Der Tod und seine zwei Gesichter

Imago Hominis (2012); 19(1): 51-59
Martina Hiemetzberger

Zusammenfassung

Die medizinischen Leistungen auf dem Gebiet der Organtransplantation ermöglichen unzähligen Schwerstkranken ein Überleben bzw. tragen wesentlich zur Verbesserung der Lebensqualität bei. Ein großer Beitrag für eine gelungene Transplantation geht von Seiten der Pflege aus. Die Betreuung von hirntoten Patienten erfordert umfassendes Wissen und intensive Pflege.
Ist der Mensch tot, wenn seine Hirnfunktionen erloschen sind? Ein hirntoter Mensch unterscheidet sich rein äußerlich nicht von einem Intensivpatienten, was bei Pflegepersonen oftmals Unsicherheit im pflegerischen Handeln auslöst und zu starken emotionalen Belastungen führt. Dies zeigt eine Studie zur subjektiven Erlebensperspektive der damit befassten Pflegepersonen.
Diese besondere Pflegesituation erfordert eine umfassende Auseinandersetzung mit der ethischen, rechtlichen und pflegerischen Dimension der Hirntodproblematik.

Schlüsselwörter: Hirntodkonzept, Pflege, anthropologische Sicht, gesetzliche Bestimmungen, Autonomie

Abstract

Medical achievements in organ transplantation have improved the chances to survive, and have contributed substantially to quality of life, too. Successful transplantations depend a good deal on perioperative nursing. The handling of braindeath requires compound knowledge in the field and intensive efforts in nursing.
Is somebody really dead when his/her brain has ceased to work? A braindead individual looks externally like any other patient in the ICU, a fact that is disturbing and puts a great emotional strain on the nursing personnel. This was documented by an investigaton on the perspectives of personal experiences of the nursing staff.
These very special circumstances warrant a thorough analysis of ethical, juridical  and nursing  implications around the phenomenon of braindeath.

Keywords: Concept of Braindeath, Nursing, Anthropological Approach, Law, Autonomy


1. Einleitung

Die Handlungsfelder und Zuständigkeitsbereiche innerhalb der Medizin haben sich in den letzten sechs Jahrzehnten in einem hohen Maß ausgeweitet und differenziert. Die rasante Weiterentwicklung medizinischer Behandlungsmethoden und technischer Möglichkeiten bringen große ethische Konflikte mit sich. Die Betreuung eines hirntoten Menschen stellt die Angehörigen und alle beteiligten Berufsgruppen vor eine besonders schwierige Aufgabe. In besonderer Weise betrifft dies Pflegepersonen, die um die Organerhaltung, der sog. Spenderkonditionierung, bemüht sind.

Häufig werden solche Patienten1 nicht mehr in ihrer Ganzheit gesehen, da Körper, Geist und Seele nicht mehr im unmittelbaren Zusammenhang zu stehen scheinen. Sie werden biologisch nicht als tot wahrgenommen, auch die Pflege wird weitergeführt so wie an den Tagen vor der Hirntoddiagnostik. Fragen, ob der Hirntod mit dem Individualtod des Menschen gleichzusetzen ist, warum Hirntote zu Bewegungen, Reflexreaktionen, Schwitzreaktionen und Blutdrucksteigerungen fähig sind, lösen bei Angehörigen hirntoter Menschen wie auch bei vielen Pflegepersonen Zweifel aus.

Dies erfordert einerseits sachliche Kenntnisse über das Hirntodkonzept, andererseits ist das Nachdenken über die ethische Dimension sowie die Reflexion der eigenen Werte und gesellschaftlichen Normen für jede weitere Auseinandersetzung unabdingbar.

Die Hirntodfeststellung basiert auf einer Definition, wobei der exakte Todeszeitpunkt empirisch nicht fassbar ist und sich augenscheinlich keine Veränderung dieser Patienten zeigt. Daraus ergibt sich die zentrale Frage: Ist der Mensch tot, wenn seine Hirnfunktionen erloschen sind und welche Bedeutung hat dies für die Pflege?

2. Geschichtliche Entwicklung der Hirntodfrage

Die Hirntodfrage wurde erst Ende der 1950er Jahre durch den medizinisch-technischen Fortschritt der apparativen Intensivmedizin wichtig und bekannt. Im Zuge der Entwicklung und des Einsatzes mechanischer Beatmungsgeräte machte man die Erfahrung, dass eine technisch erzeugte und erfolgreiche Wiederbelebung nicht zwingend den Menschen wieder zum Atmen anregen konnte. Auch das volle Bewusstsein kehrte nicht zurück, weil im Gehirn bereits Sterbeprozesse stattgefunden hatten. Es drängte sich nun die Frage auf, inwieweit diese Menschen noch als „lebend“ anzusehen seien. Mit der ersten erfolgreichen Herztransplantation in Kapstadt 1967 durch den Chirurgen Christiaan Barnard entstand ein weiteres Problem, nämlich ab wann eine Organtransplantation zu rechtfertigen wäre.

1968 wurde das AD HOC COMMITTEE OF THE HARVARD MEDICAL SCHOOL,2 bestehend aus Medizinern, Juristen, Ethikern und Theologen zum Zweck der Erarbeitung eines neuen Todeskriteriums gebildet. Ziel dieser Kommission war es, einerseits den Behandlungsabbruch bei irreversiblem Koma zu begründen und andererseits einen Kriterienkatalog für den so genannten Hirntod zu erstellen, mit der Trias:

  •  tiefes, irreversibles Koma
  •  erloschene Hirnstammreflexe und 
  •  Verlust der Spontanatmung (Apnoe)

3. Definition und Diagnostik des Hirntodes

In den meisten europäischen Ländern, wie auch im deutschsprachigen Raum, gilt die Ganzhirntoddefinition:

„Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte Beatmung die Herz- und Kreislauffunktion noch künstlich aufrechterhalten.“3

Neben dem Ganzhirntodkonzept existieren auch Teilhirntodkonzepte wie beispielsweise der Hirnstammtod. Dieser ist im deutschsprachigen Raum nicht als Tod des Menschen akzeptiert, ein „Null-Linien-EEG“ ist zwingend vorgeschrieben.

Auch die Richtlinien für die Hirntodfeststellung sind europaweit unterschiedlich geregelt. Das diagnostische Verfahren folgt immer dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft und den anerkannten medizinischen Methoden. Die dafür geltenden Kriterien werden laufend überarbeitet und aktualisiert.

4. Gesetzliche Regelung zur Organentnahme bei Hirntoten

Die rechtlichen Bestimmungen zur Organspende sind innerhalb der europäischen Union nicht einheitlich geregelt. In den meisten europäischen Staaten wie auch in Österreich hat sich die Widerspruchslösung durchgesetzt. In Österreich wird die Organentnahme im Bundes-Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz4 (KAKuG) BGBl I 35/2004 § 62a geregelt.

Nach der Widerspruchslösung gilt ein hirntoter Patient als potentieller Spender, wenn er sich zu Lebzeiten nicht ausdrücklich gegen eine Organspende ausgesprochen hat.

Widerspruch kann erfolgen durch Eintragung in das „Widerspruchsregister gegen Organspende“, das seit 1. Januar 1995 beim Österreichischen Bundesinstitut für Gesundheitswesen (ÖBIG) eingerichtet ist. Die Transplantationszentren sind vor jeder allfälligen Organentnahme zur Abfrage im Widerspruchsregister gesetzlich verpflichtet.5 Weiters ist das Mitführen eines Schriftstücks (z. B. bei den Ausweispapieren), aus dem eine Ablehnung der Organspende klar hervorgeht, anerkannt.

Im Jahr 2010 haben 1.321 Personen einer potenziellen Organentnahme widersprochen, insgesamt sind 0,23 Prozent der österreichischen Wohnbevölkerung im Widerspruchsregister eingetragen.6

Weiters gilt in einigen Ländern die Zustimmungslösung. Diese findet innerhalb der Europäischen Union in den Ländern Dänemark, Deutschland, Griechenland, Großbritannien, Irland, Litauen, Malta, den Niederlanden und Rumänien Anwendung.

Bei der Zustimmungslösung ist eine Organentnahme nur nach ausdrücklicher Einwilligung des Organspenders zu Lebzeiten zulässig (enge Zustimmungslösung). Wenn keine Einwilligung des Verstorbenen vorliegt, kann diese bei einer erweiterten Zustimmungslösung auf die Angehörigen übertragen werden.

Mit der Zustimmungslösung wird der ausdrückliche Wille des hirntoten Menschen am entschiedensten gewahrt. Die Erweiterung der Zustimmung auf Angehörige setzt voraus, dass die Angehörigen den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen kennen. Einen leichteren Zugriff auf die Organe eines Hirntoten ermöglicht die Widerspruchslösung. Zudem bewirkt diese die Abwendung der psychischen Belastung für die Angehörigen, da sie keine Entscheidung treffen müssen. Allerdings treten die Schutzbedürfnisse des Organspenders in den Hintergrund, da keine aktive Zustimmung des potentiellen Spenders vorliegt und die Gesetzeslage in der Bevölkerung nicht allgemein bekannt ist.

Laut dem evangelischen Theologen Wolfgang Huber wird durch eine Widerspruchslösung aus der freiwilligen Organspende im Dienst am Mitmenschen eine Organabgabepflicht, von der nur durch Widerspruch Ausnahmen erwirkt werden können.7 Aus ethischer Sicht bleibe das Prinzip der Autonomie unberücksichtigt, denn eine Spende kann nur freiwillig sein.
Nach Meinung der katholischen Kirche ist die „unentgeltliche Organspende nach dem Tode erlaubt“ und „kann verdienstvoll sein“,8 sie nimmt aber zu aktuellen Gesetzeslagen nicht Stellung.

Allerdings ist zu bedenken, dass unsere Gesellschaft multikulturell ist. Kulturen, die unsere biologischen und neuropsychologischen Kenntnisse nicht teilen und einzelnen Organen andere Funktionen zuschreiben oder auch ein anderes Verständnis von Leben und Tod verinnerlicht haben, sollten respektiert werden. Das Prinzip der Autonomie sollte daher an oberster Stelle stehen.

In Österreich wurde bislang keine systematische Information in allen Gesellschaftsschichten der Bevölkerung über die Handhabung der Organentnahme betrieben. Dies bewirkt eine weit verbreitete Unwissenheit zu dieser Thematik bei den österreichischen Staatsbürgern und erfordert einen öffentlichen Diskurs über das Procedere von hirntoten Organspendern und ihren Angehörigen vor dem Hintergrund der aktuellen Gesetzeslage.

5. Erscheinungsbild eines hirntoten Menschen

Da ein hirntoter Mensch aufgrund seines Erscheinungsbildes andere Merkmale als ein Toter aufweist, wird er nicht als Leichnam wahrgenommen und auch von den betreuenden Pflegepersonen nicht so bezeichnet. Der äußere Aspekt gleicht eher einem komatösen oder einem narkotisierten Patienten. Hirntote Patienten liegen im Bett wie andere bewusstlose Patienten auch, das Herz schlägt und sie atmen mit technischer Unterstützung durch Beatmungsgeräte – der Brustkorb hebt und senkt sich. Der Körper hat eine rosige Farbe und fühlt sich warm an. Haut und Muskeln sind weich und weisen keinerlei Zeichen der Leichenstarre auf.9

Hirntote können noch Bewegungen in Form unterschiedlicher physiologischer und pathologischer Reflexe aufgrund von auftretenden Reflexautomatismen ausführen, die sich wie willkürliche Bewegungen darstellen. Solche Eigen- und Fremdreflexe können bei völligem Ausfall des Großhirns in verstärktem Maße ausgelöst werden, d. h. es existieren spinale Eigenreflexe, da die hemmenden Einflüsse des Gehirns auf das Rückenmark fehlen. Normalerweise sind solche Reflexe, wie sie eventuell bei Hirntoten vorkommen, nur bei Neugeborenen bzw. Säuglingen zu beobachten. Diese treten entweder als „Automatismen“ (mit einer gleichförmigen Regelmäßigkeit ohne erkennbaren äußeren Reiz) oder als Reflex (durch einen bestimmten Reiz ausgelöst) auf.10 Bei bis zu 75% aller hirntoten Menschen sind solche spinalen Reflexe (Lazarus-Phänomen) zu beobachten.11

Neben dem Auftreten von Reflexen lässt sich häufig auch eine Hormonausschüttung beobachten. Grund dafür kann eine vorliegende Restdurchblutung der Hirnanhangsdrüse (Hypophyse) sein, die zu einer passiven, ungesteuerten Hormonabgabe über kurze Zeit nach der Hirntoddiagnose führt. Dies erklärt z. B. auch das Fehlen eines Diabetes insipidus.

Weiters bestehen organ-interaktive Stoffwechselvorgänge wie die Funktion der Atmung (Gasaustausch), die Nahrungsaufnahme aus dem Darm über Verarbeitungsvorgänge durch die Bauchspeicheldrüse und Funktion der Leber und ebenso finden in der Niere und im Dickdarm weiterhin Ausscheidungsvorgänge statt.

Aufgrund vegetativ-hormoneller und organ-interaktiver Stoffwechselvorgänge kann eine hirntote schwangere Frau ein Kind austragen („Stuttgarter Baby“)12 oder die Leibesfrucht abstoßen („Erlanger Baby“).13

Die beschriebenen Merkmale eines hirntoten Menschen lassen sich für betreuende Personen und Angehörige schwer mit dem Bild eines Toten vereinbaren. Daraus ergibt sich die Schwierigkeit den Tod wahrzunehmen, zu vermitteln und anzunehmen.

Im Anschluss sollen Auszüge aus einer empirischen Untersuchung zur Betreuung hirntoter Menschen14 die damit verbundenen Schwierigkeiten näher beleuchten.

6. Pflegerische und anthropologische Aspekte

Nach der Hirntoddiagnose wird die Intensivtherapie unter Beachtung der pathophysiologischen Veränderungen fortgeführt, um die Funktion der Organe aufrecht zu erhalten. Diese Spenderkonditionierung ist technisch und organisatorisch sehr aufwendig und anspruchsvoll, jedoch ist von der Qualität der organprotektiven Therapie und Pflege die Funktion des übertragenen Organs abhängig. Exakte Behandlung und Betreuung des hirntoten Patienten bzw. seiner Organe ist entscheidend für die Funktion des Organs beim Organempfänger.15

Grundsätzlich unterscheidet sich die Spenderkonditionierung nicht wesentlich von der bisherigen Intensivpflege. Der hirntote Mensch wird weiterhin würdevolle gepflegt – die Spenderkonditionierung wird von Pflegepersonen nicht als ein Automatismus gesehen.

Enorm schwierig jedoch gestaltet sich die Beziehung zu den Angehörigen hirntoter Patienten, denen der optisch nicht sichtbare Tod schwer zu vermitteln ist. Dies wird von den befragten Pflegepersonen als besonders problematisch beschrieben:

„Solange er noch dort liegt und solange er noch beatmet wird, ist das für die Angehörigen irgendwie eine Hoffnung […] sie sehen ihn noch da am Monitor, sie sehen noch das EKG am Monitor und sie spüren das Herz noch und so. Das war für die Angehörigen eher so als wie wenn ihnen jedes Mal ein Stein vom Herzen gefallen wäre, wenn sie hereingekommen sind und […] es ist noch alles so.“

Angehörigen fällt es schwer eine derartig hoffnungslose Situation aufzugeben und unvorbereitet den nicht sichtbaren Tod anzunehmen.

Oftmals werden diese Patienten noch einige Tage gepflegt, bis die Hirntoddiagnostik abgeschlossen ist bzw. der Hirntod bestätigt wurde. Während dieser Zeit hoffen Angehörige und bitten:

„‚Lasst ihn nur ja nicht sterben.‘ Viele sagen: ‚Tut alles nur damit ihr sie am Leben erhaltet.‘ […] Aber am schlimmsten wird es für mich, wenn die Angehörigen nicht abschließen können damit. […] Manche fixieren sich irrsinnig auf den Monitor und sind erfreut, wenn er einen schönen Blutdruck hat – und in der Zeit ist er aber immer schon tot. Das ist für mich sehr schlimm, wenn Angehörige einfach nicht Abschied nehmen können, weil es so unverständlich ist. Das ist furchtbar, wenn sie sagen: ‚Machen Sie das und kann man da nicht etwas machen?“

Pflegepersonen sind diejenigen, die dem Patienten und den Angehörigen durch ihre kontinuierliche Präsenz am nächsten sind. Daraus ergibt sich, dass Angehörige sich vermehrt an die Pflegenden wenden, sie beobachten und bei ihnen Hilfe suchen.

Pflegende müssen dann miterleben, wie Angehörige bangen und auf Lebenszeichen hoffen. Welche tröstenden Worte sollen sie wählen, wenn sie wissen, dass der Patient nie wieder aufwachen wird? Die Teilnahme an hoffnungslosen Momenten, das Mitansehen solcher Tragödien, die genauso das eigene Schicksal bedeuten könnten, führen nicht selten zu einer emotionalen Ohnmacht. Die Angehörigenbetreuung erfordert von der Pflegeperson ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen, und es fällt nicht immer leicht, Trost, Verständnis und Mitgefühl zu vermitteln. Pflegende geraten in einen Zwiespalt zwischen der Verpflichtung gegenüber dem hirntoten Patienten und dem/n schwerstkranken Organempfänger/n. Sie fühlen sich verpflichtet, den Interessen der Transplantationsmedizin bzw. der Hoffnung auf Weiterleben potenzieller Organempfänger entgegenzukommen. Die Pflege rund um die Spenderkonditionierung ist jedoch von hoher ethischer Brisanz, wie dies aus den angeführten Interviews hervorgeht.

Antworten auf die Frage nach dem Status eines Hirntoten geben Aufschluss darüber, dass keine einheitliche Vorstellung darüber vorherrscht. Fest steht, dass für alle befragten Pflegepersonen ein hirntoter Mensch nicht als Leichnam gesehen wird. Er wird eher als „Sterbender, der noch nicht zu Ende gestorben ist“ oder als ein „lebender Toter“ gedeutet. Eine andere Pflegeperson formuliert den Status eines hirntoten Menschen wie folgt:

„Ein Hirntoter befindet sich in einem Zwischenstadium – er ist hinausgegangen in eine Zwischenwelt zwischen Sterbeprozess und Tod.“

Dies führt zu einer Diskrepanz zwischen Leben und Tod. Die persönliche Dissonanz durch den Widerspruch zwischen Hirntodkonzept und erlebter Wahrnehmung ergibt sich dadurch, dass bei Pflegepersonen zwar keinerlei Zweifel an der Hirntoddiagnostik an sich bestehen, jedoch durch bestimmte Phänomene wie Bewegungen durch spinale Reflexe, warme rosige Haut u. a. Unsicherheiten auftreten.

„Es ist alles negativ. Und dann pflegst du ihn, und es rinnt ihm eine Träne herunter – da denkst du dir schon […].“

Aus den angeführten Aussagen geht hervor, dass das Hirntodkriterium geprägt ist von Unsicherheit. Einige Pflegepersonen scheinen sich dessen auch bewusst zu sein, wie folgende Aussagen in sehr ähnlicher Formulierung bestätigen:

„Rational ist ein Hirntoter tot – nach dem Gefühl lebt er.“

„Also vom Gefühl her ist er nicht ganz tot.“

Diese Pflege erfordert umfassende theoretische Kenntnisse über die Merkmale hirntoter Patienten. Die Mehrzahl der befragten Pflegepersonen ist von der Sicherheit der Hirntoddiagnostik überzeugt und vertraut auf die diagnostischen Apparate und die Ärzte, die sie durchführen. Dennoch bleibt eine gewisse Restunsicherheit in Bezug auf das Metaphysische bestehen.

„Den Hirntod gestorben“

Worauf ist nun die Pflege auszurichten, auf einen Toten oder Sterbenden und somit Lebenden?

Von juristischer Seite hat ein hirntoter Mensch den Status eines Toten bzw. Leichnams. Genau genommen endet hier die Pflege, und es folgt die Versorgung des Verstorbenen. Allein der Gedanke, Leichen zu pflegen wirkt für manche Pflegende völlig abartig und nicht nachvollziehbar:

„Da hätte ich ein Problem damit, wenn der heute um 15.15 Uhr tot ist, und ich muss bei ihm morgen in der Früh Mundpflege machen. Das geht ja gar nicht. Du kannst ihn nicht wie einen Toten behandeln. Das ist für mich völlig missverständlich. […] Ich glaube, wenn ich das so akzeptieren würde, weiß ich nicht, wie lange ich in dem Beruf überleben könnte mit der Härte. Also, wenn ich das so akzeptieren würde und einen Leichnam weiterpflegen würde, also ich weiß nicht, ich glaube, das könnte ich nicht mit dieser Einstellung.“

Wird ein Hirntoter allerdings zum Organspender, ändert sich der pflegerische Aufgabenbereich. Die Spenderkonditionierung ist dadurch gekennzeichnet, dass der Hirntote zur Organerhaltung über den Tod hinaus gepflegt wird. Rein äußerlich verändert er sich aber nicht.

„Hirntote sind die einzigen Leichen, die einen Blutdruck haben […] Ich kenne sonst keinen, der an sicheren Todeszeichen verstorben ist, der noch eine Rötung im Gesicht kriegt oder Harn ausscheidet oder 38°C Körpertemperatur hat.“

Eine angemessene Sterbebegleitung durchzuführen, zeigt sich als geradezu unerfüllbar, wie dies eine Pflegeperson beklagt:

„Ich habe ja nicht die Ruhe, ich kann ihm ja nicht die Würde zukommen lassen, weil er ja noch einen Zweck zu erfüllen hat, einen Sinn hat. Ich kann ihn eben nicht in Ruhe sterben lassen. Das ist das Problem. Ich kann eine Sterbebegleitung auch nur durchführen bis die Hirntoddiagnostik abgeschlossen ist, dann würde ich Leichnambegleitung machen.“

An dieser Stelle wird deutlich, dass die Pflegephilosophie mit dem Hirntodkonzept ins Wanken kommt. Die ganzheitliche Sichtweise des Menschen kollidiert mit der naturwissenschaftlichen dualistischen Position des Hirntodkonzeptes.

Dennoch besteht der Versuch innerhalb dieser extremen Ausnahmesituation dem hirntoten Menschen, der einmal Person war, ein größtmögliches Maß an Würde zukommen zu lassen:

„[S]olange nicht wirklich die lebenserhaltenden Maschinen abgestellt werden, ist es meine Aufgabe den Patienten bestmöglich zu pflegen und zu betreuen. […] Ich denke, das hat sich jeder Mensch verdient. […].“

7. Ethische Überlegungen zur Hirntodproblematik

Da ein hirntoter Mensch aufgrund seines Erscheinungsbildes andere Merkmale als ein Toter aufweist, wird er nicht als Leichnam wahrgenommen und von den Angehörigen und den betreuenden Pflegepersonen auch nicht so bezeichnet. Es drängt sich die Frage auf: Ist der Hirntod der Tod des Menschen?

Ob der Zustand des Hirntodes tatsächlich der Tod des Menschen ist, lässt sich nicht medizinisch entscheiden, sondern hängt von der Definition des Todesbegriffes ab und damit letztlich von unserem kulturell geprägten, anthropologischen Verständnis von Leben und Tod.

Gegenstand vieler Kontroversen ist immer wieder die Schwierigkeit, zwischen dem Tod des Organismus als Ganzes und dem Tod von einzelnen Teilen des Organismus zu unterscheiden: Die Teilung zwischen dem Tod der physischen Natur des Organismus und dem Ende der Existenz des Organismus als Person.

Eine Gleichsetzung des dissoziierten Hirnausfalls mit dem Tod des Menschen ist empirisch nicht beweisbar. Die naturwissenschaftliche Medizin erfasst den Menschen in seiner leiblich-seelischen Ganzheit den Tod betreffend nur auf der empirischen Ebene und nicht auch im metaphysischen Sinne.

Dies eröffnet erst die ethisch relevante Dimension der Todesbestimmung: Sie hängt immer vom zugrunde liegenden Menschenbild ab.

Diese grundlegende Frage wird sehr kontrovers diskutiert. So bringt der Neurologe Heinz Angstwurm zum Ausdruck, dass mit dem Hirntod das Leben des Menschen irreversibel zu Ende ist:

„Mit dem Tod des Gehirns ist die den Menschen konstruierende körperlich-geistige Einheit für immer zerstört. […] Anders als andere Organfunktionen ist die Steuerungs- und die Integrationsfähigkeit des Gehirns unersetzbar. Ebenso unersetzbar ist das Gehirn als notwendige körperliche Voraussetzung für alles Metaphysische am Menschen, das doch nur zusammen im Gehirn vorkommt.“16

Mit der Annahme, dass das menschliche Bewusstsein als das entscheidende Kriterium für das Leben gilt, schließt sich die Hirntoddefinition jener anthropologischen Tradition an, die den Menschen wesentlich als „res cogitans“ definiert.

Kann dem Menschen seine Individualität, Integrität und Ganzheit abgesprochen werden, wenn ein Teil, in diesem Fall das Gehirn, seine Funktion verliert?

Die Sichtweise, dass das Gehirn das zentrale Organ für die physische Integration des Körpers und seiner lebensnotwendigen Funktionen ist, bedeutet eine hierarchische Polarisierung zwischen Geist und Körper und zwischen Teil und funktionaler Gesamtheit. Wenn per definitionem das Gehirn tot ist, im Körper aber noch Zeichen von Leben erkennbar sind, dann haben wir laut dem Philosophen und Hirntodkritiker Hans Jonas „einen ‚Organismus als ganzen‘ minus Gehirn, der in einem Zustand partiellen Lebens erhalten wird, solange die Lungenmaschine und andere Hilfsmittel am Werk sind.“17 Jonas gibt deshalb zu bedenken:

„Hinter der vorgeschlagenen Definition mit ihrer offenkundigen pragmatischen Motivierung sehe ich eine seltsame Wiederkehr – die naturalistische Reinkarnation sozusagen – des alten Leib-Seele-Dualismus. Seine neue Gestalt ist der Dualismus von Körper und Gehirn. In einer gewissen Analogie zu dem früheren transnaturalen Dualismus hält er dafür, daß die wahre menschliche Person im Gehirn sitzt (oder dadurch repräsentiert wird), und der übrige Körper dazu nur im Verhältnis des dienstbaren Werkzeugs steht. Wenn daher das Gehirn stirbt, ist es so wie wenn die Seele entfloh: was bleibt, sind die ‚sterblichen Überreste‘.“18

Welcher Status kommt einem Hirntoten zu? Ist ein Hirntoter überhaupt noch ein Patient bzw. eine Person?

Jonas will den Hirntod nicht auf den irreversiblen Ausfall der Gehirnfunktionen reduziert wissen und dem extrazerebralen Leib seinen wesenhaften Anteil an der Identität der Person absprechen.19

Für Jonas steht fest: „Wenn der komatöse Patient kraft Definition tot ist, dann ist er kein Patient mehr, sondern ein Leichnam […].“20 Mit dem Argument, dass seiner Meinung nach die Grenzlinie zwischen Leben und Tod nicht mit Sicherheit bekannt sei und eine Definition Wissen nicht ersetzen könne, bezeichnet Jonas den hirntoten, noch überlebenden Körper als „Schwellen-Zustand“21, da dieser „Zustand des komatösen Patienten immer noch ein Restzustand von Leben ist […] es besteht Grund zum Zweifel daran, daß selbst ohne Gehirnfunktion der atmende Patient vollständig tot ist.“22

Ähnlich beschreiben Pflegepersonen, die mit der Betreuung von hirntoten Menschen beschäftigt sind, diesen Zustand als ein „Zwischenstadium“:

„Für mich ist ein Hirntoter hinausgegangen in eine Zwischenwelt, in eine Zwischenwelt zwischen Leben und Tod.“

Da dieser Zustand im Gesetz nicht existiert, kann ein Hirntoter weder als Lebender noch als Patient bezeichnet werden. Problematisch ist, dass Hirntote einerseits konkrete Merkmale für den Tod haben, andererseits aber äußerlich von Lebenden schwer zu unterscheiden sind.

8. Schlussfolgerung und Ausblick

Die Frage, ob ein Mensch im Zustand des dissoziierten Hirnausfalles für tot oder für sterbend zu erklären ist, liefert Zündstoff für alle Beteiligten – Betreuende, Angehörige, sowie die Gesellschaft als potenzielle Organspender und -empfänger.

Theoretisches Hintergrundwissen ist unumgänglich für alle Diskussionen und Betrachtungen ethischer Probleme rund um den Hirntod. Daher verlangt jede Auseinandersetzung vorerst begriffliche Klärungen des Hirntodkonzeptes, Klarheit über das Erscheinungsbild eines hirntoten Menschen, sowie Kenntnis der Gesetzeslage. Bei der Klärung des Status eines hirntoten Menschen kommt es zu Kontroversen zwischen der medizinisch-naturwissenschaftlichen Position des Hirntodkonzeptes (nachdem der Hirntod mit dem Tod des Menschen gleichgesetzt ist) und der subjektiven Wahrnehmung.

Eine Meinungsbildung zur Hirntodthematik im Vorfeld kann für spätere Schwierigkeiten vorbeugend sein. Das Zusammentreffen medizinischer, juristischer, philosophischer und pflegerischer Gesichtspunkte ergibt ethische Konflikte, die in einer Auseinandersetzung alle ihre Berechtigung finden und daher keine einseitige Diskussion zulassen. Nur die Konfrontation mit unterschiedlichen Positionen, die herangezogen werden, um einen Status zu beschreiben, der bestimmte medizinische und therapeutische Handlungen zulässt oder verbietet, kann förderlich sein, um zur Hirntodproblematik Stellung zu beziehen. Am leichtesten zu führen sind wohl solche Diskussionen, wenn ein Hirntoter und potenzieller Organspender zu Lebzeiten selbst zugestimmt hat (enge Zustimmungslösung). Dieser Mensch, der zum potenziellen Organspender geworden ist, sollte durch eine aktive Zustimmung mit ins Boot genommen werden. Dadurch würde ein großer Druck für alle Beteiligten abfallen. Allerdings erfordert dies aufwendige Öffentlichkeitsarbeit und Aufklärung einer Gesellschaft, die es großteils nicht gewohnt ist, sich mit derartigen Themen und dem eigenen Tod auseinanderzusetzen. Jedes Mitglied der Gesellschaft sollte sich seiner moralischen Pflicht bewusst sein, Selbstverantwortung übernehmen und diese Entscheidung im Falle eines Hirntodes nicht anderen Menschen überlassen. Bei der erweiterten Zustimmungslösung muss Angehörigen in dieser Ausnahmesituation der Trauer eine solche Entscheidung zugemutet werden.

Die Transplantationsmedizin hat sich international stark etabliert und wird auch in Zukunft weiter fortschreiten. Es ist davon auszugehen, dass sich die bestehende Organknappheit künftig noch verstärken wird. Zwar bietet die Widerspruchslösung ein weitaus höheres Organaufkommen, mündet aber immer wieder in Konflikte, da dem Einzelnen die gesetzliche Regelung häufig nicht bekannt ist.

Diese Form der medizinischen Behandlung bietet unzähligen Schwerstkranken die Möglichkeit zu überleben bzw. trägt zur gravierenden Verbesserung der Lebensqualität bei. Solange es nicht gelingt, Organe von Schweinen zu nutzen oder diese im Labor aus Stammzellen zu züchten, sind wir auf die Organspende angewiesen.

Für eine umfassendere Sicht und besseres Verständnis der Problematik kann es für den einzelnen Bürger bedeutend sein, auch die andere Seite, das „zweite Leben“ der Empfänger genauer zu kennen, denn beide Seiten – die Spendersituation wie auch die Empfängerposition – kann schon morgen unser Schicksal sein.

Referenzen

  1. Im Hinblick auf die leichtere Lesbarkeit habe ich bei den angesprochenen Personen nach Möglichkeit die neutrale Form gewählt, ansonsten habe ich die männliche Schreibweise verwendet; selbstverständlich sind beide Geschlechter angesprochen.
  2. vgl. Hoff J., in der Schmitten J. (Hrsg.), Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium, Reinbek bei Hamburg (1995), S. 157
  3. Wissenschaftlicher Beirat der Bundesärztekammer 1998, www.bundesaerztekammer.de/page.asp (letzter Zugriff am 1. Februar 2012)
  4. Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz (KAKuG), § 62a, in: Kodex des österreichischen Rechts, 4. Auflage, Wien (2005)
  5. vgl. ÖBIG (Österreichisches Bundesinstitut für Gesundheitswesen), Koordinationsbüro für das Transplantationswesen, Transplant-Jahresbericht 2010, im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit und der Bundesgesundheitsagentur, Wien (2011), S. 14
  6. vgl. ÖBIG, siehe Ref. 5, S. 15
  7. vgl. Huber W., Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh (1996), S. 285
  8. vgl. Katechismus der Katholischen Kirche, Nr. 2301, Oldenbourg (2003)
  9. vgl. Spittler J. F., Gehirn, Tod und Menschenbild. Neuropsychiatrie, Neurophilosophie, Ethik und Metaphysik, Stuttgart (2003), S. 65 ff.
  10. vgl. Spittler J. F., Ref. 9, S. 65 ff.
  11. vgl. Schlake H.-P., Roosen K., Der Hirntod als der Tod des Menschen (hrsg. von Deutsche Stiftung Organtransplantation), Neu Isenburg (1995), S. 54
  12. vgl. Maier B., Ethik in Gynäkologie und Geburtshilfe. Entscheidungen anhand klinischer Fallbeispiele, Berlin/Heidelberg/New York/Barcelona/Hongkong/London/Mailand/Paris/Singapur/Tokio (2000), S. 229 f.
  13. vgl. Manzei A., Hirntod, Herztod, ganz tot? Von der Macht der Medizin und der Bedeutung der Sterblichkeit für das Leben. Eine soziologische Kritik des Hirntodkonzeptes, Frankfurt am Main (1997), S. 11 ff.; Das Erlanger Baby wurde im Gegenzug zum Stuttgarter Baby nicht ausgetragen, sondern es kam zu einem Abortus.
  14. Hiemetzberger M., Zwischen Leben und Tod - Pflegende als Grenzgänger. Eine Studie zur Pflege hirntoter Menschen, Wien (2006) 
  15. vgl. Thomé U., Neurochirurgische und neurologische Pflege: mit Schwerpunkt Intensivpflege, Berlin u. a. (1997), S. 418
  16. Angstwurm H., Der Hirntod als sicheres Todeszeichen des Menschen und als eine Voraussetzung der Organentnahme, in: Firnkorn H.-J. (Hrsg.), Hirntod als Todeskriterium, Stuttgart (2000), S. 8 f.
  17. Jonas H., Technik, Medizin und Ethik. Praxis des Prinzips Verantwortung, Frankfurt am Main (1987), S. 229
  18. Jonas H., siehe Ref. 17, S. 234
  19. vgl. Jonas H., siehe Ref. 17, S. 234 f.
  20. Jonas H., siehe Ref. 17, S. 230
  21. Jonas H., siehe Ref. 17, S. 233
  22. Jonas H., siehe Ref. 17, S. 233

Anschrift der Autorin:

Mag. phil. Martina Hiemetzberger, DGKS
Lehrerin für GuK
Sozialmedizinisches Zentrum Ost, Donauspital
Langobardenstr. 122, A-1220 Wien
Martina.Hiemetzberger(at)wienkav.at

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