Zwischen Wahn und Weisheit – Gedanken zum Forschungsethos

Imago Hominis (2008); 15(1): 21-29
Thomas Kenner

Zusammenfassung

In diesem Essay geht es darum zu zeigen, dass die Begriffe Ethos und Ethik der Forschung vielfach missbraucht und missverstanden werden. Mit dem Begriff „technologischer Imperativ“ wird die Tendenz beschrieben, dass alles Machbare auch wirklich ohne Bedenken gemacht wird. Die Geschichte der Entdeckung der Struktur der DNA zeigt, welche Bedeutung einerseits dem persönlichen Prestige und andererseits vielfachen Einflüssen von Interessensgruppen zukommt. Es ist nötig darauf hinzuweisen, dass ohne Weisheit eine korrekte ethische Einstellung nicht gefunden werden kann.

Schlüsselwörter: Forschung, Ethos, Weisheit, technologischer Imperativ

Abstract

It is the intention of this essay to show that the terms ethos and ethics of research are in many respects misused and misunderstood. The term “technological imperative” describes the trend that everything which can be done is actually done without any consideration. A look at the history of the discovery of the structure of DNA shows the importance of the influence of personal prestige and of the marked influence of the interest of certain groups. Therefore it is necessary to point to the fact that without wisdom the correct ethical intention cannot be found.

Keywords: research, ethos, wisdom, technological imperative


Einleitung

Das griechische Wort Ethos heißt wörtlich übersetzt: Sitte, Brauch, und bedeutet konkret individuell gelebte und überlegte Moral; siehe auch.1 Ethik umfasst reflektiertes Ethos, Überzeugung und Einsicht. Ethik vermittelt keine vorgefertigten Antworten, sondern hat die Aufgabe der Schulung, Fragen zu stellen und die bestmöglichen Antworten zu finden. Diese Antworten können je nach der moralischen Einstellung aufgrund von Prinzipien, durch Abwägung von Nutzen und Schaden und schließlich auch durch Kompromiss zustande kommen.

Unter Moral ist die Summe der herrschenden sozialen Überzeugungs-Standards zu verstehen, die von Religion oder Ideologie beeinflusst werden.

In der Alltagssprache und in Berichten und Feststellungen in Medien wird dem Begriff Ethik fast immer in Bezug auf die zur Zeit akzeptierte Moral eine positive, anerkennenswerte und erstrebenswert affirmative Bedeutung zugeschrieben. Tatsächlich enthält das Wort Ethik eben durch diese Unschärfe, bildlich gesprochen, einen schillernden Anstrich.

Jede Weltanschauung nimmt für sich eine angepasste Ethik in Anspruch, die dann zur Rechtfertigung wunschgemäßen Handelns dienen muss. Gerade im Bereich der Forschung ist die Versuchung groß, das jeweilige Interesse – etwa gewisse Experimente durchzuführen – durch entsprechende anerkennende, mit dem Wort „ethisch“ verbundene Beschreibung oder sogar mit der Steigerungsstufe als „ethisch korrekt“ bestätigen zu lassen.

Die Zahl der historischen und auch aus der letzten Zeit stammenden Beispiele von Forschung, deren Rechtfertigung und Begründung wohl sogar die Bezeichnung Wahn als durchaus zutreffend erscheinen lassen, ist leider beachtlich und erschreckend. Wahn ist deshalb auch vom medizinischen Standpunkt richtig anwendbar, weil in manchen Fällen die handelnden Personen tatsächlich in einer Art geistigen Verwirrung meinen, korrekten Zielsetzungen Folge zu leisten. Als Beispiele könnte man die grauenhaften Verbrechen der Nazizeit erwähnen, die neben anderen absurden Argumentationen durch eine „wissenschaftlich erarbeitete“ Rassentheorie begründet wurden. Eine vergleichbare Bedrohung ist etwa auch in den Thesen von Peter Singer enthalten, obwohl dieser seine Argumente ebenfalls wissenschaftlich verbrämt. Kennzeichnend für seine Einstellung sei aus einer Zusammenstellung von Axel Bauer der folgende Satz zitiert: „… Tötet man eine Schnecke oder einen 24 Stunden alten Säugling, so vereitelt man keine Wünsche…, weil Schnecken und Neugeborene unfähig sind, solche Wünsche zu haben.“2 Wenn Peter Singer seine Nähe zur Nazi-Ideologie auch vehement bestreitet, führt doch seine Ethik einer strikten Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zu gleichen Konsequenzen.

Schließlich ist auch auf manche Stellungnahmen in der derzeit laufenden Diskussion über die angebliche bzw. eingebildete Wichtigkeit von Experimenten an menschlichen embryonalen Stammzellen hinzuweisen.3 Die Vertreter dieser Meinung berufen sich auf wissenschaftliche Begründungen und Notwendigkeiten und auf die ihrer Meinung nach für die ganze Menschheit überlebenswichtige Forschung an derartigen Zellen.

Die zuletzt erwähnten Beispiele lassen auch ahnen, welche Rolle politischen und auch finanziellen Belangen bzw. Versuchungen bei der Bezeichnung „ethisch gerechtfertigt“ oder „aus ethischen Gründen essentiell“ für gewisse Unternehmungen zukommt.

Ein Wegweiser für den Versuch einer objektiven Bewertung einer ethischen Vorgabe ist die Aussage Christi: „An den Früchten werdet Ihr sie erkennen“ (Mt 7, 20). Im Fall der Naziverbrechen ist das Furchtbare und Abwegige offensichtlich. Was die Stammzelldebatte betrifft, hat sich inzwischen gezeigt, dass eben – ganz abgesehen von moralischen Bedenken - sehr offensichtlich die medizinische Anwendung embryonaler Stammzellen mehr Schaden als Nutzen anrichtet und demnach therapeutisch kontraproduktiv ist. Aus diesem Grund ist auch zu fordern, dass die Forschung an adulten Stammzellen forciert werden sollte.4

Ethik in der Forschung

Erwin Chargaff weist darauf hin, dass es nur eine Ethik mit verschiedenen Anwendungsgebieten gibt. Im Hinblick auf das nun nicht mehr so neue Wort Bioethik schrieb der bekannte Forscher und später Wissenschaftskritiker: „… Weil wir jedoch in einer Zeit des lächerlichen Fachmannstums leben, beanspruchen Biologen und Ärzte jetzt eine Spezialethik – und warum nicht bald auch Börsenjobber oder die Taschendiebe?“ Er schließt weiter an: „Und jetzt, da man in den Vereinigten Staaten Lebewesen patentieren darf, kann es nur eine Frage der Zeit sein, bis man patentierte Menschen züchten wird, und dann wird es auch dafür Bioethiker geben und darauf spezialisierte Patentanwälte….“.5 Er umreißt mit diesen kritisch-sarkastischen Worten die Gefahr, in der sich die Forschung in einem der aktuellsten Gebiete befindet, indem sie einem Fortschritt mit einer gewissen Skrupellosigkeit nachstrebt. Dies deutet auch gleichzeitig an, in welcher Gefahr wir alle uns befinden.

Den Drang des Menschen, seine Umgebung und später auch sein Inneres zu erforschen, kann man als eine angeborene Gabe und Fähigkeit bezeichnen, deren Aktivierung mit Nutzung aller verfügbaren Sinne und motorischen Fähigkeiten schon bei Kindern ausgeprägt ist. Dieser Drang ist so stark, dass ohne Hilfe durchaus Eigen- und Fremdgefährdung zu beachten sind. Bei Kindern ist ein entsprechender, von Eltern oder Aufsichtspersonen ausgeübter Schutz notwendig. Hinsichtlich Forschung sind ethische bzw. gesetzlich verankerte Grenzziehungen oder Vorschriften zu beachten. Und selbstverständlich müsste hier auch die eigene Gewissensbildung vorausgesetzt werden.

Forschung, Wissenschaft, Weisheit und Lehre

Es ist gar nicht so einfach, von Forschung schlechthin zu sprechen. Forschung auf dem Gebiet geisteswissenschaftlicher oder theologischer Probleme ist unter einem etwas anderen Gesichtspunkt zu sehen, etwa physikalische oder medizinische Forschung, vor allem auch deshalb, weil verschiedene menschliche und damit ethische Fragen betroffen sind. Eine Gemeinsamkeit wird in der folgenden zitierten Passage angesprochen.

C. S. Lewis sagt in seiner Studie The abolition of men: „Vieles verbindet Zauberei und Wissenschaft und trennt beide von der Weisheit früherer Zeiten. Für die Weisen der Vorzeit war es das größte Anliegen, Seele und Realität in Einklang zu bringen. Lösung und damit Antwort waren Selbstdisziplin, Kenntnisse und Tugend. Für Zauberei und Wissenschaft in übereinstimmender Weise besteht das Anliegen darin, wie man die Realität den Wünschen des Menschen unterwerfen kann: Die Lösung in diesem Fall ist eine Technik. Beide - Wissenschaft und Zauberei - sind im Rahmen dieser Technik bereit, Dinge zu tun, die bislang als gottlos und abstoßend gegolten haben,…“6

Was wir also benötigen, ist Weisheit. – Als Zugang und Methodologie kann allerdings an der Notwendigkeit wissenschaftlicher Forschung kein Zweifel bestehen. Es scheint mir wesentlich, die von C. S. Lewis so treffend und scharf geäußerte Kritik an den Konsequenzen einer nur vom Standpunkt einer so genannten Wertfreiheit praktizierten Wissenschaft sehr genau zu beachten.7

Forschung und Universität

Ein weiterer Aspekt, der lange Zeit die gemeinsame Zusammenschau verschiedener Fachgebiete und Fakultäten in den Vordergrund gerückt hat, die leider durch die neuere Entwicklung allmählich zerstört wird, ist – oder eigentlich war – das Ideal der „Universitas magistrorum et scholarium“; ein Ideal, dessen Zielsetzung in die Gründungszeit der Universitäten zurückreicht und schließlich 1810 von Wilhelm von Humboldt zusammengefasst wurde:8

Freiheit von Forschung und Lehre,
Einheit von Forschung und Lehre,
Priorität der Bildung vor der Ausbildung.

Im Rahmen der Universitäten ist seit der Gründungszeit, und dann noch explizit im 19. Jhd. neben der Forschung untrennbar die Lehre als Verpflichtung fest verankert. Was heute an den Universitäten geschieht, habe ich in folgender Formulierung zusammengefasst:9

Forschung wird immer mehr von industriellen Interessen und durch entsprechende Finanzierung gelenkt.

Lehre wird zunehmend von Forschung getrennt. Man fördert heute prioritär einerseits Fachhochschulen und andererseits gründet man Elite-Institutionen, in denen vorwiegend oder ausschließlich Forschung betrieben wird.

Dementsprechend tritt Bildung gegenüber der Spezialausbildung weit in den Hintergrund.

Auch Liessmann10 betont in seinem Buch „Theorie der Unbildung“ die besondere Wichtigkeit der Bildung im Sinne des dritten oben zitierten Ideals von Humboldt. Dass ja auch schon die Mittelschulen die „neoliberalen“ Einstellungen übernommen haben, ist an einem Beispiel einer diesbezüglichen kritischen Äußerung in einem Artikel von T. Jorda11 zu erkennen. Schon im Titel und im Untertitel des Artikels ist zu erkennen, wo das Problem liegt: „Kant? Kennt keiner!“ und „Polemik gegen Österreichs Schulen, in denen Bildung zum Makel wird und Kunst verpönt ist.“ Das derzeit gültige Vorbildschema, das schon Kindern in den Schulen eingetrichtert wird, beruht darauf, dass bewusst oder unbewusst die finanziellen Renditen als die Hauptmaße der Qualität von Lehren und Lernen und demnach auch von Forschung festgelegt werden.

Der technologische Imperativ

Mit der im zuletzt erwähnten Beispiel zum Ausdruck kommenden Einstellung wird illustriert, dass die ehemals idealen Ziele einer Universität mehr und mehr dem Ziel einer Maximierung des Profits und der ökonomischen und finanziellen Nützlichkeit – im weitesten Sinn – weichen müssen.

Es wird die Tatsache, dass alles, was erfunden wird, wie in einer Zwangsneurose auch verwirklicht und angewendet werden muss, selbst wenn man damit nur Schaden anrichtet, als „technologischer Imperativ“ bezeichnet.12 Man muss dazu sagen, dass solches umso mehr geschieht, je mehr Geschäft man damit machen kann. Es klingt dieser Imperativ auch ähnlich wie eines der Murphy’s Laws: „Alles was schief gehen kann, geht früher oder später schief.“ Und ich müsste noch dazu ergänzen: „Alles was missbraucht werden kann, wird früher oder später missbraucht.“ Das trifft insbesondere dort zu, wo Prestige- und Profitsucht eine entscheidende Rolle spielen.

Forscher

Im Bereich der Medizin und der Naturwissenschaften sind Forscher, die sich als Einzelpersonen alleine mit bestimmten Problemstellungen beschäftigen, sehr selten geworden. Wie an der Anzahl von Autoren im Titel einer Publikation zu erkennen ist, steht in den genannten Bereichen heute Teamarbeit im Vordergrund. Der Name des Teamleiters steht als letzter am Ende der Autorenliste, der Hauptverantwortliche für die Bearbeitung des im Titel der Publikation erkennbaren Projektes steht an erster Stelle. Bei medizinischen Projekten, die sich mit Testen oder Messungen an Menschen beschäftigen, wird die vorherige Begutachtung einer Ethikkommission vorausgesetzt. Diese Kommissionen haben die Aufgabe, die Durchführbarkeit der Projekte zu überprüfen, die Verständlichkeit der Informationen für die freiwilligen Versuchspersonen – sowohl Patienten als auch gesunde Personen – zu bewerten und die Garantie sicherzustellen, dass jede Person jederzeit auf Wunsch aus dem Projekt ausscheiden kann. Ferner muss klar aus dem Text hervorgehen, dass bei einem Medikamententest weder den mit einem neuen Präparat behandelten Patienten noch jenen, die als Vergleichsgruppe dienen, ein therapeutischer Nachteil entstehen darf.

Es ist hier zu analysieren, welche Interessen von der Entstehung bis zur erfolgten Publikation eines Projektes eine Rolle spielen und welche ethischen Fragen hierbei möglicherweise auftreten.

Das Interessensgebiet des Forschers, des Leiters eines Projektteams, kann sich durch persönliche Erfahrungen, durch Zufälle, durch Lehrer oder Kollegen ergeben haben. Es sind immer auch Zeit, Ort und Umfeld sowie auch der Stand des gegenwärtigen Wissens zu berücksichtigen. Eine entscheidende Rolle kann ideologischer, politischer und finanzieller Druck, eventuell ausgeübt von Interessensgruppen, spielen. Auf dem Gebiet der Physik ist hier als Beispiel die Entwicklung der Atombombe im 2. Weltkrieg zu erwähnen.

Als Alternative bzw. zusätzlich zu den erwähnten Einflussfaktoren ist der Druck der jeweils gegenwärtigen Entwicklung der aktuellen neuen Erkenntnisse zu erwähnen, der einerseits durch persönliche Mitteilungen, andererseits durch Publikationen bekannt wird und enorm stimulierend auf den Wunsch, das eigene Prestige zu erhöhen, wirkt. Hierfür ist das Beispiel des Fachmannes auf dem Gebiet der Stammzellforschung, Hwang Woo-Suk zu erwähnen, den dieser Prestige-Druck dazu verleitet hat, gefälschte Resultate zu publizieren.13 Aus einem Interview, das Norbert Lossau mit dem Stammzellforscher Prof. Hans Schöler (Max-Planck-Institut für Molekulare Biomedizin in Münster) geführt hat, sei hierzu folgende Meinungsäußerung zitiert: „Das Tückische an diesem Fall war, dass Hwang wichtige Vorarbeiten erfolgreich absolviert und sich dadurch einen guten Ruf erarbeitet hatte. Irgendwann hat er aber die Bodenhaftung verloren. Offenbar wollte er als derjenige in die Geschichte eingehen, der als erster einen menschlichen Embryo geklont hat, um daraus menschliche Stammzellen zu gewinnen. Er hat wohl selber fest geglaubt, dass er das kann. Frei nach dem Motto ‚Auch wenn ich das jetzt noch nicht perfekt schaffe, ist es nur eine Frage der Zeit, bis es mir gelingt’. Er hat einen Kredit auf die Zukunft aufgenommen. Und verloren.“14

Paslak und Schmidt15 wiesen auf einen interessanten Aspekt der Forschung hin, indem sie das Thema untersuchten „Braucht der Fortschritt seine Skandale?“ In dieser Hinsicht beschrieben sie drei Typen von Forschern, die im Sinne Auslösung von Skandalen wirksam waren:

Zunächst jener grenzenlos Überhebliche, der wohl weiß, dass seine Experimente nicht gerechtfertigt werden können, da er sich unlauterer Mittel wie z. B. Täuschung von Patienten und Irreführung von Behörden bedient.

Ein zweiter Forscher-Typ empfindet sich als berufener Vertreter des Fortschritts und daher als Opfer einer moralisch „unterentwickelten“ Gesellschaft.

Der dritte Typ ist nicht nur nicht beunruhigt, dass seine Forschungen einen Skandal hervorrufen könnten, sondern bemüht sich bewusst, einen Skandal hervorzurufen. Die Autoren des Artikels erwähnen eine Gruppe von Wissenschaftlern, die behauptet hatten, menschliche Embryonen geklont zu haben, was zunächst ungeheures Aufsehen und Diskussionen hervorgerufen hat, bis sich herausstellte, es handle sich um eine gezielte Fehlmeldung.

Es ist tatsächlich interessant, dass in dem abgehobenen Bereich avancierter Forschung, ähnlich wie im Show-Business, ein Skandal eher zur Hebung des Ansehens als zu einer Verurteilung beizutragen scheint.

Eine charakteristische Forschungs- und Entdeckungsgeschichte

Für bestimmte historische Zeitabschnitte sind charakteristische Entwicklungen, Forschungen und Entdeckungen besonders hervorzuheben, die sich letztlich auch durch den Einfluss auf Einkommen, Überlebens-Chancen und soziales Verhalten auswirken. Es markiert ohne Zweifel die Entdeckung der DNA für die zweite Hälfte des 20. und den Anfang des 21. Jahrhunderts einen derartig markanten Zeitabschnitt. Diese Entdeckung hat dann eine Phase der zunehmend detaillierten Einblicke in wesentliche Abläufe des Lebens ermöglicht, wie etwa Vererbung, Stoffwechsel, Steuerung der Funktionen von Zellen und Organismen, Entstehung von strukturierten Organismen etc. Dadurch wird auch immer mehr die Möglichkeit eröffnet, in diese Prozesse einzugreifen. Die Frage, wie weit derartige Eingriffe als zulässig angesehen werden dürfen, ist das kritische Anliegen der derzeit aktuellen Diskussion über Ethik der Forschung. Es geht um Fragen betreffend Anfang und Ende des Lebens, Forschung an Stammzellen und alle nur möglichen Voraussetzungen und Konsequenzen, die vermutlich derzeit nur unvollständig und teilweise abzuschätzen sind.

Die Geschichte der Entdeckung der Struktur der DNA enthält eine Fülle historischer Einzelheiten, aus deren Analyse verständlich wird, dass Forschung etwas ist, das wie ein riesiges Netzwerk räumlich und zeitlich aufgebaut ist. In das Netzwerk eingefügt und gefangen sind, wie auf einer großen Bühne, Menschen, Philosophie, Politik, Religion, Gespräche, Alltag, gute und schlechte Eigenschaften, Leben und Tod. Wenn behauptet wird, die Entdeckung der Struktur der DNA sei den Forschern James Watson und Francis Crick zu verdanken, so kann das in derart expliziter Form nicht als korrekt bezeichnet werden.16 Richtig ist vielmehr, dass dieses tatsächlich außerordentlich und für die weitere Entwicklung der Forschung bedeutsame Thema damals von einer Reihe von äußerst kompetenten Forschern an etlichen Orten bearbeitet wurde, sodass man sagen kann, es lief das ganze wie ein Wettrennen ab.

An diesem Wettrennen haben sich unter anderem Forscher mit bekanntem Namen beteiligt. Linus Pauling, der sich mit der Struktur der Proteine beschäftigt hat, war der Aufklärung der DNA-Struktur als Doppelhelix schon ganz nahe. Tatsächlich ist zu vermuten, dass er diese Entdeckung gemacht hätte, wenn ihm nicht aufgrund des damals in den USA herrschenden McCarthyismus die Ausreise zu einer Tagung in London verboten worden wäre, bei der er mit Rosalind Franklin zusammengetroffen wäre, die einen der Schlüsselbefunde zur Lösung des Problems gefunden hatte.17 Ein weiterer wichtiger Forscher war Erwin Chargaff, der in Wien aufgewachsen war und dort studiert hatte. Er war der Entdecker eines zweiten Schlüsselbefundes, dass nämlich in der DNA verschiedenster Tiere die später als „Buchstaben des genetischen Codes“ erkannten Basen, Adenin und Thymin einerseits und Cytosin und Guanin andererseits, immer in gleichen Mengen vorkommen. Alle beteiligten Forscher wussten, dass es um die Aufklärung der Struktur der DNA ging und dass es nur eine Frage der Zeit war, wem zuerst dieses Ziel zu erreichen gelang.

Innerhalb des Kings College in London, ganz in der nächsten Nachbarschaft jener Personen, die dann als Sieger in dem Wettrennen bezeichnet werden konnten und später auch dafür den Nobelpreis bekommen haben, hat auch die schon kurz erwähnte, geniale junge Frau Rosalind Franklin gearbeitet, deren röntgenographische Struktur-analysen von DNA den endgültig entscheidenden Schlüssel zur Lösung des Rätsels gebracht haben. Es ist ungemein spannend, den Bericht über das Leben dieser Frau und über den Ablauf der Ereignisse in dem Buch von Brenda Maddox „Rosalind Franklin, die Entdeckung der DNA oder der Kampf einer Frau um wissenschaftliche Anerkennung“ zu lesen.18 Es ergibt sich aus der Beschreibung, dass der zweifellos kluge Watson, der selbst nicht an Experimenten teilgenommen hat, sondern mit Crick an einem Modell der DNA-Struktur gebastelt hatte – nachdem er durch Zufall oder Indiskretion ein entscheidend wichtiges Resultat der Messungen von Rosalind Franklin einsehen konnte – daraus den richtigen Schluss für die Konfiguration ihres DNA-Modells gezogen hat. In dem zitierten Buch wird auf Seite 196, vorsichtig formuliert, folgendes dazu vermerkt: „Als Watson und Crick die Schönheit und Einfachheit des Modells erst einmal erkannt hatten, trat die Bedeutung von Rosalinds Werten in den Hintergrund.“

Jene Frau, deren Messung für die Entdeckung letztlich entscheidend war, wurde demnach vollkommen ignoriert. Das Kapitel des Buches, in dem der Vorgang des entscheidenden Schrittes der Entdeckung beschrieben ist, schließt mit dem folgenden Absatz (Seite 198): „Hätte Beethoven seine 9. Symphonie nicht geschrieben, hätte es niemand sonst getan. Wenn Watson und Crick dagegen die Doppelhelix der DNA nicht entdeckt hätten, hätten andere sie gefunden und wahrscheinlich nicht sehr viel später. Rosalind war der Antwort sehr nahe gekommen. Dass ihr… Manuskriptentwurf, der dies beweist, erst viele Jahre später an die Öffentlichkeit kommen sollte, ist eine von vielerlei Weisen, in der ihr das Schicksal nicht wohl gesonnen war.“

Sie ist leider bald nach den geschilderten Ereignissen im Alter von nur 37 Jahren an Krebs gestorben, der möglicherweise auf ihre Arbeit mit Röntgenstrahlen zurückzuführen war.

Es scheint bemerkenswert, dass der eben erwähnte Forscher Watson vor kurzem durch rassistische Äußerungen – „Schwarze seien weniger intelligent als Weiße“ – unangenehm aufgefallen ist. – Er hatte übrigens schon früher in sehr „lockerer“ Weise Aussagen über Abtreibung, Stammzellforschung und Klonen etc. gemacht. Aus einem Artikel in der NZZ vom 24. Oktober 200719 sei dazu folgendes zitiert: „Besorgniserregend ist jedoch, dass sich Watson mit seinen rassistischen Äußerungen absichtlich oder unabsichtlich zum populären Fürsprecher extremen Gedankenguts macht. Denn ihm als bekannten und fachlich geachteten Wissenschaftler hört man zu.“ Zu dem Zustandekommen der Entdeckung der Doppelhelix wird im gleichen Artikel folgendes zitiert: „Zudem hat Watson nie dementiert, dass er für die bahnbrechende Entdeckung der Doppelhelix Struktur der DNA die Daten einer britischen Forscherin ohne deren Wissen und somit ohne deren Einverständnis und sogar für seine eigenen Veröffentlichungen verwendet hat.“ – Dieser letzte Satz bezieht sich auf Rosalind Franklin.

Linus Pauling und Erwin Chargaff

Es ist wichtig und interessant, dass sich die beiden erwähnten hervorragenden Forscher und Wissenschaftler Pauling und Chargaff schließlich sehr kritisch mit den Folgeerscheinungen und Konsequenzen der naturwissenschaftlichen Forschung und der „modernen“ Entwicklung dieser Wissenschaften, mit anderen Worten mit Fragen der Forschungsethik auseinandergesetzt haben.

Linus Pauling hat für seine grundlegenden Forschungen als Chemiker den Nobelpreis für Chemie erhalten. Aufgrund seines Einsatzes gegen Atomtests hat er danach auch noch den Friedensnobelpreis erhalten.

Erwin Chargaff hat für seine wissenschaftlichen Arbeiten viele Preise, nur nicht den Nobelpreis erhalten. Er hat sich nach Beendigung seiner wissenschaftlichen Karriere in vielen Büchern mit Themen der wissenschaftlichen Forschung sehr kritisch auseinandergesetzt. Vor allem hat er kritisch zu der Entwicklung und dem Abwurf der Atombomben Stellung genommen und nicht aufgehört vor den Folgen der Molekularbiologie zu warnen. Er hatte übrigens als Student in Wien Karl Kraus kennen gelernt.

Er schreibt auf Seite 14 seines Buches „Ein zweites Leben“20 folgendes: „Mein letztes großes Forschungsgebiet, die Chemie der Nukleinsäuren, war, seit dank Crick und Watson die Reklame sich seiner bemächtigt hatte, dem New Yorker Stock Exchange, der Börse, immer ähnlicher geworden.… Schon im „Feuer des Heraklit" (das erste der kritischen Bücher von E. Chargaff) habe ich den entsetzlichen Eindruck beschrieben, den der Abwurf der beiden Atombomben im Jahre 1945 auf mich gemacht hatte. Mein Glaube an die Naturwissenschaft wurde bereits damals erschüttert… Das war auch der Zeitpunkt, an dem ich zuerst sozusagen den Austritt aus meiner Wissenschaft, ja aus der Menschheit zu erwägen begann, wozu später die Mondlandung und das Jahrmarktgeschrei um die Doppelhelix beitrugen…“

Beharrungstendenz

Zu den Ursachen ethischer Abweichungen und Abnormitäten gehört die durch offenbar psychologische Einflüsse bewirkte Tendenz der Beharrung, die zuerst Ludwik Fleck21 und später Thomas Kuhn22 beschrieben haben. Diese Tendenz hat unter anderem zur Folge, dass bestimmte wissenschaftliche Irrtümer hartnäckig unkorrigiert bleiben.

Ludwik Fleck schreibt 1935 über „die Beharrungstendenz der Meinungssysteme und die Harmonie der Täuschungen“ folgende kurze Zusammenfassung der wichtigsten diesbezüglichen Argumente:

  1. Ein Widerspruch gegen das System erscheint undenkbar.
  2. Was in das System nicht hineinpasst, bleibt ungesehen, oder
  3. es wird verschwiegen, auch wenn es bekannt ist, oder
  4. es wird mittels großer Kraftanstrengung so erklärt, dass es dem System nicht widerspricht.

Noch etwas deutlicher als Ludwik Fleck hebt Thomas S. Kuhn23 den Kippvorgang (Paradigmenwechsel) hervor, ein Ereignis, das, nebenbei erwähnt, mathematisch von der Katastrophentheorie beschrieben wird.

Fortschritt in der Wissenschaft vollzieht sich nicht durch kontinuierliche Veränderung, sondern durch revolutionäre Prozesse; ein bisher geltendes Erklärungsmodell wird verworfen und durch ein anderes ersetzt. Diesen Vorgang bezeichnet sein berühmt gewordener Terminus: „Paradigmenwechsel“.24

Diese generelle Tendenz zum beharrlichen Festhalten an einer einmal als Lehrmeinung festgelegten Aussage ist vor allem in der Medizin unglaublich verbreitet. Eben dieser Tendenz verdanken leider auch völlig absurde und falsche Lehren, deren Entstehen durch den Druck politischer Denkmuster entstanden sind, ihr Bestehen; wie etwa die nationalsozialistische Rassenlehre, die Millionen Menschen das Leben gekostet hat. Gerade an diesem Beispiel ist zu erkennen, welch enormen Einfluss psychologische und ideologische Faktoren bis zu Wahnvorstellungen haben, wozu eben auch die erwähnte merkwürdige Beharrungstendenz gehört, die auch ethische Aspekte einschließt. Es kann sich dabei um die Förderung von Ideen handeln, die vor Mord, Totschlag, Krankheit, Krieg und Hungersnot nicht zurückschrecken.

Vernetzung und Kategorisierung

Bei der Diskussion ethischer Fragen, die sich auf Forschung und Forscher beziehen, muss man auch darauf hinweisen, dass die verschiedenen Meinungen der Population der „scientific community“ zu derartigen Fragen als eine statistische Verteilung dargestellt werden kann. Da Menschen die Tendenz haben zu kategorisieren, ist vor allem bei Beispielen kontrovers diskutierter Meinungen zu erwarten und auch tatsächlich zu beobachten, dass sehr schnell zwei Gruppen von Anhängern der jeweils extrem entgegen gesetzten Positionen entstehen, die sich dann heftig bekämpfen.

Ethik und Gesetz

In der Forschung und auch in der medizinischen Praxis ist es vorteilhaft, zur Lösung ethischer Probleme durch Diskussion und Überzeugungsarbeit beizutragen. Es trägt eher zur Verhärtung von Kontroversen oder gar zur Blockierung bei, wenn zur Lösung ethischer Probleme ein Gericht angesprochen wird. Andererseits ist es wesentlich, dass grundsätzliche ethische Aspekte der Forschung auch in der Gesetzgebung festgehalten werden. Es scheint leider derzeit die Tendenz zu bestehen, dass oft zuerst gesetzliche Festlegungen unreflektiert fixiert werden und dass erst dann, wenn negative oder unerträgliche Folgen daraus entstehen, über ethische Begründungen nachgedacht wird. So kann es geschehen, dass in paradoxer oder sogar perverser Weise moralisch oder ethisch klar begründbare Maßnahmen sich als gesetzwidrig und demnach strafbar erweisen können. Wie ein sehr renommierter Jurist im Zusammenhang mit der Asylantenproblematik der Österreichischen Gesetzgebung argumentiert, sei jede Gesetzesübertretung unabhängig von etwaigen ethisch begründeten Bedenken zwingend mit der vorgeschriebenen Strafe zu ahnden, weil andernfalls der Rechtsstaat erodiert würde.25 Tatsächlich hat diese Einstellung dem seligen Franz Jägerstätter das Leben gekostet!

Schlussfolgerung

Der Forschungsdrang ist ohne Zweifel eine angeborene menschliche Eigenschaft. Vor den Verlockungen von Prestige, Macht und Geld ist immer wieder – und leider zu oft vergeblich - gewarnt worden. Demgegenüber steht die Erfahrung von Unheil und Katastrophen, die als Folgeerscheinungen unvermeidlich sind, wenn es nicht rechtzeitig gelingt, jene Weisheit zu erlangen, die hilft, gegen den Strom der Verlockungen und für die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens einzutreten. Nur auf diesem Weg wird es möglich sein, ein angemessenes Forschungsethos einzuhalten.26

Referenzen

  1. Kenner T., Plöchl E. (Hrsg.), Medizinische Ethik im Brennpunkt, Macht und Ohnmacht der modernen Medizin, Verlag SHS, Heilbronn (2005), S. 13-20
  2. Bauer A. W., Lebenswertes und weniger lebenswertes Leben? – Peter Singers Buch „Praktische Ethik“, in: Axel Bauer’s Virtual office http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~g47/bauermau.htm
  3. Kenner L., Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Thema „Stammzellforschung“ am 9. Mai 2007, Imago Hominis (2008); 15: 51-70
  4. Kenner L., siehe Ref. 3
  5. Jorda T., Kant? Kennt keiner, Morgen (2007); 5: 50
  6. Lewis C. S., The abolition of man, Harper, San Francisco, (2000), S. 77
  7. Kenner T., Wissenschaft, Weisheit und Universität, in: Mantl W. (Hrsg.), Die neue Architektur Europas, Böhlau-Verlag, Wien, Köln, Graz (1991), S. 149-155
  8. Kenner T., Physiological considerations about life cycles of universities, Wien Med Wochenschr (2007); 157: 392-397
  9. Kenner T., siehe Ref. 8
  10. Liessmann K.P., Theorie der Unbildung, Zsolnay Verlag, Wien (2006), S. 50-72
  11. Jorda T., siehe Ref. 5
  12. Kenner T., Der Elfenbeinerne Turm – Analyse eines Organismus, Inaugurationsrede als Rektor vom 8 .11. 1989, Verlag J. A. Kienreich, Graz (1990), S. 5
  13. Mason C., The Korean stem cell fiasco: shifting the focus, Med Device Technol (2006); 17: 24-26
  14. Lossau N., Mitteilung per eMail von H. Hüppe (Deutscher Bundestag) vom 15. Oktober 2007
  15. Paslak R., Schmidt K. W., Braucht der Fortschritt seine Skandale? Eine Untersuchung am Beispiel der Gentherapie, Zschr Med Ethik (1995); 41: 191-203
  16. Maddox B., Rosalind Franklin. Die Entdeckung der DNA oder der Kampf einer Frau um wissenschaftliche Anerkennung, Campus Verlag, Frankfurt, New York (2003)
  17. Maddox B., siehe Ref. 16
  18. Maddox B., siehe Ref. 16
  19. „slz“, Rassistische Äußerungen des Nobelpreisträgers Watson. – Von verschiedenen Ämtern abgesetzt, Neue Züricher Zeitung, 24. Oktober 2007, S. 30
  20. Jorda T., siehe Ref. 5
  21. Fleck L., Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, Verlag Suhrkamp, Frankfurt (1994), S. 40-53
  22. Kuhn T. S., Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt (1976), S. 57-78
  23. Kuhn T. S., siehe Ref. 22
  24. Kenner T., Wahn in der Diktatur der Wissenschaft, in: Zapotoczky H. G, Fabisch K. (Hrsg.), Paranoia und Diktatur, Versuch einer Analyse der pluralistischen Gesellschaft, Universitätsverlag Rudolf Trauner, Linz (2001), S. 111-127
  25. Adamovic F. M., Wie der Rechtsstaat erodiert, Die Presse, 16. Oktober 2007, S. 9
  26. Kenner T., siehe Ref. 7
    Kenner T, Jenseits der Ethik, Denken und Glauben (1997); 88: 17-19

Anschrift des Autors:

emer. Univ.-Prof. Dr. Dr. hc. Thomas Kenner
Physiologisches Institut
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