Altern im Spannungsfeld zwischen Würde und Ökonomie

Imago Hominis (2010); 17(1): 43-49
Johannes Rudda

Zusammenfassung

Altern im Spannungsfeld zwischen Würde und Ökonomie bedingt nicht nur gesellschaftskritische Vorschläge, sondern auch Lösungen. Vier große Themenbereiche werden angesprochen: Altersvorsorge, die leistbar und human ist, ein gerechtes Gesundheitssystem für ältere Menschen, ein wirksamer Schutz gegen das erhöhte Unfallrisiko von Senioren und eine dauernde Absicherung der Langzeitpflege. Ökonomiegebote sind zulässig. Sie dürfen zwar zu einer Rationalisierung des Backoffice der Sozialsysteme, aber nicht zu einer Rationierung von Sozialleistungen führen. Schließlich ist für die Sicherung des Sozialstaates für die ältere Bevölkerung eine gesamtgesellschaftliche Solidarität erforderlich.

Schlüsselwörter: Langzeitpflege, Menschenwürde, Ökonomie, Rationalisierung, Rationierung

Abstract

Growing old between dignity and economy not only affects suggestions, which are critical against society, but also solutions. Four big topics are touched: provision for old age, which is humane and achievable, a fair health system for elder human beings, an effective protection against the increasing risk for accidents happening to senior citizens as well as long lasting coverage for human beings in need of long-term care. Economic rules are allowable, in fact they can lead to a rationalization of the Back office of social systems, but not to a rationing of social contributions. Finally a comprehensive social solidarity is of utmost importance to secure the welfare state for senior citizens.

Keywords: Long-term Care, Dignity of Men, Economy, Rationalization, Rationing


Der massive Alterungsprozess der heutigen menschlichen Gesellschaft in Europa in den nächsten fünf Jahrzehnten ist durch die zweifelsfreien Statistiken der Demografie unbestritten. Relativ niedrige Geburtenraten, der Anstieg der Lebenserwartung um etwa sieben Jahre (Männer: 86 Jahre, Frauen 90 Jahre als Durchschnittsalter) und eine kontinuierliche Migration dürften dazu führen, dass bis 2060 die Zahl der Gesamtbevölkerung der Europäischen Union unverändert bleiben wird. Das Verhältnis zwischen den Personen im erwerbsfähigen Alter (von 15 – 64 Jahre) zu denen im Pensionsalter wird sich allerdings von derzeit 4:1 auf 2:1 wesentlich verändern. Die große Umstrukturierung zu einer Gesellschaft mit hohem Altenanteil bedingt im Wesentlichen vier Aufgabengebiete der Sozialpolitik mit entsprechenden Lösungen, will man eine humane Altersvorsorge, ein gerechtes Gesundheitssystem für ältere Menschen, einen wirksamen Schutz gegen erhöhtes Unfallrisiko von Senioren und eine dauernde Absicherung der Langzeitpflege erreichen.

Alterssicherung mit menschlicher Würde und Ökonomie

In Österreich hat sich die Alterssicherung breiter Bevölkerungsschichten mit der sozialen Pensionsversicherung seit über 100 Jahren entwickelt, als sukzessive große Teile der Erwerbstätigen eingegliedert wurden: 1906 waren dies die Privatangestellten, 1929 die Landarbeiter, 1939 die Arbeiter, 1958 die Gewerbetreibenden und 1970 die Bauern. Dies ging aber nicht so reibungslos, sondern es gab politische Kämpfe und Vorbehalte. Heute jedoch ist die soziale Pensionsversicherung als erste Säule unbestritten, die im Wesentlichen zu etwa 70% des Letzteinkommens den Lebensstandard garantiert. Prognosen für die Zukunft, die seriös erstellt werden (Statistik Austria) gehen davon aus, dass Österreich sich dieses System auch weiterhin leisten kann. Der hiefür erforderliche Bundesbeitrag wird von 2007 bis 2060 lediglich um 0,5% (von 5,3% auf 5,8%) des BIP steigen, wobei dies durch die radikale Abnahme der Bundesbeiträge zu den Ruhegenüssen pragmatisierter Beamter und das Pensionskonto für alle Erwerbstätigen bewirkt wird.

Freilich darf dabei nicht übersehen werden, dass das Pensionskonto eine Art Durchschnittspension, resultierend aus den Kontoprozentsätzen (1,78% pro Jahr) der Einkünfte des gesamten Erwerbslebens und der Bewertung von früheren Ersatzzeiten, wie z. B. Präsenzdienst- oder Kindererziehungszeiten, ist, die zwar Jahr für Jahr aufgewertet werden, aber alle Höhen und Tiefen des Versicherungslebens widerspiegelt. Somit wird bei mittleren und höheren Verdienern die Sozialversicherungspension allein für die Wahrung des bisherigen Lebensstandards nicht ausreichen.

Als zweite Säule der Alterssicherung gibt es die Betriebspension. Nach dem Betriebspensionsgesetz (BPG) und Pensionskassengesetz (PKG) ist eine solche Zusatzpension nur möglich, wenn sie kollektiv vereinbart wird. Sohin muss zwingend eine Betriebsvereinbarung oder betriebliche Kollektivversicherung abgeschlossen werden. Aufgrund der vorherrschend kleinbetrieblichen Strukturen haben daher nur ca. 15% der Erwerbstätigen eine Betriebs- oder Pensionskassenpension zu erwarten. Da der Gesetzgeber von einem ursprünglich durch einen Börsenboom geprägten, heute aber viel zu hohen Rechenzinsfuß ausging, weil seit der Finanzmarktkrise die Entwicklung der Wertpapiere sich ins Gegenteil verkehrt hatte, müssen Betriebspensionisten vielfach höhere Verluste und Pensionskürzungen hinnehmen. Die Bundesregierung will zwar dieser Entwicklung gegensteuern, doch ist vor allem für die Vergangenheit kein öffentlicher Finanzzuschuss in Sicht. Was sollen die Bürger aber tun, damit sie bei der Altersvorsorge nicht zu große Einbußen bei ihrem Lebensstandard haben? Bereits ab mittleren Einkünften (ab € 2.000 brutto im Monat) sollten die Instrumente der dritten Säule verwendet werden, um Pensionslücken zu vermeiden: Es ist dies die Privatvorsorge. Zwei neue Meinungsumfragen von den Instituten Fessel Gfk und market mit einem Sample von 2.000 Personen, vor allem jungen ÖsterreicherInnen von 15 bis 30 Jahren, stellen drei Schwerpunkte fest:

  1. Von der ersten Säule wird künftig weniger für die Pension erwartet.
  2. Die private Vorsorge ist unabdingbar: 69% wollen damit das Alter absichern.
  3. Sicherheit geht vor Ertrag: Das gute alte Sparbuch, Bausparverträge und klassische Lebensversicherungen sind primär gefragt.

Abschließend sieht man, dass auch ein längeres Altern in Würde möglich ist, wenn man auf den Stand seines Pensionskontos achtet, bei Gesundheit auch länger erwerbstätig ist und privat rechtzeitig vorgesorgt hat. Man darf eben nicht allein dem Staat das ökonomische Handeln überlassen, sondern muss auch selbst in dieser Richtung initiativ für seine Altersvorsorge werden.

Trotz der Finanzmarktkrise sollte der Staat auch bei seinen vermehrten Ausgaben und Zuschüssen auf eine stabile Finanzierung der ersten Säule achten, weil Altersarmut und eine stärkere Verminderung der Kaufkraft der künftigen Pensionisten zu deflatorischen Erscheinungen führen könnte, die dem allgemeinen Wirtschaftswachstum abträglich sind. Die Menschenwürde im Alter, verbunden mit materieller Absicherung sollte bei einer Abwägung der Rechtsgüter einen sehr hohen Stellenwert haben, der auch die Glaubwürdigkeit der Politik im demokratischen System beweisen würde.

Gesundheit im Alter zwischen Rationalisierung und Rationierung

In der Regel benötigt der ältere Mensch mehr Gesundheitsleistungen als in jungen Jahren. Dies hat seine Ursache in genetischen Faktoren, Umwelteinflüssen und zu wenig Prävention bzw. Eigenverantwortung. Dennoch gebieten es die Menschenwürde und Ethik, auch älteren Menschen die zur Aufrechterhaltung und Verbesserung ihres Gesundheitszustandes notwendigen Mittel unbeschränkt zuteil werden zu lassen, will man sich nicht dem Vorwurf lebensverkürzender Rationierung aussetzen.

Dennoch sollten im Gesundheitswesen ökonomische Grundsätze nicht fehlen, obwohl dieses primär ein Anbietermarkt ist und stets vom medizinischen Fortschritt dominiert wird. Allerdings haben viele Behandlungen und Heilmittel ihre Grenzen. Bei vielen Krankheiten, wie z. B. Krebs, hat die Medizin noch keinen wirklichen Durchbruch zur endgültigen Heilung geschafft.

Der ältere Mensch im Spannungsfeld seines individuellen Gesundheitszustandes, seiner Lebenserwartung und seiner sozialen Krankenversicherung will gewöhnlich bei möglichst guter Gesundheit und Mobilität alt werden. Dies gebietet auch seine Menschenwürde, die auch die soziale Krankenversicherung zu beachten hat. Aufgrund finanzieller Engpässe wird der Spielraum zu einer optimalen Behandlung kleiner, zumal manche Krankenversicherungsträger ihre freiwilligen Leistungen (z. B. Kur für Pensionisten) sistiert und auch bei den Pflichtleistungen Beschränkungen (z. B. bei Physiotherapie) eingeführt haben.

Andererseits ist von den Krankenversicherungsträgern ein Pauschalsatz ihrer Einnahmen (2008: 3,8 Mrd. Euro = 28,6% ihrer Gesamteinnahmen) an die Spitäler zu überweisen, ohne auf deren Rationalisierung irgendeinen Einfluss nehmen zu können. Hinsichtlich der Ausgaben für ärztliche Hilfe und Heilmittel samt Heilbehelfe (2008: 6,6 Mrd. Euro = 48,4% der Einnahmen) hat der Hauptverband der österreichischen Bundesregierung Ende Juni 2009 ein ambitioniertes Kostendämpfungspaket von 1,7 Mrd. Euro und weitere Umschichtungsvorschläge von 0,9 Mrd. Euro vorgelegt, die schließlich einen Sanierungsbeitrag von 600 Mio. Euro bei 1,4 Mrd. Euro kumulierten Gesamtabgängen der Krankenversicherungsträger zusagte. Damit wird erkennbar, dass ältere Menschen nicht mehr mit einer Gesamtsolidarität aller Bürger und Steuerzahler rechnen dürfen, zumal die Wirtschaftskrise die Staatseinnahmen verringert und die Staatsschulden beträchtlich erhöht hat (2010: bereits 70% des Bruttonationalprodukts!)

Vom älteren Menschen wird daher gefordert, eine bestimmte Eigenverantwortung an den Tag zu legen. Prävention hätte dabei einen hohen Stellenwert einzunehmen. Es wird nicht allein genügen, dass er darauf achtet, dass die soziale Krankenversicherung seine großen Risiken voll abdeckt. Die Behandlung kleinerer Befindlichkeitsstörungen, wie z. B. leichter Erkältungen oder Beeinträchtigungen der Essgewohnheiten könnte er selbst übernehmen, zumal damit auch altbewährte Hausmittel verwendet werden können. Der Arzneimittelsicherheitsgurt der Apotheken oder ein Medikamentenpass, wie bei der Kärntner Gebietskrankenkasse, sollte die Übermedikation einschränken. Ein bewusster Umgang mit den Ressourcen durch alle Krankenversicherten wird auch den Älteren ihre Lebensqualität belassen können, ohne dass eine Rationierung notwendig wird.

Die Gesundheitsausgaben liegen in Österreich mit etwas über 10% vom BIP im oberen Drittel der EU. Eine hohe Behandlungsrate im Spital, die auch viele ältere Personen trifft, verursacht enorme Kosten. Rationalisierungspotentiale wurden bereits mehrfach (z. B. Rechnungshof, Sozialversicherung) erkannt, scheiterten bisher aber an der regionalen Politik. Auch die Prävention für ältere Menschen ist bisher nur zum Teil verwirklicht. Um das Gesundheitswesen insgesamt effizienter zu machen, ist die Finanzierung aus einem Topf notwendig und eine Steuerung aller Leistungen sowohl im stationären und ambulanten Bereich nach ökonomischen, aber auch humanen Grundsätzen unumgänglich. Eine gezielte Gesundheitsförderung für Menschen mit höherem Lebensalter könnte nicht nur die Lebensqualität dieser Personen verbessern, sondern auch die Gesundheitsausgaben spürbar senken.

Unfälle im Alter

Nicht zu unterschätzen sind die Auswirkungen von Unfällen älterer Menschen. In jüngster Zeit hat die Allgemeine Unfallversicherungsanstalt (AUVA) vor allem der Sturzprävention besonderes Augenmerk geschenkt. Sehr viele ältere Personen liegen nach Brüchen aufgrund von Stürzen in den Krankenhäusern – auch in den Unfallspitälern der AUVA –, um durch erfolgreiche Operationen und Rehabilitationen wieder zu ihrer Alltagskompetenz zurückzufinden.

Gerade Pensionisten haben aufgrund einer fehlenden gesetzlichen Unfallversicherung nur Anspruch auf Krankenbehandlung, die nach § 133 Abs. 2 ASVG und Parallelbestimmungen ausreichend und zweckmäßig zu sein hat, aber das Maß des Notwendigen nicht überschreiten darf. Hingegen hat nach § 189 Abs. 1 ASVG die Unfallheilbehandlung von in der sozialen Unfallversicherung Versicherten mit allen geeigneten Mitteln zu erfolgen, um die Minderung der Erwerbsfähigkeit zu beseitigen oder wenigstens zu verringern.

Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Krankenbehandlung ist grundsätzlich restriktiv. In Einzelfällen gewährt sie bei nicht ausreichender Schulmedizin auch den Ersatz anderer Behandlungen, wie z. B. durch homöopathische Präparate. Die Leistungen der Unfallversicherung sind jedenfalls im Gesetz nicht taxativ aufgezählt. Die Materialien zur 29. ASVG-Novelle bringen zum Ausdruck, dass die Unfallheilbehandlung auch zur Beseitigung oder Besserung der Unfallfolgen und zur Erhaltung der Fähigkeit zur Besorgung der lebenswichtigen persönlichen Angelegenheiten gewährt wird. Für den älteren Menschen besteht ein zweifaches Dilemma:

  1. Er unterliegt nicht mehr dem Arbeitsprozess und hat daher keine gesetzliche Unfallversicherung mehr. Die Behandlung in einem Unfallspital erfolgt nach einem „good will“ der Unfallversicherung bzw. von dieser im Auftrag der Krankenversicherung, die diese nach Meinung der AUVA nur unzureichend pauschal vergütet.
  2. Er hat keinen Rechtsanspruch auf medizinische Rehabilitation durch die Unfallversicherung. Das Gesetz (§ 154a ASVG) sieht bloß eine „Pflichtaufgabe“ durch die Krankenversicherung vor. Finanzielle Probleme der Krankenversicherungsträger haben zu einer Sistierung oder äußerst eingeschränkten Gewährung von medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen geführt. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs verlangt zwar ein nachprüfbares Ermessen, toleriert aber Beschränkungen aufgrund der Finanzlage, wenn diese als Begründung angeführt werden.

Zur Würde des alternden Menschen gehört es aber auch, dass er einen Rechtsanspruch auf medizinische und soziale Rehabilitation hat, um relativ gesund das Alter erleben zu können. Die soziale Rehabilitation soll ihn durch geeignete Adaptierungen der Wohnung und der Verbesserung seiner Mobilität zu einer gesellschaftlichen Teilhabe ermutigen. Die Menschenwürde des Alters sollte nicht durch ein überzogenes ökonomisches Denken, d. h. durch Rationierung der Gesundheitsausgaben für Unfallheilbehandlungen abhanden kommen.

Dauernd gesicherte Langzeitpflege zwischen Würde und Ökonomie

Wenn der letzte Lebensabschnitt erreicht wurde, benötigt der ältere Mensch sehr oft Pflege. Etwa 75 bis 80 Prozent der Betroffenen werden informell zu Hause gepflegt. Die übrigen Pflegebedürftigen werden in Heimen betreut, die teilweise den Ländern und zum anderen Teil privaten Betreibern gehören.

Der deutsche Dichter Ferdinand Freiligrath, der im 19. Jahrhundert lebte und sozial sehr engagiert war, schrieb in einem seiner Gedichte: „Was wir erwarten von der Zukunft fernen, dass Brot und Arbeit uns gerüstet steh’n, dass unsere Kinder in der Schule lernen und unsere Greise nicht mehr betteln geh’n.“

Zur teilweisen Abgeltung des erhöhten Pflege- und Betreuungsbedarfs gibt es seit 1. Juli 1993 ein 7-stufiges Pflegegeld (ab 1. Jänner 2009 von € 154,20 bis € 1.655,80 pro Monat). Die Einstufung erfolgt nach einer Untersuchung von Gutachterärzten durch den zuständigen Entscheidungsträger (in der Regel Pensions- und Unfallversicherungsträger). Waren es 1993 noch 230.000 Pflegegeldbezieher, so sind es 2009 bereits mehr als 400.000 und im Jahre 2030 werden es nach Schätzung des WIFO etwa 570.000 Leistungsempfänger sein. Dazu kommt noch der weitere Ausbau der sozialen Dienste durch die Länder und die Erbringung von Sachleistungen, deren Aufwand bis 2030 ebenfalls stark ansteigen wird.

Einer der Schwerpunkte für die Zukunft wird die Sicherstellung der Leistbarkeit der Pflege für jeden betroffenen Staatsbürger sein. Dafür wird neben einem valorisierten und differenzierten Pflegegeld vor allem auch die einkommensadäquate Bereitstellung von Sachleistungen – vor allem eine breite Palette mobiler Dienste – notwendig sein. Diese höheren Ansprüche an die Pflegequalität müssen in gesamtgesellschaftlicher Solidarität und in Anpassung an die individuelle Einkommens- und Vermögenssituation befriedigt werden. Möglichkeiten hiezu sind eine stärkere Beteiligung von Bund und Ländern und eine Richtlinienkompetenz des Sozialministers für die individuelle Förderung in Hinblick auf die Leistbarkeit und Einheitlichkeit von Förderzuschüssen mit Rechtsanspruch.

Nach der Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts (WIFO) von 2008 konnte nach den drei Szenarien des WIFO ein zusätzlicher Finanzbedarf bis 2030 für die Geld- und Sachleistungen von 66 bis 207 Prozent des heutigen Aufwands (2008) festgestellt werden, ohne dass künftige gesetzliche Verbesserungen, wie z. B. eine bessere Einstufung Demenzkranker, berücksichtigt wurden. Beim Bundespflegegeld wird bis 2030 ein Mehraufwand von 670 bis 1.050 Mio. Euro und beim Landespflegegeld ein solcher von 25 bis 62 Mio. Euro erforderlich sein. Die Sachleistungen steigen um 1,4 bis 5,6 Mrd. Euro je nach Szenario. Insgesamt ergibt sich ein Mehrbedarf von 2,1 bis 6,7 Mrd. Euro, mit gesetzlichen Verbesserungen von 3 bis 8 Mrd. Euro, der solide zu finanzieren wäre.

Beachtlich sind auch die bisherigen Eigenleistungen der pflegebedürftigen Personen und deren Angehörigen, die rund 2,6 Mrd. Euro pro Jahr betragen. Maßnahmen der Altersprävention und -rehabilitation greifen erst mittel- und langfristig und auch nur dann, wenn keine neuen Krankheiten oder wesentliche Verschlimmerungen bestehender Krankheiten hinzutreten.

Man wird sich daher auf eine nachhaltige langfristige Finanzierung einstellen müssen, die auch die intergenerative Gerechtigkeit gewährleistet und dem Wirtschaftsstandort nicht schadet.

a) beitragsfinanzierte Pflegeversicherung

Dieses System existiert in Deutschland, hat aber bereits zweimal zu Anhebungen des Beitragssatzes von 1,5 auf 1,95 Prozent (+ 0,25% für Kinderlose) geführt, obwohl die Leistungen von 1995 bis 2008 eingefroren waren und das Niveau unter dem österreichischen liegt.

In Österreich würde allein die Umwandlung der Geldleistungen des Bundespflegegeldgesetzes einen Beitragssatz von 2,8% erfordern, der im Jahre 2030 etwa 4 bis 4,5 Prozent betragen müsste. Sowohl eine Arbeitgeberbelastung als auch eine reine Individualbelastung der Versicherten sind lohnkostenmäßig als auch einkommenspolitisch wegen einseitiger Belastung wirtschaftlich Schwächerer unzumutbar. Sie würden auch die Kaufkraft dämpfen und gesamtwirtschaftlich in Rezessionsphasen wachstumshindernd sein.

b) steuerfinanziertes System

Ein solches besteht in den nordischen Staaten, vorab in Dänemark, und hat dort eine jahrzehntelange Tradition eines Wohlfahrtsstaates. Das System bevorzugt primär Sachleistungsangebote, wobei ab 1987 mobile Dienste verstärkt einbezogen wurden. Finanziert wird in Dänemark die Pflege sehr stark mit kommunalen Einkommensteuern und staatlichen Zuschüssen. Daher werden weder die Versicherten direkt belastet, noch die lohnabhängigen Beiträge und Abgaben berührt.

c) Mischsystem

In den Niederlanden hat sich ein System herausgebildet, das Beiträge auf alle steuerpflichtigen Einkunftsarten einhebt und zweckgebundene personelle Budgets mit Berücksichtigung der Angehörigenpflege vorsieht. Ursprünglich lag der Schwerpunkt auf stationärer Pflege, ab 1990 wurde die mobile Pflege verstärkt.

d) Heranziehung von Vermögen zur Pflegefinanzierung

Teilweise vertraten die Politik, aber auch Vertreter des WIFO die Auffassung, eine ständige Finanzierung der Langzeitpflege in der Zukunft mit einem Pflegefonds und Vermögenssteuern zu gewährleisten. Abgesehen von der Frage der intergenerativen Verteilungsgerechtigkeit und der natürlichen Grenzen von Vermögenssteuern darf nicht übersehen werden, dass durch die jüngste Krise der Finanzmärkte allein im Jahr 2008 das private Geldvermögen der ÖsterreicherInnen sich um 19 Mrd. Euro reduzierte. Dieser Megaverlust traf nicht nur die Reichen, sondern die breite Masse von Wertpapierbesitzern. Sohin ist die Vermögensbesteuerung eine sehr unsichere Basis für eine dauerhafte Finanzierung der Langzeitpflege. Es verbleibt daher nur eine Lösung mit gesamtgesellschaftlicher Solidarität.

e) Eine denkbare österreichische Lösung

Wie bereits vorhin ausgeführt und auch vom WIFO skeptisch betrachtet, ist eine beitragsfinanzierte Pflegeversicherung mit gravierenden Nachteilen verbunden. Eine Finanzierung mit Kommunalsteuern ist deshalb nicht möglich, weil die Gemeinden jetzt schon Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Aufgaben haben und im Übrigen sehr unterschiedliche Strukturen in den Gemeinden vorliegen (reiche Industriegemeinden versus ärmere Gebirgsgemeinden). Denkbar aber wäre es, einen zweckgebundenen Zuschlag zur Lohn-(Einkommen-)steuer oder Mehrwertsteuer vorzusehen, womit eine Garantie von diesen beiden ergiebigsten Steuern des Staates für den zusätzlichen Pflegeaufwand gegeben wäre.

Die Langzeitpflege älterer Menschen sollte in Zukunft auch lückenlos qualitätsgesichert sein, wofür die Gesundheits- und Pflegeberufe aufeinander abgestimmt sein müssen. Wichtig wäre auch die Integration von Maßnahmen der Prävention und Gesundheitsförderung in Pflegeprogramme für ältere Menschen.

Schlussfolgerung

Abschließend stelle ich fest, dass Würde und Ökonomie im Alter einander nicht ausschließen müssen. Bei ambitionierter Gestaltung der Alterssicherung, vernünftigem Umgang mit der Gesundheit, Vermeidung von Unfällen älterer Menschen und dauernd gesicherter Langzeitpflege kann die Menschenwürde mit der Ökonomie existieren. Eine richtig verstandene Ökonomie dient der Menschenwürde. Neoliberalistischen Tendenzen auf Gewinnmaximierung im Sozialwesen zu Lasten der Älteren muss man entgegentreten, zumal weder eine Entsolidarisierung der österreichischen Gesellschaft zwischen Jung und Alt noch eine Einschränkung der Menschenwürde im Alter demokratiepolitisch erwünscht ist.

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Anschrift des Autors:

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