Beihilfe zum Suizid: Entwicklungstendenzen in der Schweiz

Imago Hominis (2010); 17(1): 51-58
Gabriela Eisenring

Zusammenfassung

Die sogenannte „organisierte Beihilfe zum Suizid“ wird immer stärker Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, wieweit es eine gesamtschweizerische Regelung der „organisierten Sterbehilfe“ braucht. Obwohl der Bundesrat bis vor ein paar Jahren immer wieder betonte, dass eine Regelung auf Bundesebene nicht notwendig sei, änderte er seine Meinung und schickte am 28. Oktober 2009 zwei Varianten einer Gesetzesänderung des Art. 115 des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Art. 119 des Militärstrafgesetzbuches in die Vernehmlassung, die bis 1. März dauern sollte. Es handelt sich um folgende Varianten: Festlegung von klaren Sorgfaltspflichten im Strafrecht für Mitarbeitende von Suizidhilfeorganisationen oder schlichtes Verbot der organisierten Suizidhilfe. Die organisierte Sterbehilfe müsste grundsätzlich verboten werden. Nur damit wird wirklich ein Zeichen gesetzt, dass man die Kultur des Lebens und nicht eine des Todes fördern will. Beihilfe zum Suizid ist Beihilfe zum Töten. Und keine Gesellschaft darf das Recht beanspruchen, bestimmte Tötungen für rechtmäßig zu erklären. Palliativmedizin und Hospizbewegungen hingegen machen ein wirklich „menschenwürdiges Sterben“ möglich.

Schlüsselwörter: Beihilfe zum Suizid, Gesetzesentwurf, Sterbehilfeorganisationen, Kultur des Todes, Schweiz

Abstract

The so-called “organized assisted suicide” is increasingly the subject of public debate. Again and again the question arises whether federal Swiss rules are needed to regulate and control the “organized euthanasia.” Although in the passed years the Federal Council repeatedly maintained that rules at federal scale were not necessary, lately they changed their mind and in October 28th, 2009 they sent two versions of a legislative amendment of Article 115 of the Swiss Penal Code and of Article 119 of the Military Penal Code for consultation, which should last until March 1st, 2010. These variants are the following: either to establish, in criminal Law, clear regulations for the behaviour of employees of assisted suicide organizations or to state a clear prohibition of assisted suicide. Organized euthanasia should be fundamentally prohibited. This is the only way to promote the culture of life and not that of death. Assisted suicide is assisted killing. No society should claim the right to declare certain killings as lawful. On the other hand, palliative care and hospice movements really make a “dignified death” possible.

Keywords: Assisted suicide, Bill, Euthanasia Organizations, Culture of Death, Switzerland


Einführung

Wie bekannt, ist das Thema der sogenannten „organisierten Beihilfe zum Suizid“ schon seit Jahren in der Schweiz Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Immer wieder wird die Frage aufgeworfen, wieweit es eine gesamtschweizerische Regelung der „organisierten Sterbehilfe“ wirklich braucht.

Die am 7. Juli 2009 unterschriebene Vereinbarung der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich mit der Sterbehilfeorganisation Exit1 hat nun diese Diskussion erneut in den Mittelpunkt gerückt. Es scheint, dass diese Vereinbarung neben anderen neueren Entwicklungen nun doch einen Handlungsbedarf auf Bundesebene hat erkennen lassen, denn der Bundesrat hat einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung geschickt, der derzeit auf allen Ebenen heftig diskutiert wird.

In der Schweiz ist die Tötung auf Verlangen zwar strafbar gemäß Art. 114 des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB), die Beihilfe zum Suizid nur dann, wenn die mitwirkende Drittperson aus selbstsüchtigen Beweggründen handelt (Art. 115 StGB und 119 des Militärstrafgesetzbuches, MStg). Auf Bundesebene bestehen heute keine weiteren spezifischen Regelungen zur Suizidhilfe. Diese Rechtslage hat bis zu einem gewissen Grad die Entstehung von Sterbehilfeorganisationen begünstigt, die gegen Entgelt systematisch ihr Know-how zur Verfügung stellen und suizidwilligen Personen konkrete Hilfe leisten. Auch viele Personen aus dem Ausland nehmen diese Hilfe in Anspruch, so dass man vor allem im Kanton Zürich von einem „Sterbetourismus“ spricht. Die Standortwahl und auch einige Vorkommnisse rückten die Tätigkeit der Organisationen in den Fokus des öffentlichen Interesses und erregten in der Bevölkerung und in politischen Kreisen Besorgnis.

Obwohl der Bundesrat bis vor ein paar Jahren immer wieder betonte, dass eine Regelung auf Bundesebene nicht notwendig sei, änderte er später seine Meinung und beauftragte am 2. Juli 2008 das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement in Verbindung mit dem Eidgenössischen Departement des Innern, den allfälligen gesetzgeberischen Handlungsbedarf betreffend die organisierte Suizidhilfe vertieft abzuklären. Am 28. Oktober 2009 schickte er zwei Varianten eines Gesetzesentwurfs mit einem erläuternden Bericht in die Vernehmlassung, die bis 1. März 2010 dauern sollte.2 Es handelt sich um folgende Varianten der Änderung des Strafgesetzbuches: (1) Festlegung von klaren Sorgfaltspflichten im Strafrecht für Mitarbeitende von Suizidhilfeorganisationen; (2) schlichtes Verbot der organisierten Suizidhilfe.3

Nachfolgend sollen die neueren Entwicklungen, die zu dieser Maßnahme geführt haben, und der Inhalt dieses neuen gesamtschweizerischen Gesetzesentwurfs dargelegt werden.

Neuere Entwicklungen, die den Gesetzgeber zum Handeln veranlassten

Wie schon erwähnt, hat die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und der Sterbehilfeverein EXIT Deutsche Schweiz am 7. Juli 2009 eine Vereinbarung über die organisierte Suizidhilfe unterzeichnet. Die Vereinbarung will „die Absicht des Regierungsrates des Kantons Zürich umsetzen, auf kantonaler Ebene die Schaffung von ‚Standesregeln’ für Suizidhilfeorganisationen anzustreben, die mit den Organisationen einvernehmlich abgesprochen sind und von diesen freiwillig übernommen werden, um missbräuchliche Praktiken möglichst zu verhindern“4. Diese Vereinbarung wurde mit Kenntnis und Zustimmung der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich sowie mit der Bestätigung der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich, dass aus gesundheitspolizeilicher Sicht dem Abschluss nichts im Wege stehe, unterzeichnet.

Grundsätzlich wird festgehalten, dass die oben genannte Vereinbarung auf der in der Schweiz vorherrschenden liberalen Grundhaltung zur Suizidhilfe basiere. Die „organisierte Suizidhilfe“ wird definiert als „das Anbieten der im Rahmen von Art. 111 ff. des Schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) zulässigen Hilfeleistungen an suizidwilligen Personen durch Organisationen oder Einzelpersonen, welche die Hilfe regelmäßig anbieten“.

Weiters heißt es, dass die Suizidhilfe nur dann zu gewähren sei, „wenn der Suizidwunsch aus einem schweren, krankheitsbedingten Leiden heraus entstanden ist“; dabei sei der Begriff der Erkrankung „weit auszulegen und umfasst auch Leiden infolge eines Unfalls oder einer schweren Behinderung“.5 Auch dürfe kein Zweifel an der Urteilsfähigkeit der suizidwilligen Person bestehen mit Bezug auf ihren Entscheid, sich mit Hilfe Dritter das Leben zu nehmen. Ist die Suizidalität Ausdruck oder Symptom einer psychischen Krankheit, darf grundsätzlich keine Suizidhilfe geleistet werden; unter konkreten Umständen jedoch, falls die betroffene Person bezüglich ihres Sterbewunsches klar urteilsfähig sei, dürfe auch hier Sterbehilfe geleistet werden. Bei Personen mit fortschreitender Demenz dürfen keine Zweifel bezüglich ihrer Urteilsfähigkeit bestehen.6

Die Vereinbarung regelt auch den konkreten Ablauf der Suizidhilfe, der eigentlich schon seit Jahren übliche Praxis ist. Die von Exit organisierte Suizidbegleitung wird ausschließlich unter Verwendung von Natrium-Pentobarbital (NaP) durchgeführt. Hingegen wird nun festgelegt, dass „zur Vermeidung von Routineabläufen“ ein Sterbebegleiter pro Jahr höchstens zwölf Suizide betreuen darf. Pro Fall soll er maximal 500 Schweizer Franken (CHF) Spesen verrechnen dürfen.7 Sobald der Tod eingetreten ist, müsse der Exit-Mitarbeiter die Polizei informieren und ihr eine „Dokumentenmappe“ übergeben. Sie müsse unter anderem eine Erklärung enthalten, in der die sterbewillige Person ihren Willen zum Suizid bekundet. Weiters sollen künftig nur noch zwei Polizisten sowie ein Amtsarzt an den Sterbeort einrücken.8 Die Kosten für die Untersuchung des Suizids als außerordentlicher Todesfall werden von der Staatskasse getragen (§ 42 Abs. 1 StPO ZH; Art. 423 Abs. 1 in Kraft ab 1. Jänner 2011).9

Zum Schluss wird festgelegt, dass die Vereinbarung von beiden Vertragsparteien unter Einhaltung einer Frist von einem Jahr jederzeit gekündigt werden kann. Aus wichtigen Gründen kann mit sofortiger Wirkung gekündigt werden.10

Die Human Life International (HLI)-Schweiz, die Vereinigung Katholischer Ärzte der Schweiz (VKAS) und die Schweizerische Gesellschaft für Bioethik (SGBE) haben diese Vereinbarung zwischen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Exit juristisch angefochten. Sie reichten gemeinsam eine Beschwerde beim Bundesgericht und zugleich eine Aufsichtsbeschwerde beim Regierungsrat des Kantons Zürich ein. In ihrer Stellungnahme11 verweisen sie auf eine Erklärung von mehreren bekannten Staatsrechtlern, wonach eine solche Vereinbarung von einer Staatsanwaltschaft gar nicht abgeschlossen werden könne. Diese überschreite ihre Kompetenz. In einem demokratischen Rechtsstaat seien nicht umsonst Exekutive, Legislative und Judikative voneinander getrennt. Außerdem sei es sehr fragwürdig, „Standesregeln für Sterbehilfeorganisationen“ in so einer Vereinbarung festzulegen. Damit werde der ethisch äußerst umstrittenen Suizidbeihilfe ein staatliches Gütesiegel aufgedrückt. Auch der sogenannte Sterbetourismus sei nach dieser Regelung weiter möglich.

Zweifellos möchte die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich durch diese Vereinbarung Druck auf den Bundesrat ausüben, damit eine bundesweite gesetzliche Regelung zustande kommt. Tatsache ist zwar, dass rechtlich jeder in der Schweiz Suizidhilfe leisten und dafür grundsätzlich nicht bestraft werden kann; hingegen ist fraglich, ob ein Kanton eine private Vereinbarung mit einer Organisation abschließen darf, die „gewerbliche“ Suizidhilfe betreibt, was doch „beträchtliche ethische Zweifel“ aufwirft. Außerdem muss nun auch rechtlich geprüft werden, ob eine solche Vereinbarung überhaupt von einer Staatsanwaltschaft abgeschlossen werden kann und es nicht mindestens ein Gesetz als Rechtsgrundlage bräuchte.

Obschon für die Beschwerde die aufschiebende Wirkung beantragt wurde, ist die Vereinbarung in Kraft getreten. Die Beschwerde liegt zur Zeit beim Bundesgericht; die HLI-Schweiz, die VKAS und die SGBE wollen sich zu den laufenden Verfahren vorläufig nicht mehr äußern und auch keine Details über den Inhalt der Beschwerde bekannt geben. Der Bundesgerichtsentscheid ist somit abzuwarten. Falls die Beschwerde gutgeheißen würde, müsste die Vereinbarung als nicht gültig erklärt werden.

Die HLI-Schweiz, die VKAS und die SGBE lehnen somit diese Vereinbarung klar ab. Sie sei „ein Druckmittel“, um eine nationale gesetzliche Anerkennung von Sterbehilfeorganisationen durchzusetzen. Die vereinbarte Regelung gebe mehr oder weniger die bis lang übliche Praxis wieder. HLI verwahrt sich gegen die Verwendung des Begriffs „Standesregeln“ im Zusammenhang mit der Beihilfe zum Suizid, weil die Sterbehilfeorganisationen durch ihre Tätigkeit selber „auf ethisch äußerst bedenkliche Weise“ handeln. Berufsgruppen wie z.B. die Ärzte geben sich normalerweise ihre Standesregeln selbst und nicht in Form einer Vereinbarung mit einer Staatsanwaltschaft.

HLI-Schweiz, die VKAS und die SGBE setzen sich hingegen für die Förderung der Palliativmedizin in der Ausbildung von Gesundheitsberufen ein. Die in Deutschland gemachten positiven Erfahrungen mit Hospizen für Kranke im Endstadium könnten problemlos auf die Schweiz übertragen werden. Damit könnten Suizide vermieden und positive Zeichen gesetzt werden dafür, dass Kranke, Behinderte und Sterbende von unserer Gesellschaft mitgetragen werden.

Als Reaktion auf die Situation in Zürich wurden Ende Mai 2009 zwei kantonale Volksinitiativen gegen den Sterbetourismus und die Suizidhilfe eingereicht. Die erste fordert das Verbot jeglicher Suizidhilfe an Personen, die seit weniger als einem Jahr im Kanton Zürich leben: die zweite will den Bund beauftragen, jegliche Art von Suizidhilfe unter Strafe zu stellen. Die Regierung des Kantons Zürich beantragte dem Parlament allerdings, die erste Initiative als ungültig zu erklären mit der Begründung, sie sei mit dem übergeordneten Bundesrecht nicht vereinbar.12

Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren (GDK) hat 2008 eine Stellungnahme zur Regelung der Aufsicht erarbeitet, worin die Kantone großmehrheitlich zum Schluss kommen, es bedürfe keiner neuen gesetzlichen Regeln auf Bundesebene. Um die Gefahr eines zusätzlichen „Legitimationsschubes“ nicht zu steigern, sei es wichtig, prioritär die Qualifizierung des Pflegepersonals und die Durchsetzung der Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu fördern.13

Im Kanton Aargau hat der Regierungsrat in seiner Botschaft zu einem neuen Gesundheitsgesetz14 ebenfalls auf Bestimmungen zur Suizidhilfe verzichtet, weil er der Meinung ist, eine Regelung der Suizidhilfe aufgrund der bereits bestehenden Instrumente und der aktuellen Entwicklung sei nicht notwendig. Hingegen hat er in der Strafprozessordnung eine Rechtsgrundlage für die Überwälzung der strafprozessualen Untersuchungskosten auf Sterbehelfende geschaffen. Am 17. Juni 2008 hat hingegen derselbe Kanton eine Standesinitiative eingereicht, mit der das Bundesparlament eingeladen wird, mittels geeigneter Maßnahmen die gewerbsmäßige Beihilfe zum Suizid zu verhindern und eine gesamtschweizerische verbindliche Regelung der medizinischen Suizidbegleitung vorzunehmen.15

Auf Bundesebene wurden außerdem zahlreiche parlamentarische Vorstöße eingereicht.16

Die Schweizerische Akademie der Wissenschaften (SAMW) und die Nationale Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin (NEK) hat am 7. Juni 2006 in einem Schreiben an den Bundesrat die Meinung kundgetan, dass der Bund im Bereich der Suizidhilfeorganisationen eine Aufsichtspflicht habe; mit unterschiedlichen kantonalen gesetzlichen Rahmenbedingungen würde das Phänomen des Sterbetourismus ansonsten weiter blühen.17 Zudem hat die NEK am 27. Oktober 2006 „Sorgfaltskriterien im Umgang mit Suizidbeihilfe“ veröffentlicht.18

Auch diese politischen Aktivitäten sind letztlich die Folge der Entwicklung der Suizidhilfeorganisationen in der Schweiz. In der Schweiz tätig sind heute namentlich drei: der Verein „EXIT Deutsche Schweiz Vereinigung für humanes Sterben“, gegründet 1982, mit Sitz in Zürich19; der Verein „EXIT Association pour le droit de mourir dans la dignité“ (A.D.M.D. Suisse romande), ebenfalls 1982 gegründet, mit Sitz in Genf20, und der Verein „DIGNITAS-Menschenwürdig leben-Menschenwürdig sterben“, gegründet am 17. Mai 1998 in Forch bei Zürich, mit Sitz in Maur.21 Diese Suizidhilfeorganisationen sind laut den Statuten nicht gewinnorientiert. Sie lassen sich aber für ihre Tätigkeit entschädigen. Wie im erläuternden Bericht zum Gesetzesentwurf gesagt wird, verlangt z. B. Dignitas für eine Suizidbegleitung mit Einbezug der Bestattungsformalitäten einen Vorschuss von rund 10.000 CHF. EXIT Deutsche Schweiz finanziert seine Tätigkeiten mit Mitgliederbeiträgen (seit 2009 45 CHF pro Jahr), Spenden, Kapitalzinsen und anderen Erträgen. Seine Dienstleistungen sind Mitgliedern vorbehalten. Die Suizidhilfeorganisationen betreiben Werbung mittels Inseraten und Berichten in Zeitungen im In- und Ausland, Auftritten an Gemeindeanlässe und Radiospots.22

In den letzten Jahren erfuhr die Praxis der Suizidhilfeorganisationen verschiedene, zum Teil stark mediatisierte Veränderungen. Zu nennen sind zum einen die von Dignitas gewählten Lokalitäten zur Durchführung des begleitenden Suizids wie Hotels oder auch Autos oder Wohnwagen auf öffentlichen Plätzen. Weiter ging Dignitas im Frühjahr 2008 über zur Anwendung der sog. „Helium-Methode“ anstelle der Verabreichung einer tödlichen Dosis NaP, das nur auf ärztliches Rezept hin erhältlich ist. Im Oktober 2008 machte Dignitas erneut Schlagzeilen mit der Meldung, dass ihre Mitarbeiter offenbar die Asche der Euthanasierten im Zürichsee entsorgen. Dignitas hat sich denn auch nie bereit erklärt, die private Vereinbarung mit der Züricher Oberstaatsanwaltschaft zu unterschreiben, da ihr die Vereinbarung zu eng für ihre Tätigkeit sei.23

Auch EXIT Deutsche Schweiz hat sich vor einiger Zeit entschieden, nicht mehr nur Schwerkranken zum Suizid zu verhelfen. Bereits früher hatte man mit der Suizidbegleitung von psychisch kranken Menschen begonnen, die nicht zu den todkranken Menschen zu zählen sind. Eine kürzlich in den Medien als aufsehenerregend qualifizierte Studie des Schweizerischen Nationalfonds bestätigt diese Entwicklung: Der Anteil der Menschen, die sich in Zürich von EXIT Deutsche Schweiz zum Suizid begleiten ließen, ohne an einer tödlichen Krankheit zu leiden, betrug zwischen 2001 und 2004 34 Prozent.24

Diese Organisationen möchten eine Legalisierung der Suizidhilfe erreichen: zum Beispiel EXIT ADMD Suisse Romande im Kanton Waadt, die eine Volksinitiative mit 14.087 gültigen Unterschriften eingereicht hat. Die Initiative verlangt, dass die staatlich subventionierten Altersheime die Sterbehilfe zulassen, sofern die Heimbewohner die Dienste einer Suizidhilfeorganisation in Anspruch nehmen wollen.25

Der Gesetzesentwurf des Bundesrates

In seinem Bericht vom Oktober 2009 hält der Bundesrat fest: „Jedes Menschenleben ist wertvoll, und jeder einzelne Suizid ist einer zuviel. Es gilt in erster Linie, Menschenleben zu schützen und es zu ermöglichen, dass alle Personen für ihr Problem eine andere Lösung finden und treffen können als einen Suizid“.26 Dennoch will er aber Suizid als ultima ratio zulassen.27 Die Förderung der Suizidprävention und Palliative Care, so führt der Bericht weiter aus, sind wichtige Maßnahmen, da sie sterbewilligen Menschen eine Alternative zum Suizid bieten. Da dem Bund eine umfassende Gesetzgebungskompetenz im Bereich der Suizidprävention fehlt, soll er die Krankheitsprävention und gesundheitsfördernde Maßnahmen stärker unterstützen. Es gebe Bemühungen, um Depression und Suizidialität zu reduzieren; Studien würden belegen, dass die Art der Berichterstattung in den Medien Nachahmungssuizide auslösen könne. Der Bundesrat möchte außerdem die Palliative Care in den nächsten Jahren verstärken, um den Patientinnen und Patienten eine bestmögliche Lebensqualität bis zum Tod zu ermöglichen.

Im seinem Gesetzesentwurf schlägt der Bundesrat, wie erwähnt, eine Änderung der Art. 115 des StGB und 119 des MtGB vor. Er vertritt nach wie vor die Auffassung, dass ein Spezialgesetz zur Regelung der Tätigkeit der Suizidhilfsorganisationen nicht sinnvoll ist.28 Das Gesetz steht unter dem fakultativen Referendum; wegen der Brisanz des Themas wird es wohl zur Abstimmung kommen.

Wie man aus dem erläuternden Bericht zum Gesetzesentwurf ersieht, will der Bundesrat an der bisherigen liberalen Regelung, welche Beihilfe zum Suizid ohne selbstsüchtige Beweggründe zulässt, grundsätzlich keine Abstriche machen. Da die Suizidorganisationen aber den rechtlichen Spielraum vermehrt ausschöpfen und sich teilweise den staatlichen und standesrechtlichen Kontrollmechanismen entziehen, drängen sich nach der Überzeugung des Bundesrates Leitplanken und Schranken auf. Diese sollen verhindern, dass die organisierte Suizidhilfe zu einer gewinnorientierten Tätigkeit wird. Sie sollen zudem gewährleisten, dass die organisierte Suizidhilfe „todkranken Patienten vorbehalten bleibt und nicht durch chronisch oder psychisch kranke Menschen in Anspruch genommen werden kann“. Der Suizid soll nur der letzte Ausweg sein. Im Vordergrund muss nach Ansicht des Bundesrates der Schutz des menschlichen Lebens stehen. Insbesondere durch die Förderung der Palliativmedizin und der Suizidprävention können suizidwilligen Personen Alternativen zum Suizid geboten werden.

Der Entwurf enthält zwei Varianten:29 Die erste besteht darin, die beiden gleichlautenden Artikel 115 des Strafgesetzbuches (StGB) und Artikel 119 des Militärstrafgesetzbuches (MStG) mit verschiedenen Sorgfaltspflichten zu ergänzen, wobei folgende Bedingungen wesentlich sind: Der Sterbewille des Patienten muss frei und dauerhaft sein, zwei ärztliche Gutachten sind erforderlich, und es darf kein Erwerbszweck bestehen.

„Freier und dauerhafte Wille“ bedeutet dabei, dass die suizidwillige Person ihren Willen frei äußert und sich ihren Entscheid reiflich überlegt hat. Diese Bestimmung soll überstürzte und unbedachte Entscheide ausschließen.

Erforderlich sind sodann zwei ärztliche Gutachten von zwei verschiedenen Ärztinnen oder Ärzten, die von der Suizidorganisation unabhängig sind. Das eine Gutachten muss belegen, dass die suizidwillige Person urteilsfähig ist, das andere, dass sie an einer körperlichen Krankheit leidet, die unheilbar ist und in kurzer Zeit zum Tod führen wird. Damit wird die organisierte Suizidhilfe für chronisch Kranke ohne tödliche Prognose und für psychisch Kranke ausgeschlossen. Die umfassende Behandlung, Pflege und Unterstützung im Sinne der Palliativmedizin soll es diesen Menschen ermöglichen, in Würde weiter zu leben.

Das Kriterium „kein Erwerbszweck“ schließlich beinhaltet vorab, dass der Suizidhelfer der betroffenen Person Alternativen zum Suizid aufzeigen muss. Das eingesetzte Medikament muss ärztlich verschrieben worden sein, was eine nach ärztlicher Berufs- und Sorgfaltspflicht vorgenommene Diagnose und Indikation voraussetzt. Der Suizidhelfer darf weiter keine Gegenleistung annehmen, die die Kosten und Auflagen für die Suizidhilfe übersteigt. Damit will man verhindern, dass sich der Suizidhelfer nicht von eigennützigen Motiven leiten lässt und dass die Hilfe für die suizidwillige Person im Vordergrund steht. Die Suizidhilfeorganisationen und ihre Helfer müssen schließlich über jeden Fall eine vollständige Dokumentation erstellen, um eventuelle Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörde zu erleichtern.

Der Bundesrat gibt sich überzeugt, dass mit der Festlegung dieser Sorgfaltspflicht Auswüchse und Missbräuche in der organisierten Suizidhilfe unterbunden und der sog. Sterbetourismus eingedämmt werden können. Er bevorzugt daher diese Variante ganz klar.

Als zweite Variante stellt die Bundesregierung ein Verbot der organisierten Suizidhilfe zur Diskussion. Diese Variante geht von der Annahme aus, dass eine in einer Suizidhilfeorganisation tätige Person von vorneherein nicht aus rein altruistischen Gründen handeln und eine ausreichend enge Beziehung zur suizidwilligen Person entwickeln kann.

Diese dem deutschen Entwurf nachempfundene Lösung stellt die organisierte Sterbehilfe damit unter Strafe. Sie bedeutet eine Verschärfung gegenüber der heute geltenden liberalen Praxis. Suizidorganisationen als solche und die Mitgliedschaft dabei bleiben aber erlaubt. Allerdings darf Suizidhilfe ausdrücklich nicht mehr geleistet werden, womit der Tätigkeit dieser Organisationen faktisch der Boden entzogen wird. Die organisierte Suizidhilfe untersteht der gleichen Strafandrohung wie die Verleitung und die Beihilfe zum Suizid aus selbstsüchtigen Gründen. Die Beweggründe für die Suizidhilfe sind dabei unerheblich und werden gar nicht erst geprüft.

Diese zweite Variante würde ein klares Signal setzen zu Gunsten aller lebenserhaltenden Alternativen. Bisherige fragwürdige Praktiken von Sterbehilfeorganisationen würden unterbunden, die Kommerzialisierung der Sterbehilfe gestoppt. Der bisherige Sterbetourismus würde so gut wie verunmöglicht. Die Regelung ist klar und die Anwendung in der Praxis einheitlich.

Die Vernehmlassung der beiden Varianten dauert bis zum 1. März 2010. Exit kritisierte am 25.01.2010 beide Gesetzesentwürfe und forderte den Bundesrat sogar auf, sie zurückziehen30. Noch stärker reagierte Dignitas.31

Abschließende Würdigung

Die neueren Entwicklungen in der organisierten Freitodhilfe haben eine Regelung auf Bundesebene notwendig gemacht. Nur so kann man den Missbräuchen entgegenwirken. Gesetze haben einen Einfluss auf das Rechtsempfinden der Bevölkerung, was man in anderen Fragen, etwa bei der Abtreibung, ganz klar gesehen hat. M. E. müsste die organisierte Sterbehilfe grundsätzlich verboten werden. Nur damit wird wirklich ein Zeichen gesetzt, dass man eine Kultur des Lebens und nicht eine des Todes fördern will. Eine Einschränkung im Sinne der ersten Variante des bundesrätlichen Entwurfes genügt nicht.

Das Leben als unantastbarer Wert kann nie auf Kosten des Rechts auf Selbstbestimmung verraten werden. Es kann nicht sein, dass der Staat entscheidet, wer lebenswert ist und wann man ein Leben auslöschen helfen darf. Eine Legalisierung dieses Verhaltens ist – trotz dem Willen, Missstände zu beseitigen – nichts anderes als die amtliche Genehmigung der organisierten Sterbehilfe.

Suizidbeihilfe ist nicht nur eine persönliche Entscheidung. Sie hängt auch davon ab, was unserer Gesellschaft das menschliche Leben wert ist. Eine Demokratie, die sich nicht mehr für den Wert des Lebens einsetzt, untergräbt ihr Fundament und schafft eine Unkultur, die nicht mehr der Würde der Person und ihres Wesens gerecht wird. Die Verantwortung für den leidenden Menschen gebietet Lebenshilfe, Schmerzlinderung, palliative Pflege, aber keineswegs Hilfe zum Suizid. Auch in der Bevölkerung macht sich ein steigendes Bewusstsein bemerkbar, dass die ständig ansteigende Zahl von Suiziden ein Übel für den Menschen und die Gesellschaft ist und dass die Sterbehilfe nicht die Lösung dieses Problems sein kann.

In diesem Sinn kann nur der zweite Entwurf des Bundesrates den Praktiken der organisierten Suizidhilfe Einhalt gebieten. Diese Organisationen sind entgegen ihrer Beteuerungen sicher nicht geeignet, um Suizide zu verhindern; ihre Aktivitäten können nicht als Präventivmaßnahmen gedeutet werden. Sie bewirken keine Prävention von Suiziden, sondern eine Zunahme davon. Auch die Ausweitung auf chronisch oder psychisch Kranke ist vom ethischen Standpunkt her äußerst fragwürdig, und es ist unverständlich, dass sie in einigen europäischen Staaten als ethisch richtig propagiert wird. Eine Demokratie, die sich auf keine unantastbaren Werte stützt, läuft Gefahr, zu einem totalitären System zu werden, wo die Macht der Mehrheit willkürlich über alles entscheidet.

Es wird sich zeigen, in welche Richtung sich die organisierte Sterbehilfe in der Schweiz entwickelt und wie das Volk darüber entscheidet. Gewiss, die westliche Gesellschaft wird immer älter, und die Zahl der pflegebedürftigen Personen wird zunehmen. Doch dieses Problem löst man nicht mit der Beseitigung der Menschen. „Menschenwürdig“ ist gerade nicht Beihilfe zum Töten sondern Palliation, Begleitung, Pflege, Liebe.

„Mehr Selbstbestimmung für den Patienten, mehr Transparenz und Kontrolle, weniger illegale Sterbehilfe“: So lauten die Verheißungen der Euthanasie-Lobby, wenn es darum geht, Beihilfe zum Suizid oder sogar „Töten auf Verlangen“ in der Gesellschaft salonfähig zu machen. Gegen die „totale Autonomie des Individuums“ steht das menschliche Leben als unantastbarer Grundwert, der nicht verhandelbar und nicht „abwägbar“ ist, weil alle anderen Werte darauf gründen. Ansonsten gibt es keine Garantie mehr für das Lebensrecht Kranker und Schwacher. Die Grenzen verschieben sich willkürlich, denken wir nur an die Tötungen von Demenzkranken: Wie schnell wird hier „Töten auf Verlangen“ zu einem „Töten ohne Verlangen“. So sehr die „Autonomie des Individuums“ beschworen wird: Gerade in unserer Gesellschaft ist die Gefahr der „Fremdbestimmung“ enorm.

Beihilfe zum Suizid ist Beihilfe zum Töten. Keine Gesellschaft darf das Recht beanspruchen, bestimmte Tötungen für rechtmäßig zu erklären. Meines Erachtens ist heute dank der Palliativmedizin und der Hospizbewegung ein wirklich menschenwürdiges Sterben möglich. Sie entziehen den Rechtfertigungen der Euthanasiebewegung den Boden und sie stärken die Kultur des Lebens und das Verhältnis von Eltern und Kindern, Medizinern und Patienten.

Referenzen

  1. Vgl. Eisenring G., Erneute Diskussion um die organisierte „Sterbehilfe“ in der Schweiz, Imago Hominis (2009); 16: 189-191
  2. Entwurf zur Änderung des Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes betreffend die organisierte Suizidhilfe mit erläuterndem Bericht, Oktober 2009
  3. Ebenda
  4. Vereinbarung der organisierten Suizidhilfe zwischen der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und Exit-Deutsche Schweiz, 7. Juli 2009, Einleitung
  5. Ebenda, Nr. 4.2
  6. Ebenda, Nr. 4.4.2 und 3
  7. Ebenda, Nr. 7.1 und 3.2.2
  8. Ebenda, Nr. 5.2.2
  9. Ebenda, Nr. 8
  10. Ebenda, Nr. 11
  11. Vgl. http:/www.presseportal.ch/de/meldung/100589732
  12. Pressemitteilung vom 8. Oktober; http://www.medien.zh.ch/internet/sk/de/mm/2009/263-3.ttml
  13. Entwurf, a. a. O., S. 6
  14. Botschaft des Regierungsrates des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 21. Mai 2008 (08.141)
  15. Standesinitiative 08.317 (Beihilfe zum Suizid. Änderung von Art. 115 StGB); über eine Standesinitiative mit ähnlichem Inhalt wird gegenwärtig im Parlament des Kantons Basel-Land beraten.
  16. Die verschiedenen Vorstöße im Entwurf, a. a. O., S. 7
  17. Vgl. Entwurf, a. a. O., S. 7
  18. Siehe hierzu die Stellungnahme Nr. 9/2005 „Beihilfe zum Suizid“, verabschiedet von der NEK am 27. April 2005, S. 52 ff. und S. 70
  19. Vgl. http:/www.exit.ch/
  20. Vgl. http:/www.exit-geneve.ch/
  21. Vgl. http:/www.dignitas.ch/
  22. Vgl. Entwurf, a. a. O., S. 8
  23. Vgl. Entwurf, S. 8 und 9
  24. Die Ergebnisse dieser Studie sind publiziert in: Fischer S. et al., Suicide assisted by two Swiss right-to-die organisations, J Med Ethics (2008); 34: 810-814
  25. Vgl. Entwurf, a. a. O., S. 8 und 9
  26. Entwurf, S. 15
  27. Ebenda
  28. Vgl. Entwurf, S. 18
  29. Vgl. Entwurf, S. 20 ff
  30. Vgl. 25.01.2010/Sterbehilfe-Vernehmlassung: offizielle Stellungnahme, in www.exit.ch
  31. Vgl. http:/www.dignitas.ch/

Anschrift des Autors:

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