der Mitwirkung am Selbstmord (§78) als verfassungswidrig aufgehoben, da es dem „Recht auf freie Selbstbestimmung“ und dem „Recht auf ein menschenwürdiges Sterben“ widerspreche (vgl. VfGH 11.12.2020). „Das Recht auf freie Selbstbestimmung umfasst auch das Recht des Suizidwilligen, die Hilfe eines dazu bereiten Dritten in Anspruch zu nehmen“, so die Verfassungsrichter. Die Aufhebung des Verbots der Beihilfe zum Selbstmord tritt mit 1. Jänner 2022 in Kraft. Bis dahin muss eine neue gesetzliche Regelung vorliegen.

„Dass Menschen mitten in der Pandemie, wo Angststörungen, Depressionen und Suizide stark zunehmen, nun erfahren, dass der Staat gutheißt, wenn andere ihnen bei der Selbsttötung ‚helfen‘, ist alles andere als eine Erleichterung sogenannter Selbstbestimmung“, betont Kummer, Geschäftsführerin des Wiener Ethikinstituts IMABE. „Das ist so, als ob man bei der höchsten Lawinenwarnstufe die Schutzvorrichtungen abbaut.“ Ein Mensch in existentieller Not braucht ein heilsames Gegenüber, das lebensbejahende Auswege aus der Krise aufzeigt – statt sich mit seinen Selbsttötungsgedanken zu solidarisieren.

Menschen, die sich mit Tötungsgedanken befassen, weil sie schwer krank, einsam oder gebrechlich sind, befinden sich in einer höchst verletzlichen Phase ihres Lebens. Ärzte und Pflegende erleben das tagtäglich. Verlusterfahrungen, die Angst oder auch die Tatsache, anderen zur Last zu fallen, kann Betroffene in eine Sackgasse tiefer Isolation und Hoffnungslosigkeit treiben. Wenn in solchen Phasen die Option zur Tötung als „selbstbestimmte“ Lösung im Raum steht, wächst der Druck, dass sie das alles ihrer Umgebung jederzeit ersparen könnten. Selbstbestimmung kippt plötzlich in Fremdbestimmung. „Entsolidarisierung geht schneller als man denkt“, so Kummer

Mit der Freigabe der Beihilfe zum Suizid erfolgt ein gefährlicher Dammbruch. Einige europäische Länder wie die Schweiz oder die Niederlande haben bereits vor Augen geführt, wo diese Reise gesellschaftspolitisch hinführt. In der Schweiz, wo der Staat die Hand zum Suizid reicht, ist ein besorgniserregender Anstieg von Selbsttötungen zu beobachten (Ergänzung vgl. Bioethik aktuell, 14.12.2020: Dort kam es seit 2010 zu einer Verdreifachung der assistierten Suizide); „Das sollte uns ein Warnsignal sein.“

Der Ruf nach einer Legalisierung von aktiver Sterbehilfe kann nicht losgelöst von der demographischen Entwicklung hin zu einer Überalterung und der Kostenspirale im Gesundheitswesen betrachtet werden. In Kanada rechnen Ökonomen bereits vor, wie viele Millionen Dollar man dank „Sterbehilfe“ einsparen kann. In den Niederlanden wird derzeit in einer Gesetzesvorlage eine Art „Letzte-Wille-Pille“ für gesunde, aber lebenssatte Senioren ab 75 Jahre diskutiert.

Ethischer Unterschied zwischen Sterben zulassen und Tötung wird ausgeblendet

Selbstbestimmung war bereits bisher möglich: Jeder kann Behandlungen ablehnen, auch wenn dies sein Sterben beschleunigt oder zu seinem Tod führt. Sterben zu wollen ist jedoch nicht dasselbe wie die Aufforderung der Kooperation zum Sich-selbst-Töten. Diesen ethisch fundamentalen Unterschied blendet der VfGH in seinem Urteil aus, es bestehe kein Unterschied zwischen Sterben zulassen bzw. Ablehnung von lebensverlängernden Maßnahmen und einer Tötung.

„Aus medizinethischer Sicht ist dem entgegenzuhalten: Es gibt ein Recht darauf, dass Sterben nicht unnötig verlängert wird und die dringende Pflicht, dass Ärzte im Bereich der Palliative Care flächendeckend ausgebildet werden. Doch: Töten ist keine Therapieoption.“ Dass eine Tötung von Patienten nicht mit dem ärztlichen Ethos vereinbar ist, hat auch die Österreichische Ärztekammer deutlich unterstrichen.

Aufgabe des Staates ist es, Menschen in verletzlichen Lebensphasen zu schützen. Die österreichischen Verfassungsrichter haben sich von diesem Fundament der Rechtsordnung nun verabschiedet. Es wird Aufgabe des Gesetzgebers sein, alles zu tun, die gravierenden Folgen dieses Richterspruchs abzumildern. „'Hilfe beim Sterben' braucht jeder Mensch: Gut begleitet, Angst und Schmerzen nehmen – aber nicht das Leben", betont Ethikerin Kummer.

Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
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