Bioethik Aktuell

Sterbehilfe und das Ende der Fürsorgepflicht: Was England und Frankreich fürs Lebensende planen

Frankreich will Verhindern von Suiziden mit 30.000 Euro bestrafen, England bietet Suizid als Gesundheitsdienstleistung

Lesezeit: 03:39 Minuten

Während England und Wales den assistierten Suizid gesetzlich erlauben wollen und Frankreich am Weg ist, Tötung auf Verlangen zu legalisieren, warnen Experten vor einer fundamentalen gesellschaftlichen Zäsur. Der Paradigmenwechsel im Umgang mit Leid und Tod sowie der Bruch des Tötungstabus ist dabei, das Gesundheitswesen und die Gesellschaft fundamental zu verändern.

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Mit einer dünnen Mehrheit von 314 zu 291 Stimmen ebnete das britische Unterhaus am 20. Juni ein Gesetz zur straffreien Suizidbeihilfe für unheilbar Kranke mit absehbarem Lebensende. Der Antrag stammt von Labour-Abgeordneter Kim Leadbeater. Besonders kontrovers war die Aufnahme einer Unterklausel, die es dem Gesundheitsminister erlaubt, assistierten Suizid als offizielle Leistung des National Health Service (NHS) zu deklarieren.

Eine umfassende Debatte im Unterhaus ist für den Herbst 2025 geplant, mit anschließender Abstimmung. Sollte das Gesetz durchgehen, wird es an das Oberhaus weitergeleitet. Dort ist mit massivem Widerstand zu rechnen – nicht zuletzt, weil selbst prominente Labour-Abgeordnete das Vorhaben als „nicht gesetzeswürdig“ bezeichnen. Experten sprechen von systematischer Sprachverzerrung und einer schleichenden Entwertung von Fürsorge.

Frankreich will Tötung auf Wunsch einführen

In Frankreich wurde am 27. Mai 2025 ein Gesetzesentwurf zur Legalisierung des assistierten Suizids und der aktiven Sterbehilfe im Gesundheitsausschuss der Nationalversammlung angenommen. Der Text erlaubt schwerkranken, „aussichtslos leidenden“ Menschen Tötungshilfen unter bestimmten Bedingungen, wenn es sich um einen „irreversiblen Prozess“ handelt.

Der ursprünglich als Ausnahme gedachte Gesetzesentwurf könnte laut Palliativmedizinern mehr als eine Million Menschen betreffen – darunter chronisch Kranke mit eingeschränkter Lebensqualität. Besonders umstritten ist die Umkehr bisheriger Grundsätze: Nicht wer durch Suizidangebote verführt, sondern wer jemanden von einem Suizid abbringen will, riskiert künftig eine Strafe von 30.000 Euro bzw. bis zu zwei Jahren Gefängnis.

Proteste von Palliativmedizinern, Behindertenverbänden und Kirche

Der französische Gesetzesentwurf wird im Juli 2025 zur ersten Lesung in die Vollversammlung des Parlaments eingebracht. Eine breite öffentliche Debatte ist geplant, samt möglicher Änderungen. Eine Volksabstimmung ist nicht ausgeschlossen. Doch Präsident Emmanuel Macron hat deutlich gemacht, dass das Thema aus seiner Sicht ein „Akt der Mitmenschlichkeit“ sei. Die katholische Kirche, große Teile der Palliativmedizin sowie viele Behindertenverbände sehen die Entwicklungen kritisch. 

England und Wales: Neue Freiheit oder neue Pflicht zum Sterben?

Die Debatte im britischen Unterhaus hatte sich über 100 Stunden gezogen. Der Gesetzesentwurf stammte nicht aus der Feder des Parlaments, sondern von einer eigens von Leadbeater einberufenen Sonderkommission, die, so Kritiker, einseitig besetzt wurde. Die britische Suizidpräventionsstrategie verfolgte bisher ein klares Ziel: Menschen in der Krise Halt geben. Dieses Prinzip wird nun ausgehöhlt. Das neue Gesetz sieht keine Pflicht zur Information von Angehörigen vor. Die familiäre Dynamik wird damit völlig außer Acht gelassen, wenn etwa älteren Menschen von ihrer eigenen Familie „Sterbehilfe“ nahegelegt wird – aus Überforderung, aus Angst vor Pflegeheimen, aus ökonomischem Druck oder einfach, weil sie an das Erbe wollen. In letzter Sekunde abgewiesen wurde der Passus, wonach Ärzte auch unter 18-Jährige über Beihilfe zur Selbsttötung aufklären hätten dürfen.

Warum das Gesetz das NHS fundamental verändert

Der neue Gesetzesentwurf bringt eine Unterklausel ein, die es dem Gesundheitsminister erlaubt, bestimmte Dienste der freiwilligen Sterbehilfe (Voluntary Assisted Dying, VAD) per Verordnung in das Leistungsangebot des NHS aufzunehmen – ohne Begründung, ohne konkrete Vorgaben. Damit wird eine völlig neue Funktion rechtlich in das Selbstverständnis des NHS integriert: das gezielte Herbeiführen des Todes.

Der britische Journalist Dan Hitchens argumentiert in einem Essay im Compact-Magazin (How Assisted Suicide will destroy NHS), dass die geplante Gesetzesänderung nicht nur ethisch und medizinisch problematisch sei, sondern auch eine grundlegende Neuinterpretation der Mission des NHS darstelle. Das ursprüngliche NHS-Gesetz von 1946 verpflichtet den Gesundheitsdienst zur „Vorbeugung, Diagnose und Behandlung von Krankheiten“ – eine Logik, die auf Heilung und Schutz des Lebens ausgerichtet ist. Der NHS gelte bislang als Symbol bedingungsloser Fürsorge. Statt ein Symbol  zu sein für bedingungslose Fürsorge steht der NHS nun für ein utilitaristisches System, das Kosten-Nutzen-Rechnungen und gesellschaftlichen Erwartungen zunehmend über das individuelle Lebensrecht stellt. Damit verändere sich auch fundamental das Selbstverständnis von Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen.

Wer Menschen vom Suizid abhält, gilt als „übergriffig“

Hitchens kritisiert die semantische Verschiebung im öffentlichen Diskurs: Begriffe wie „Suizid“, „Fürsorge“ und „Gesundheit“ würden systematisch umgedeutet. Was einst Selbsttötung war, heißt nun „Sterbehilfe“. Wer versucht, einen Menschen vom Suizid abzuhalten, gilt als übergriffig. Hitchens warnt: „Nicht mehr wir benützen die Sprache, diese Art der Sprache benützt uns – um auszulöschen, was wir über unsere gegenseitigen Pflichten zu wissen glaubten“. Die Zweiteilung in „lebenswert“ und „nicht lebenswert“ untergräbt das einstige Versprechen, für Menschen bis zuletzt da zu sein. Übrigens: Der aktuelle Entwurf will den assistierten Suizid als "natürliche Todesursache" behandeln.

Institut für Medizinische
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