Evangelium Vitae (Auszüge)

Imago Hominis (1999); 6(1): 62-65
Johannes Paul II.

53. „Das menschliche Leben ist als etwas Heiliges anzusehen, da es ja schon von seinem Anfang an ‘das Handeln des Schöpfers erfordert’ und immer in einer besonderen Beziehung mit dem Schöpfer, seinem einzigen Ziel, verbunden bleibt. Gott allein ist der Herr des Lebens vom Anfang bis zum Ende: Niemand kann sich – unter keinen Umständen – das Recht anmaßen, einem unschuldigen menschlichen Geschöpf direkt den Tod zuzufügen“1. Mit diesen Worten legt die Instruktion Donum vitae den zentralen Inhalt der Offenbarung Gottes über die Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens dar.

Denn die Heilige Schrift legt dem Menschen die Vorschrift „Du sollst nicht töten“ als göttliches Gebot vor (Ex 20,13; Dtn 5,17). Es steht – wie ich schon unterstrichen habe – im Dekalog, im Herzen des Bundes, den der Herr mit dem auserwählten Volk schließt; doch enthalten war es bereits in dem allerersten Bund Gottes mit der Menschheit nach der reinigenden Strafe der Sintflut, die durch das Überhandnehmen von Sünde und Gewalt ausgelöst worden war (vgl. Gen 9,5-6).

Gott erklärt sich zum absoluten Herrn über das Leben des nach seinem Bild und Gleichnis gestalteten Menschen (vgl. Gen 1,26-28). Das menschliche Leben weist somit einen heiligmäßigen und unverletzlichen Charakter auf, in dem sich die Unantastbarkeit des Schöpfers selber widerspiegelt. Eben deshalb wird Gott zum strengen Richter einer jeden Verletzung des Gebotes „du sollst nicht töten", das die Grundlage des gesamten menschlichen Zusammenlebens bildet. Er ist der „goel“, das heißt der Verteidiger des Unschuldigen (vgl. Gen 4,9-15; Jes 41,14; Jer 50,34; Ps 19 [18],15). Auch auf diese Weise macht Gott deutlich, daß er keine Freude am Untergang der Lebenden hat (vgl. Weish 1,13). Nur der Teufel vermag sich darüber zu freuen: durch seinen Neid kam der Tod in die Welt (vgl. Weish 2,24). Er, der „ein Mörder von Anfang an" ist, ist auch „ein Lügner und der Vater der Lüge" (Joh 8,44): durch Irreführung lenkt er den Menschen auf die Ziele Sünde und Tod, die als Lebensziele und Erfolge hingestellt werden.

54. Das Gebot „du sollst nicht töten“ besitzt einen ausgesprochen starken negativen Inhalt: es zeigt die äußerste Grenze auf, die niemals überschritten werden darf. Implizit jedoch spornt es zu einem positiven Verhalten der absoluten Achtung vor dem Leben an mit dem Ziel, es zu fördern und auf dem Weg der Liebe, die sich verschenkt, die annimmt und dient, fortzuschreiten. Auch das Volk des Alten Bundes hat, wenn auch langsam und mit Widersprüchen, nach dieser Auffassung eine fortschreitende Reife gekannt und sich so auf die großartige Verkündigung Jesu vorbereitet: das Gebot der Nächstenliebe ist dem Gebot der Gottesliebe ähnlich; „an diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz samt den Propheten“ (vgl. Mt 22,36-40). „Denn die Gebote... du sollst nicht töten... und alle anderen Gebote – unterstreicht der hl. Paulus – sind in dem einen Satz zusammengefaßt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst" (Röm 13,9; vgl. Gal 5,14). Nachdem es in das Neue Gesetz übernommen und in ihm zur Vollendung gebracht worden ist, bleibt das Gebot „du sollst nicht töten“ unverzichtbare Voraussetzung, um „das Leben erlangen" zu können (vgl. Mt 19,16-19). Aus dieser Sicht klingt auch das Wort des Apostels Johannes endgültig: „Jeder, der seinen Bruder haßt, ist ein Mörder, und ihr wißt: Kein Mörder hat ewiges Leben, das in ihm bleibt“ (1 Joh 3,15).

Die lebendige Tradition der Kirche hat von ihren Anfängen an – wie die Didaché, die älteste außerbiblische christliche Lehrschrift bezeugt – das Gebot „du sollst nicht töten“ in kategorischer Form wieder aufgegriffen: „Es gibt zwei Wege, der eine ist der Weg des Lebens, der andere der des Todes; zwischen ihnen besteht ein großer Unterschied... Nach der Vorschrift der Lehre: Du sollst nicht töten..., du sollst ein Kind weder abtreiben noch ein Neugeborenes töten... Der Weg des Todes ist folgender: ... sie haben kein Mitleid mit dem Armen, sie leiden nicht mit dem Leidenden, sie anerkennen nicht ihren Schöpfer, sie töten ihre Kinder und bringen durch Abtreibung Geschöpfe Gottes um; sie schicken den Bedürftigen fort, unterdrücken den Geplagten, sind Anwälte der Reichen und ungerechte Richter der Armen; sie sind voller Sünde. Mögt ihr, o Söhne, euch stets von all dieser Schuld fernhalten!“.2

Im Laufe der Zeit hat die Tradition der Kirche immer einmütig den absoluten und bleibenden Wert des Gebotes „du sollst nicht töten“ gelehrt. Bekanntlich wurde in den ersten Jahrhunderten der Mord – zusammen mit Abtrünnigkeit vom Glauben und Ehebruch – unter die drei schwersten Sünden gereiht und eine besonders schwere und lange öffentliche Buße verlangt, ehe dem reuigen Mörder Vergebung und die Wiederaufnahme in die kirchliche Gemeinschaft gewährt wurden.

55. Das darf uns nicht erstaunen: das Töten eines Menschen, in dem das Bild Gottes gegenwärtig ist, ist eine besonders schwere Sünde. Gott allein ist Herr des Lebens! Doch angesichts der vielfältigen und oft dramatischen Begebenheiten, die das Leben des einzelnen und der Gemeinschaft bereithält, haben die Gläubigen seit eh und je darüber nachgedacht und versucht, zu einer vollständigeren und tieferen Einsicht dessen zu gelangen, was das Gebot Gottes verbietet und vorschreibt.3

Es gibt nämlich Situationen, in denen die vom Gesetz Gottes festgelegten Werte in Form eines wirklichen Widerspruchs erscheinen. Das kann zum Beispiel bei der Notwehr der Fall sein, in der das Recht, das eigene Leben zu schützen, und die Pflicht, das Leben des anderen nicht zu verletzen, sich nur schwer miteinander in Einklang bringen lassen. Zweifellos begründen der innere Wert des Lebens und die Verpflichtung, sich selbst nicht weniger Liebe entgegenzubringen als den anderen, ein wirkliches Recht auf Selbstverteidigung. Selbst das vom Alten Testament verkündete und von Jesus bekräftigte anspruchsvolle Gebot der Liebe zu den anderen setzt die Eigenliebe als Vergleichsbegriff voraus: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Mk 12,31). Auf das Recht, sich zu verteidigen, könnte demnach niemand aus mangelnder Liebe zum Leben oder zu sich selbst, sondern nur kraft einer heroischen Liebe verzichten, die die Eigenliebe vertieft und gemäß dem Geist der Seligpreisungen des Evangeliums (vgl. Mt 5, 38-48) in die aufopfernde Radikalität verwandelt, deren erhabenstes Beispiel der Herr Jesus selber ist.

Andererseits „kann die Notwehr für den, der für das Leben anderer oder für das Wohl seiner Familie oder des Gemeinwesens verantwortlich ist, nicht nur ein Recht, sondern eine schwerwiegende Verpflichtung sein“.4 Es geschieht leider, daß die Notwendigkeit, den Angreifer unschädlich zu machen, mitunter seine Tötung mit sich bringt. In diesem Fall wird der tödliche Ausgang dem Angreifer zur Last gelegt, der sich ihm durch seine Tat ausgesetzt hat, auch für den Fall, daß er aus Mangel an Vernunftgebrauch moralisch nicht verantwortlich wäre.5 (...)

57. Wenn auf die Achtung jeden Lebens, sogar des Schuldigen und des ungerechten Angreifers, so große Aufmerksamkeit verwendet wird, hat das Gebot „du sollst nicht töten" absoluten Wert, wenn es sich auf den unschuldigen Menschen bezieht. Und das umso mehr, wenn es sich um ein schwaches und schutzloses menschliches Lebewesen handelt, das einzig in der absoluten Kraft des Gebotes Gottes seinen radikalen Schutz gegenüber der Willkür und Gewalttätigkeit der anderen findet.

Die absolute Unantastbarkeit des unschuldigen Menschenlebens ist in der Tat eine in der Heiligen Schrift ausdrücklich gelehrte, in der Tradition der Kirche ständig aufrechterhaltene und von ihrem Lehramt einmütig vorgetragene sittliche Wahrheit. Diese Einmütigkeit ist sichtbare Frucht jenes vom Heiligen Geist geweckten und getragenen „übernatürlichen Glaubenssinnes“, der das Gottesvolk vor Irrtum bewahrt, wenn es „seine allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert“.6

Da im Bewußtsein der Menschen und in der Gesellschaft das Wahrnehmungsvermögen dafür, daß die direkte, d.h. vorsätzliche Tötung jedes unschuldigen Menschenlebens, besonders in seinem Anfangs- und Endstadium, ein absolutes und schweres sittliches Vergehen darstellt, zunehmend schwächer wird, hat das Lehramt der Kirche seine Interventionen zur Verteidigung der Heiligkeit und Unantastbarkeit des menschlichen Lebens verstärkt. Mit dem päpstlichen Lehramt, das hier besonders nachdrücklich und beharrlich Zeugnis ablegt, hat sich das bischöfliche Lehramt mit zahlreichen umfassenden Lehr- und Pastoraldokumenten der Bischofskonferenzen wie einzelner Bischöfe stets vereinigt. Und auch der feste und in seiner Kürze markante Beitrag des II. Vatikanischen Konzils blieb nicht aus.7

Mit der Petrus und seinen Nachfolgern von Christus verliehenen Autorität bestätige ich daher in Gemeinschaft mit den Bischöfen der katholischen Kirche, daß die direkte und freiwillige Tötung eines unschuldigen Menschen immer ein schweres sittliches Vergehen ist. Diese Lehre, die auf jenem ungeschriebenen Gesetz begründet ist, das jeder Mensch im Lichte der Vernunft in seinem Herzen findet (vgl. Röm 2,14-15), ist von der Heiligen Schrift neu bestätigt, von der Tradition der Kirche überliefert und vom ordentlichen und allgemeinen Lehramt gelehrt.8

Die willentliche Entscheidung, einen unschuldigen Menschen seines Lebens zu berauben, ist vom moralischen Standpunkt her immer schändlich und kann niemals, weder als Ziel noch als Mittel zu einem guten Zweck gestattet werden. Sie ist in der Tat ein schwerer Ungehorsam gegen das Sittengesetz, ja gegen Gott selber, seinen Urheber und Garanten; sie widerspricht den Grundtugenden der Gerechtigkeit und der Liebe. „Niemand und nichts kann in irgendeiner Weise zulassen, daß ein unschuldiges menschliches Lebewesen getötet wird, sei es ein Fötus oder ein Embryo, ein Kind oder ein Erwachsener, ein Greis, ein von einer unheilbaren Krankheit Befallener oder ein im Todeskampf Befindlicher. Außerdem ist es niemandem erlaubt, diese todbringende Handlung für sich oder für einen anderen, der seiner Verantwortung anvertraut ist, zu erbitten, ja man darf in eine solche [Handlung] nicht einmal explizit oder implizit einwilligen. Auch kann sie keine Autorität rechtmäßig auferlegen oder erlauben“.9

Was das Recht auf Leben betrifft, ist jedes unschuldige menschliche Lebewesen allen anderen absolut gleich. Diese Gleichheit bildet die Grundlage jeder echten sozialen Beziehung, die, wenn sie wirklich eine solche sein soll, auf der Wahrheit und der Gerechtigkeit gründen muß, indem sie jeden Mann und jede Frau als Person anerkennt und schützt und nicht als eine Sache betrachtet, über die man verfügen könne. Im Hinblick auf die sittliche Norm, die die direkte Tötung eines unschuldigen Menschen verbietet, „gibt es für niemanden Privilegien oder Ausnahmen. Ob einer der Herr der Welt oder der Letzte, ‘Elendeste’ auf Erden ist, macht keinen Unterschied: Vor den sittlichen Ansprüchen sind wir alle absolut gleich“.10

Referenzen

  1. Kongregation für die Glaubenslehre, Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung Donum vitae (22. Februar 1987), Einleitung, Nr. 5: AAS 80 (1988), 76-77; vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2258.
  2. Didaché, I, 1; II, 1-2; V, 1 und 3: Patres apostolici, ed. F. X. Funk, I, 2-3, 6-9, 14-17; vgl. Brief des Pseudo-Barnabas, XIX, 5: ebd., I, 90-93.
  3. Vgl. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2263-2269; vgl. auch Katechismus des Konzils von Trient III, Par. 327-332.
  4. Katechismus der katholischen Kirche, Nr. 2265.
  5. Vgl. Hl. Thomas von Aquin, Summa Theologiae, II-II, q. 64, a. 7; Hl. Alfons von Liguori, Theologia moralis, 1. III, tr. 4, c. 1, dub. 3.
  6. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 12.
  7. Vgl. Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes, 27.
  8. Vgl. II. Vat. Konzil, Dogmatische Konstitution über die Kirche Lumen gentium, 25.
  9. Kongregation für die Glaubenslehre, Erklärung über die Euthanasie Iura et bona (5. Mai 1980), II: AAS 72 (1980), 546.
  10. Johannes Paul II., Enzyklika Veritatis splendor (6. August 1993), Nr. 96: AAS 85 (1993), 1209.
Institut für Medizinische
Anthropologie und Bioethik
Unterstützt von: