Die Rolle der Pflege unter Wahrung der Würde im Alter

Imago Hominis (2010); 17(1): 17-23
Ingrid Fischer, Brigitte Leicht

Zusammenfassung

Die demografische Entwicklung führt zu einem höheren Bedarf an professioneller Pflegeleistung. Statt einen Menschen zu einem Pflegeempfänger zu degradieren, werden neue Pflegekonzepte, Modelle und Pflegetechniken herangezogen, um ein höheres Maß an Selbstbestimmung und Aktivierung für Betagte zu erreichen. Diese Ansätze orientieren sich an den verbliebenen Fähigkeiten und Ressourcen der Patienten. Ein rechtlicher Schutz wurde durch das Heimaufenthaltsgesetz geschaffen, da damit das Setzen von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen klar geregelt und kontrolliert wird. Selbstbestimmung und Würde scheinen manchmal sehr widersprüchlich. Welche Richtung ist einzuschlagen, wenn ein Patient nun nicht mehr der Mensch ist, den man in seiner Lebensmitte kennen gelernt hat? Pflegenden stehen mittlerweile viele Ansätze zur Verfügung, die sie in Beantwortung dieser Frage unterstützen können. Wichtig bleibt allerdings neben aller Professionalität und Kompetenz die Auseinandersetzung mit dem einzelnen Menschen.

Schlüsselwörter: Biografiearbeit, Validation, Kinästhetik, Pflegeprozess, freiheitsbeschränkende Maßnahmen

Abstract

The demographic development leads to a rising need of professional patient nursing. In trying to avoid a devaluation of persons to mere nursing receivers, new concepts, models, and techniques for caring had to be developed in order to maintain a high degree of autonomy and activity of aged people. These measures are individually based on the abilities and resources of a given patient. A legal support was created by a recent law, regulating and controlling admission to nursing homes as well as to application of restraints. Autonomy and dignity can be conflicting, when the personality of a patient has markedly changed by aging. Yet, the nursing staff, nowadays, has adopted several models to deal with such questions. It is of foremost importance to respect an individual in her/his human dignity beyond professionalism and competence.

Keywords: Biographical Workup, Validation, Kinaesthetic, Process of Nursing, Restraints


Betrachtet man die demografische Entwicklung und die nachhaltige Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung in Österreich, ist das Thema „Altern in Würde“ ein wahrlich zukunftsträchtiges Thema.

Eine immer höhere Zahl an betagten Menschen steht einer immer kleiner werdenden Gruppe von jungen Menschen gegenüber. Parallel zu diesem Wandel ändern sich auch die Haushalts- und Familienstrukturen. Die Abkehr von der Großfamilie, die steigende Anzahl an Einpersonenhaushalten und die demografische Entwicklung führen zu einem höheren Bedarf an professioneller Pflegeleistung, sowohl in Form von Pflegeeinrichtungen als auch innerhalb der eigenen vier Wände.

1. Ein Umdenken findet statt

Lange Zeit stand das Paradigma einer „Warm-, Satt-, Sauber-Pflege“ im Vordergrund, egal ob im Krankenhaus oder im Langzeitpflegebereich. Pflegepersonen waren früher der Meinung, dass es ausreichen würde, wenn nur genügend medizinische und pflegerische Serviceleistungen angeboten würden. Pflegende übernahmen mitunter Handlungen am Patienten, die dieser oft noch selbst durchführen hätte können. Damit wurde so mancher Mensch durch wohlgemeinte Empathie „ins Bett gepflegt“.1 Der moderne Ansatz der aktivierenden Pflege (nur was trainiert wird, bleibt erhalten) fehlte vielfach.

Auch heute sind teilweise die Erwartungen an die Pflege von diesem alten Bild geprägt. Wenn der Patient angehalten wird, vorhandene Fähigkeiten zu nutzen, um möglichst viel selbst zu machen, haben Angehörige den Eindruck, dass nicht ordentlich gepflegt wird. Viel Aufklärungsarbeit und mitunter Konflikte erfolgten und erfolgen immer noch aufgrund dieses Paradigmenwechsels.

Im Laufe der 80er-Jahre begann ein Umdenken, und die Bedürfnisse sehr alter und hochbetagter Menschen rückten immer mehr in den Mittelpunkt. Pflegemodelle, Pflegekonzepte und Pflegetechniken wurden entwickelt, die ein würdevolles Begleiten unserer alten Generation möglich machen. Diese Konzepte und Pflegetechniken sind so vielfältig, wie der Bedarf und die Bedürfnisse von betagten Menschen unterschiedlich und vielfältig sind.

2. Würde im Alter

Jeder Mensch hat ein Recht auf Selbstbestimmung, Eigenständigkeit und Würde. Professionelle Pflege fördert aufgrund ihres Wissens und ihrer Kompetenz ein würdevolles Altern.

Die Herausforderung für Pflegende besteht darin, den betagten Menschen in all seiner Vielfalt und Individualität anzunehmen, ihn zu betreuen und seine zunehmenden Defizite mit ihm gemeinsam zu meistern. Ziel muss sein, Gesundheit, Selbständigkeit und die Selbstbestimmung zu bewahren und bis in das hohe Alter zu erhalten.

Dieses Ziel ist hoch und oft schwierig zu erreichen. Manche Menschen sind auch im hohen Lebensalter in der Lage selbstbestimmend zu leben. Sie zeigen und artikulieren klar und deutlich ihre Bedürfnisse und Wünsche. Diese Stimme verstummt aber sehr oft mit zunehmender Abhängigkeit.

Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen bekommen mit ihrer Ausbildung ausgezeichnete Grundlagen auf ihren beruflichen Weg mit, um den zu betreuenden Menschen in seiner Gesamtheit wahrzunehmen und all seine noch vorhandenen Fähigkeiten zu stärken.

Mit dem Gesundheits- und Krankenpflegegesetz wurde die gesetzliche Basis geschaffen, den Pflegeprozess (Pflegeanamnese, Pflegediagnose, Ziele, Pflegemaßnahmen und Evaluation) flächendeckend und verbindlich einzusetzen. Das bedeutet, dass der Patient mit all seinen Bedürfnissen, Wünschen, Defiziten und Ressourcen im Mittelpunkt steht. Somit unterstützt der Pflegeprozess eine individuelle und würdevolle Betreuung.

3. Das Alter und seine Facetten

Alter lässt sich unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Es gibt das kalendarische Alter, den biologischen und auch den sozialen Aspekt des Alterns.2

Das kalendarische Alter gibt keinen Hinweis darauf, wie sich der Mensch fühlt und welche Fähigkeiten er mitbringt. Das biologische Altern geht oft mit zunehmenden Einschränkungen einher, die sich durch Nachlassen der Sinnesorgane, körperliche Einschränkungen und manchmal auch kognitive Defizite bemerkbar machen. Diverse Studien belegen den Anstieg an demenziellen Erkrankungen mit zunehmendem Lebensalter und somit den Bedarf einer entsprechenden Versorgung dieser Patientengruppe.

Neben dem biologischen Aspekt ist auch die soziale Komponente des Alterungsprozesses maßgeblich, die dem betagten Menschen zur Last werden kann. Soziale Kontakte werden weniger, Vereinsamung und Lebensängste können sich einstellen. Stürze im hohen Lebensalter, einer der häufigsten Einweisungsgründe in Pflegeeinrichtungen, können ein vormals positives Lebenskonzept völlig zum Erliegen bringen. Im hohen Alter oder durch krankheitsbedingte Einschränkungen gesellt sich noch Angst vor Pflegeabhängigkeit und dem daraus folgenden Kontrollverlust.

4. Verschiedene Ansätze und Konzepte

Viele der aktuellen pflegerischen Modelle, Konzepte und Pflegetechniken haben als Grundlage einen Ansatz, der auf den vorhandenen Ressourcen und (Rest-)Fähigkeiten der gepflegten Patienten beruht. Damit wird ein hohes Maß an Selbstbestimmung der zu pflegenden Menschen ermöglicht.

Diese Ansätze, Konzepte und Pflegetechniken ergänzen einander und sind durch fließende Übergänge geprägt. Pflegepersonen haben durch ihr Wissen und ihre Kompetenz über diese Konzepte eine breite Palette an Möglichkeiten, um auf den Bedarf der betagten Menschen einzugehen. Ein Grundkonzept, welches am Anfang einer guten Langzeitpflegebetreuung steht, ist die Biografiearbeit. Jeder Mensch hat seine persönliche Geschichte, seine Biografie. Für Pflegende bedeutet es, biografisch zu erheben, wer dieser Mensch ist, der ihnen anvertraut wird. Grundsatz dabei ist, zuzuhören und zu fragen, zu fördern und zu fordern, aber niemals zu überfordern. Pflegende erfahren, wie dieser Mensch aufgewachsen ist, was für ihn in bestimmten Situationen „normal“ und üblich ist (z. B. ob er lieber duscht oder badet, was er gerne trinkt, welche Musik ihm wichtig ist,…). Die Kenntnis der persönlichen Lebensgeschichte hilft auch bei der Auswahl der Angebote für Ergotherapie und für individuelle Animationsprogramme. Durch sinnvolle Lebensgestaltung ist es möglich, die Selbstkompetenz möglichst lange zu erhalten. Einige aufschlussreiche Grundfragen sind:

  • Welche Menschen waren im Leben wichtig?
  • Was waren die Lieblingsbeschäftigungen?
  • Worauf reagierte sie/er am meisten (Töne, Düfte, Bilder)?
  • Gibt es Fotos oder andere Erinnerungsstücke?
  • Gibt es Schlüsselerlebnisse im Leben (positive oder negative)?

Schon beim Erheben dieser Biografie rückt der zu pflegende Mensch in den Mittelpunkt. Er ist nicht Pflegeempfänger, sondern hat die Chance, als Erzähler seine eigene Lebensgeschichte darzulegen. Seine Persönlichkeit bleibt erhalten, und er kann sich wieder als der sehen, der er war. Die persönliche Biografie bietet somit eine gute Basis für den Aufbau von pflegerischer Beziehung zwischen Klient und Pflegenden.3

Sind Patienten auf Grund ihrer kognitiven Einschränkungen nicht mehr im Stande für sich selbst zu sprechen und zu erzählen, ist es hilfreich, nahe Angehörige zu befragen. Angehörige können auf diesem Weg ihre Erfahrungen, ihr Wissen und auch ihre Wünsche einbringen und bekommen somit das Gefühl, einen wichtigen Beitrag im Betreuungskonzept der Pflege einbringen zu können. Man könnte durchaus behaupten, dass damit bereits ein Grundstein für eine gute Angehörigenarbeit gelegt wird.

Was bringt die Kenntnis der Biografie?

Erinnerungen, Fotos von früher, bestimmte Musikstücke können erhebliche Bedeutung besitzen und zeitlebens emotional stark besetzt bleiben. Beim Hören dieser Musikstücke wird durch die hohe emotionale Bindung auch die Erinnerung stark angesprochen. Durch diese Erinnerungen kann der Patient wieder motiviert werden, Tätigkeiten zu übernehmen oder wieder neu zu erlernen.

Oft kann der erkrankte Mensch seine Bedürfnisse, Gefühle und Ängste nur noch schwer in Worte kleiden. Er muss zulassen, dass andere sein Verhalten interpretieren. Biografiearbeit stellt den zu Pflegenden in den Mittelpunkt professioneller Pflege, bejaht seine Identität und erlaubt ihm eine Mitgestaltung am Betreuungsprozess.

Erlauben es die baulichen Rahmenbedingungen, ist das Konzept der Gartentherapie gut umsetzbar. Bei der Gartentherapie werden nicht nur Lebensfreude, Selbstwertgefühl und Kreativität gefördert, sondern auch Mobilität, Geschicklichkeit und mentale Funktionen erhalten und verbessert. Darüber hinaus können an schönen Tagen sogar die Mahlzeiten im Freien eingenommen werden. Bettlägerige können ebenfalls den Garten nutzen, um so Sonne und Luft wieder „hautnah“ zu erleben. In Kochgruppen wird frisch Geerntetes verarbeitet, anschließend in Gesellschaft verzehrt oder für diverse Feste aufbereitet. So erlangen auch Hochbetagte das Gefühl des „Gebrauchtwerdens“ und der aktiven Teilnahme am Lebensgeschehen.

Viele betagte Menschen sind mit Tieren aufgewachsen und haben zu diesen meist eine enge Beziehung aufgebaut. Die Verantwortung und Freude, die daraus resultieren, können wir heute in den Langzeitpflegealltag hereinholen. Seit Anfang der 60er-Jahre wird die Therapie mit Tieren wissenschaftlich erforscht.

Tiergestützte Therapie ist eine wissenschaftlich anerkannte Methode und überaus wirksam bei Patienten mit Sprach- und Bewegungsstörungen, Schlaganfallpatienten, Patienten mit Morbus Alzheimer u. v. m. Was Menschen oft nicht gelingt, schaffen Tiere in kürzester Zeit. Sie bringen Menschen dazu zu kommunizieren, bringen sie zum Lachen, geben ihnen neuen Lebensmut und regen längst verloren geglaubte Fähigkeiten an.4

Vor einer großen Herausforderung stehen Angehörige und Pflegende immer, wenn das Handeln und Tun samt guten Konzepten an Grenzen stoßen. Dies geschieht häufig bei Menschen mit mangelhafter Orientierung. Die Menschen verstehen oft im wahrsten Sinn des Wortes die Welt nicht mehr und ziehen sich dorthin zurück, wo alles besser und schöner war – in die eigene Jugend oder sogar in die Kindheit. Die Realität bringt für diese Menschen manchmal Ängste und Unruhe. Sie reagieren darauf mit einem Verhalten, das für die Umwelt irritierend und störend ist. Oft wird darauf mit einer Einweisung in das Krankenhaus reagiert. Der plötzliche und unvorbereitete Wechsel in eine neue, ungewohnte und ungewollte Umgebung ver(w)irrt den betagten Menschen noch mehr.

Desorientierte Personen leben aufgrund ihrer kognitiven Einschränkungen stark im Gefühl, das von Pflegenden und Angehörigen verlangt, sich bewusst auf diese emotionale Ebene zu begeben, und zwar in einer sehr authentischen und wertschätzenden Form.

Validation

Naomi Feil, Sozialwissenschaftlerin und Gerontologin aus Cleveland, Ohio, hat zwischen 1963 und 1980 als hilfreiches Werkzeug für Pflege- und Betreuungspersonen, aber auch für pflegende Angehörige die Validation entwickelt.

Validation ist eine Methode, um mit desorientierten, sehr betagten Menschen zu kommunizieren. Diese Technik hilft Stress abzubauen und ermöglicht diesem Personenkreis, Würde und Glück wieder zu erlangen. Validation basiert auf einem empathischen Ansatz und einer ganzheitlichen Erfassung des individuellen Menschen. Indem man „in die Schuhe“ eines anderen Menschen schlüpft und „mit seinen Augen“ sieht, kann man in die Welt der desorientierten Menschen vordringen und die Gründe für ihr manchmal seltsames Verhalten enträtseln.

Die Validationstheorie hilft uns zu verstehen, dass viele sehr alte, desorientierte Menschen sich im letzten Abschnitt ihres Lebens befinden und danach streben, unerledigte Aufgaben aufzuarbeiten, um in Frieden zu sterben. Diese letzten Anstrengungen sind von wesentlicher Bedeutung, und Validations-Anwender können sie dabei unterstützen. Mittels Validations-Techniken wird den Patienten die Möglichkeit geboten, sich verbal oder nonverbal auszudrücken. Wenn ältere, desorientierte Menschen Gefühle ausdrücken können, die sie oft jahrelang unterdrückt hatten, nehmen die damit verbundenen Spannungen ab, sie kommunizieren besser und werden weniger häufig in ein nächstes Stadium der Desorientierung abgleiten.5

Ein völlig anderes Konzept mit einem ganz anderen Zugang, um Lebensqualität und wertschätzende Pflege für betagte Menschen zu bieten, ist das Konzept der Kinästhetics. Es geht von dem Grundthema aus, dass „das Leben Bewegung, und Bewegung Basis für Leben ist“. Der Begriff kinesis (griech.) bedeutet Bewegung und aisthesis bezeichnet die Empfindung oder Sinneswahrnehmung. Demnach ist Kinästhetics ein Lernkonzept zur Entwicklung und Erhaltung der Gesundheit über die Förderung der Bewegungskompetenz und wurde in den 80er-Jahren von Frank Hatch und Lenny Maietta (USA) entwickelt.6 Grundlage dieses Konzeptes ist die Verhaltenskybernetik.

Kinästhetics hat in den letzten Jahren innerhalb der Gesundheits- und Krankenpflege reges Interesse gefunden, da es einerseits den gesundheitsfördernden Aspekt für die Pflegenden selbst stärkt, andererseits die Selbstbestimmung des Patienten unterstützt und fördert. Im Grundkurs lernen Pflegende zunächst ihren eigenen Körper kennen und üben Bewegungsabläufe, wie sie am besten den Patienten ohne Kraftanwendung bewegen können. Die konkrete Umsetzung führt dazu, dass der Patient nicht mehr gelagert, gehoben und geschoben wird, sondern dass seine vorhandenen Ressourcen ausgeschöpft werden, damit er möglichst viel an Bewegungsabläufen selbst übernimmt.7

Das Recht der betagten Menschen, die eigene Bewegungskompetenz zu erhalten sowie das Bestreben, diese beim zu Pflegenden zu fördern und spürbar zu machen, sind somit das zentrale Element von Kinästhetics. Schon verloren gemeinte Fähigkeiten werden durch gezielte Anleitung und sensible Unterstützung geweckt. Patienten sind oft überrascht, was sie alles noch können und fühlen. Dadurch entsteht ein höheres Maß an Selbstbestimmung und Lebensqualität.

5. Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG)

Mit 1. Juli 2005 trat das HeimAufG in Kraft. Es ist ein Bundesgesetz über den Schutz der persönlichen Freiheit während des Aufenthalts in Heimen und anderen Pflege- und Betreuungseinrichtungen. Mit diesem Gesetz, soll einerseits das zu schützende Gut der persönlichen Freiheit jener Menschen wahrgenommen werden, die nicht für sich sprechen, handeln oder eintreten können (lt. HeimAufG sind das Menschen, die psychisch krank oder geistig behindert sind). Andererseits soll damit eine Grauzone beseitigt werden, die Träger von Pflegeeinrichtungen und deren Mitarbeiter bei der Entscheidung, ob und in welchem Umfang Freiheit beschränkt werden darf, unterstützt. Eine Freiheitsbeschränkung ist nur dann zulässig, wenn neben der psychischen Erkrankung eine Gefährdungssituation vorliegt und diese schwerwiegende Gefahr durch keine anderen Maßnahmen abgewendet werden kann.8

Untersuchungen zeigen, dass es eine Hochrisikogruppe gibt, für die freiheitsbeschränkende Maßnahmen in Frage kommen.9 In diese Risikogruppe gehören betagte Menschen mit Sturzrisiko, eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten und/oder psychomotorischer Unruhe bzw. fordernden Verhaltensweisen. Erfahrungen der überprüfenden Instanz für das HeimAufG, die Bewohnervertretung, zeichnen ein ähnliches Bild. Demnach sind Stürze häufig Auslöser für freiheitsbeschränkende Maßnahmen.

Dem gegenüber steht eine Aussage im „Expertenstandard Sturzprophylaxe“, die deutlich Abstand davon nimmt, dem Sturzrisiko durch Beschränkung der persönlichen Freiheit zu begegnen.10 Dort werden Maßnahmen gefordert, die eine sichere Mobilität der Patienten fördern und das Sturzrisiko mindern.

Was sind nun sogenannte „gelindere Maßnahmen“, die lt. HeimAufG gefordert sind, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen (Steckgitter, Gurtenfixierungen, medikamentöse Einschränkungen…) hintan zu halten? Diese Maßnahmen orientieren sich in erster Linie daran, was der Patient an Gefährdungssituation bietet und worauf der individuelle Mensch reagiert.

Diese gelinderen Maßnahmen reichen von ablenkenden Gesprächen und Aktivitäten, entsprechenden Pflegekonzepten (Validation, Basale Stimulation…), über Strukturmaßnahmen wie Sturzmatratze, Personifizierung der Bettumgebung, Raumplanung mit Demenzrundgängen, Antirutschsocken und Niedrigpflegebett bis zu kreativen individuellen Zuwendungen.11 Die Möglichkeiten sind vielfältig und abgestimmt auf den Bedarf des Patienten. Allerdings kann es trotzdem vorkommen, dass alle Bemühungen nicht zum Erfolg führen und eine Freiheitsbeschränkung zum Abwenden der jeweiligen Gefahr als letzte Maßnahme bleibt. Dann hat diese unter Wahrung aller Vorsichtsmaßnahmen und unter Wahrung der Menschenwürde zu erfolgen.

Mit dem HeimAufG ist ein wichtiges Tabuthema im Gesundheitswesen konstruktiv aufgearbeitet worden. Es wurde damit ein gesetzlicher Rahmen zur Wahrung der Autonomie von desorientierten oder behinderten Menschen vorgegeben und ein wichtiger Schritt für ein Altern in Würde gesetzt, denn Freiheit ist letztendlich neben dem Leben das höchste Rechtsgut und ist eng verknüpft mit der Menschenwürde.

6. Selbstbestimmung und Würde ein Widerspruch?

Selbstbestimmung und Würde scheinen manchmal sehr widersprüchlich. Welche Richtung ist einzuschlagen, wenn ein Patient nun nicht mehr der Mensch ist, den man in seiner Lebensmitte kennen gelernt hat?

Demenz und Desorientierung prägen im Hier und Jetzt sein Handeln und seine Bedürfnisse. Bedeutet nun Würde, das „Jetzt-Sein“ zu akzeptieren? Oder sollen Bedürfnisse und Wertehaltungen übernommen werden, die er in Zeiten der Orientierung gelebt und vertreten hat? Selbstbestimmung könnte daher auch so aussehen, dass der nun desorientierte Mensch, der am Zenit seines Lebens großen Wert auf äußeres Erscheinungsbild gelegt hat, sich nicht mehr waschen möchte. Waschen im Sinne seiner Würde oder Nicht-Waschen im Sinne der Selbstbestimmung?

Viele der oben genannten Modelle und Konzepte können bei der Beantwortung dieser Frage hilfreich sein. Durch die Professionalität der Pflege und deren fundierte Ausbildung kann viel an Würde und Selbstbestimmung erreicht werden, allerdings kann sie nie wirklich vollständig beantwortet werden.

Alleine die Auseinandersetzung im Gesundheitswesen ist ein wichtiger Baustein in der Erhaltung der Würde im hohen Lebensalter.

Referenzen

  1. Böhm E., Verwirrt nicht die Verwirrten, Neue Ansätze geriatrischer Krankenpflege, Psychiatrie-Verlag, Bonn (2001)
  2. Gatterer G., Multiprofessionelle Altenbetreuung. Ein praxisbezogenes Handbuch, Springer Verlag, Wien, New York (2003)
  3. Böhm E., siehe Ref. 1
  4. Feil N., Validaton. Ein Weg zum Verständnis verwirrter alter Menschen, 7. Auflage, Ernst Reinhardt Verlag, München (2002)
  5. Feil N., Validation in Anwendung und Beispielen. Der Umgang mit verwirrten alten Menschen, 2. Auflage, Ernst Reinhardt Verlag, München (2000)
  6. Hatch F., Maietta L., zitiert nach Asmussen M., Praxisbuch Kinäesthetics: Erfahrungen zur individuellen Bewegungsunterstüzung auf Basis der Kinästhetik, Urban Fischer Verlag, München (2006)
  7. Klein-Tarolli E., Textor G., Bewegtes „Lagern“. Positions-Unterstützung nach Esther Klein-Tarolli, Verlag Ingrid Zimmermann, Dorsten (2008)
  8. Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) § 4, Abs. 1-3
  9. http://www.redufix.de/
  10. Schiemann D., Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege, Entwicklung – Konsentierung – Implementierung, Fachhochschule Osnabrück, Osnabrück (2006)
  11. Barth P., Engel A., Heimrecht, Heimaufenthaltsgesetz und die mit dem Heimvertragsgesetz in das Konsumentenschutzgesetz eingefügten Bestimmungen mit ausführlichen Anmerkungen, praxisorientierten Übersichten, Checklists und Musterheimvertrag, Manz Verlag, Wien (2004)

Anschrift der Autoren:

DGKS Ingrid Fischer, Lehrerin für Gesundheits- und Krankenpflege, Krankenpflegeschule SMZ-Ost
Ingrid.Fischer(at)wienkav.at

DGKS Brigitte Leicht, Stv. Pflegedirektorin, Oberschwester der 1. und 3. Med. Abteilung, SMZ-Ost
Brigitte.Leicht(at)wienkav.at

Beide: Sozialmedizinisches Zentrum Ost, Donauspital, Langobardenstraße 122, A-1220 Wien

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